In Mexiko breiten sich die Lehrerproteste aus

Unbeugsame Lehrer

Auch Monate nach dem Beginn des erneuten Protests der mexikanischen Lehrergewerkschaft CNTE gegen die Bildungsreform ist keine Einigung mit der Regierung in Sicht. In manchen Regionen Mexikos mischt sich der Protest mit lokalen Bewegungen.

Als am 22. August das neue Schuljahr in Mexiko offiziell eingeläutet wurde, wandte sich Präsident Enrique Peña Nieto in seiner Rede vor Grundschülern mit einem impliziten Ultimatum an die protestierende Lehrergewerkschaft CNTE: »Zuerst die Bildung, dann der Dialog.« Seit mehr als drei Monaten bereits bestimmen die Proteste der CNTE, des linken Flügels innerhalb der SNTE, der staatsnahen Gewerkschaft für das gesamte Erziehungswesen, die innenpolitische Debatte Mexikos. Die CNTE zählt knapp 200 000 Mitglieder im Land, bringt den mexikanischen Staat jedoch vor allem mit ihren Protesten und Straßenblockaden in den südlichen Bundesstaaten Michoacán, Chiapas, Oaxaca, Guerrero und zuweilen auch in Mexiko-Stadt zum Verzweifeln. An jenem Montag begann der Schulbetrieb in Michoacán und in Guerrero zwar für 97 beziehungsweise 99 Prozent der Schüler wie gewöhnlich, in Oaxaca wurden jedoch nach Angaben des Bildungsministeriums 53 Prozent der Schulen bestreikt und in Chiapas 58 Prozent. Die CNTE ließ gar verlauten, dass sie in Chiapas ganze 98 Prozent, also 19 000 öffentlicher Bildungseinrichtungen bestreikt habe. In diesem Bundesstaat hatte sich die Gewerkschaft 1979 gegründet.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht eine umfassende Bildungsreform, eines von fünf politischen Großprojekten des wirtschaftsliberalen Präsidenten, mit dem er sein Land politisch sowie wirtschaftlich umkrempeln möchte. Während Peña Nieto und sein Bildungsminister Aurelio Nuño die Reform als notwendige Modernisierung des Bildungssektors und Maßnahme zur Verbesserung der Lehre preisen, sieht die dissidente Gewerkschaft dahinter einen versteckten Angriff, der den Lehrkörper drastisch verkleinern und somit zugleich einen Schlag gegen die eigene Organisation bedeuten würde. Es wäre ein strategisches Manöver, das die Opposition schwächen würde.
Die Argumente der Regierung, dass innergewerkschaftlicher Klientelismus und das Fehlen von Lehrern im Unterricht den Lehrbetrieb behinderten, haben zwar eine reale Grundlage, doch sie werden verzerrt dargestellt, als handele es sich um ein allgegenwärtiges Phänomen. »Ich zweifle nicht daran, dass es diese isolierten Fälle gibt. Aber wenn das Ministerium dagegen vor­gehen wollte, bräuchte es dafür keine Verwaltungsreform«, sagt Maria Sixtos Aguirre Miranda von der Sektion 18 der CNTE und zuständig für den Jugendbereich im Gespräch mit der Jungle World. Sie kommt aus Michoacán, beteiligt sich aber seit mehreren Wochen am Protestcamp der Lehrerinnen und Lehrer nahe dem Zentrum von Mexiko-Stadt – an die 3 000 Menschen haben sich hier eingefunden. Für sie hat die Reform vielmehr verwaltungstechnische als bildungspolitische Ziele. Sie diene dazu, den mexikanischen Bildungssektor schrittweise zu privatisieren, den Unterricht mit marktkonformen Inhalten zu füllen und die Schulen an private Unternehmen zu veräußern. Vor knapp 20 Jahren habe man erste Anzeichen dafür sehen können. Heute seien sie präsenter denn je.
Die CNTE mobilisierte und protestierte bereits 2013 gegen die Reform, doch es verstrichen drei Jahre, bis sie ihre Tätigkeiten intensivierte; indem Blockaden zur gezielten Unterbrechung des alltäglichen und ökonomischen Ablaufs an vielen wichtigen Verkehrsstraßen errichtet wurden – dort, wo es den Staat und die Unternehmen am meisten schmerzt. Die durch die Blockaden beeinträchtigten Unternehmen haben zuletzt sogar über den Wirtschaftsverband Coparmex den Staat aufgefordert, Gewalt anzuwenden.
Die mexikanische Bundesregierung konnte in den vergangenen zwei Monaten so zu Gesprächen gezwungen werden. Zufriedenstellende Ergebnisse gebe es aus Sicht der CNTE jedoch bisher nicht. Die Lehrerinnen und Lehrer sind in ihrer Wut nicht allein, sondern werden in großer Anzahl von organisierten Eltern und Angehörigen der Schulkinder unterstützt. Auch diese verspüren großen Unmut angesichts der geplanten Umstrukturierungen, denn die belasten die Angehörigen auch finanziell stärker: Die Eltern müssen fortan für Licht und Wasser in den Schulen aufkommen und, wenn nötig, selbst die Klassenräume streichen. Hinzu kommen Einschreibungsgebühren für die Schulen und Lehreinrichtungen. »In unserem Dorf sind wir so arm, dass es uns schwerfällt, Geld zusammen­zubekommen«, beklagt Primitivo Her­nán­dez gegenüber der Jungle World. Sein Bruder wurde am 19. Juni in der Kleinstadt Nochixtlán in Oaxaca von einer Kugel aus einem Helikopter der Bundespolizei getroffen. Dort starben an diesem Tag bei einer Konfrontation von CNTE und lokaler Bevölkerung mit der Bundespolizei sowie Gendarmerie mehrere Zivilisten (Jungle World 26/2016). Es gab Dutzende Verletzte mit Schusswunden. Augenzeugen berichten von Scharfschützen und davon, dass mehrere Schusssalven aus dem Helikopter den Staub auf der Erde aufwirbelten.
In einem Land wie Mexiko, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung als arm gilt, können diese zusätzlichen Kosten Familien enorm belasten und hätten zur Konsequenz, dass viele Kinder die Schule gar nicht beziehungsweise nicht weiter besuchen könnten. Maria Sixtos weiß um den Unmut in der ­Bevölkerung und dass die Proteste in manchen Regionen bereits erste Formen einer sozialen Bewegung annehmen, etwa im Bezirk Nahuatzen in ­Michoacán. Dort erhob sich im Herbst vergangenen Jahres die Bevölkerung gegen die politischen Parteien und die Polizei und deren Verbindungen mit dem organisierten Verbrechen. Die protestierenden Bewohner warfen kurzerhand die Behördenvertreter raus. Seitdem kontrollieren Bürgerwehren Tag und Nacht die Straßeneingänge zu den Dörfern. Vor zwei Monaten vermischte sich die Erhebung mit den Lehrerprotesten. An einem Ausgang des Dorfes Arantepacua haben die Lehrerinnen und Lehrer einen Blockadeposten errichtet. Ringsherum stehen knapp drei Dutzend vollbeladene LKW, die sie temporär konfisziert haben – für den Fall, dass die Bundespolizei anrückt. »Die neuen Fahrzeuge werden wir als erstes anzünden, wenn sie kommen«, kommentiert ein Bewohner.
Die Bildungsreform sieht vor, dass sich alle Lehrkräfte einer Evaluation unterziehen müssen. Daraufhin hatte die CNTE verlangt, dass sich zunächst der Präsident einer Prüfung unterziehen solle. In der Nacht vor Beginn des neuen Schuljahres hat nun das journalistische Rechercheteam vom Portal Aristegui Noticias bekanntgemacht, dass Enrique Peña Nieto vor 25 Jahren ein knappes Drittel seiner juristischen Bachelorarbeit an der privaten Universidad Panamericana, der Nähe zur religiösen Rechten und Opus Dei nachgesagt wird, abgeschrieben habe. Bildungsminister Nuño kommentierte den Plagiatsvorwurf derweil unbekümmert als »Stilfehler«.