Zehntausende gehen auf die Straßen gegen die Sozialpolitik der Regierung

Vandersmissen geht es besser

<none>

Schon von weitem hört man die Stimme aus den Lautsprechern, die auf der Rednertribüne vor dem Finance Tower aufgebaut sind. Es ist der letzte Donnerstag im September, in Brüssel haben die Gewerkschaften gemeinsam zu einer großen nationalen Demonstration aufgerufen. Malocher und Malocherinnen mit roten und grünen Plastikjacken und Mützen ziehen zum Ort der Auftaktkundgebung. Die Grüngekleideten gehören zur christlichen Gewerkschaft CSC, der größten Belgiens, die Rotbejackten zur FGTB mit sozialistischer Tendenz; einige Blaue von der liberalen Gewerkschaft CGSLB sind auch zu sehen. Aber warum haben so viele Ohrstöpsel in den Lauschern? So laut ist der Redner ja auch wieder nicht. Rumms! Ah, deshalb! Es ist ein Hobby belgischer Demonstranten, mit Pyros zu hantieren. Rumms! Ohne Ohrstöpsel hat man schnell ein Klingeln in den Ohren.
Worum geht’s bei der Demonstration? Zunächst gegen die »asoziale« Politik der Mitte-rechts-Regierung unter Premierminister Charles Michel. Im Zentrum der gewerkschaftlichen Kritik steht das im Februar vorgestellte neue Arbeitsgesetz, die loi Peeters, benannt nach dem Wirtschaftsminister Kris Peeters. Es soll die Arbeitszeiten flexibilisieren, unter anderem mit längeren und kürzeren Arbeitstagen, je nach Auftragslage, ganz nach den Bedürfnissen der Unternehmer. Goodbye, 38-Stunden-Woche! Im Februar wurde das Gesetz angekündigt, Kritiker sehen es als inspiriert von dem französischen Arbeitsgesetz, das im Frühjahr eine monatelang aktive, starke soziale Bewegung auslöste, mit Aktionstagen, an denen Streiks und Demonstrationen mit Hunderttausenden Beteiligten stattfanden, mit den Platzbesetzungen der »Nuit debout«-Bewegung und teils harten Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Belgien jedoch blieb eine solche Eskalation aus. Im Mai gingen etwa 60 000 Demonstranten auf die Straße, aber eine mit der französischen vergleichbare Dynamik entwickelte sich nicht.
Und das, obwohl die Regierung auch andere soziale Errungenschaften rückgängig machen möchte. Sie will das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhen, hat die Mehrwertsteuer für Strom erhöht und verfolgt im Gesundheitssektor eine Sparpolitik. Anfang September wurde die Schließung der Fabrik von Caterpillar in Charleroi angekündigt, die Gewerkschaften befürchten den Abbau von mehr als 6 000 Arbeitsplätzen bei Caterpillar und in der Zulieferindustrie. Bei der Versicherungsgesellschaft Axa wurde im gleichen Monat die geplante Streichung von 650 Arbeitsplätzen bekannt gegeben, bei der Bahn stehen Privatisierungen und Stellenabbau an.
Langsam zieht die Demonstration los, vorbei an Rednertribünen der Gewerkschaften und solchen diverser, auch kleinerer linker Parteien. Die Kampagne gegen TTIP und Ceta hat – Symbol, Symbol! – ein großes aufblasbares Pferd aufgestellt, Kader diverser linker Klein- und Kleinstorganisationen verteilen Flugblätter und versuchen, ihre Broschüren an den Mann und die Frau zu bringen. Das Satiremagazin Même pas peur verteilt ein Faltblatt, eigens für die Veranstaltung gedruckt. Auf der ersten Seite ist eine Karikatur des berüchtigtsten Polizisten von Belgien, des Brüsseler Polizeichefs Pierre Vandersmissen. »Vandersmissen geht es besser!« ist die Überschrift, dem Flic wird in den Mund gelegt: »Eine Pfeife, ein Knüppel, eine Demo. Und es geht wieder los!« Vandersmissen hatte bei Auseinandersetzungen im Mai dynamisch und allein Demonstranten mit Tränengas traktiert, bis ihn ein junger Mann k.o. schlug, möglicherweise mit einem Stein.
Vandersmissens Name taucht unter dem wenig sensiblen Schriftzug »Lakai des Kapitals« auch auf einem großen Transparent des kleinen schwarzen Blocks mit etwa 100 Beteiligten auf. Transparente mit der Aufschrift »Wer Elend sät, erntet Wut!« und »From Lampedusa to Calais – borders kill!« säumen den Block. Die Polizisten laufen parallel in Seitenstraßen, freie Hand für Graffitikünstler. »Fick den PS«, daneben ein A im Kreis, und »Die ganze Welt hasst euch« ist auf die großen Fensterscheiben des Sitzes der sozialdemokratischen Partei gesprüht, vor dessen Eingang Parteimitglieder Kaffee und Wasserflaschen an Demonstrierende verteilen.
In der Nähe des Nordbahnhofs ist die Demonstration zu Ende. Eine Abschlusskundgebung findet nicht statt. »Sie wollen die Leute schnell in die Busse und die Bahn verfrachten, damit die Situation nicht eskaliert«, mutmaßt ein Demonstrant. In einem portugiesischen Restaurant werden erste Einschätzungen ausgetauscht. Viele Leute, nicht schlecht, die Demo, ist das einhellige Urteil. Ein junger Eisenbahner erzählt von seinen Erfahrungen im Frühjahr, als es bei der Bahn zu einem zehntägigen spontanen Streik kam. »Es gab lokale Versammlungen. Aber eine nationale Koordination kam nicht zustande«, sagt er. Das habe es den Gewerkschaften ermöglicht, den wilden Streik zu kapern. Sie hätten zunächst angekündigt, den Streik nach einer mehrtägigen Pause fortzuführen, aber dazu sei es dann nicht gekommen.
Abends heißt es im Fernsehen, es habe nach der Demonstration doch noch gescheppert. Zehn Verletzte, zwei davon Flics, ist die Bilanz. Nach Polizeiangaben waren 45 000 Menschen auf der Demonstration, nach Gewerkschaftsangaben 70 000. Im Frühjahr hatten die Gewerkschaften für den 7. Oktober noch einen »Generalstreik«, eher ein gleichzeitiger Streik in diversen Sektoren, angekündigt, aber den sagten sie am 20. September ab. Stattdessen fand am Freitag voriger Woche eine Art Aktionstag statt, »um den Druck aufrechtzuerhalten«, wie es hieß. Es gab kleinere lokale Arbeitsniederlegungen und eine Demonstration der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in Wavre, einer kleinen Stadt acht Kilometer von Brüssel entfernt. Zwischen 3 000 (Polizeiangaben) und 6 000 Menschen (Gewerkschaftsangaben) beteiligten sich an der Demons­tration, das Maison libéral wurde mit Eiern beworfen. Einige Tage zuvor hatte die Bank ING Belgique den Abbau von mehr als 3 000 Arbeitsplätzen bis 2021 angekündigt.