Julien Klener im Gespräch über die Zukunft der Juden in Belgien

»Man weiß, wo die Koffer liegen«

Der Sprachwissenschaftler Julien Klener war 15 Jahre lang Präsident des Consistoire Central Israélite de Belgique (CCIB). Als Kleinkind überlebte er die deutsche Besatzung in einem Versteck.

Belgien gilt seit einiger Zeit als Hochburg des Jihadismus. Wie schätzen Sie die Situation für Juden ein?
Wir hatten hier schon in den achtziger Jahren Terrorangriffe auf jüdische Ziele, wie zum Beispiel in Antwerpen (das Attentat auf die Synagoge im Diamantenviertel im Oktober 1981, T. M.). Es gab einen Angriff auf Kinder, die von einem Ausflug zurückkamen. In Brüssel schoss jemand auf eine Synagoge und traf einen Bewacher in den Bauch, der zum Glück überlebte.
Heute richten sich die Angriffe, die früher gegen jüdische Ziele gingen, gegen die ganze Gesellschaft. Ich muss aber sagen, dass die belgischen Behörden in den vergangenen Jahren und vor allem nach dem Angrif auf das Jüdische Museum getan haben, was von ihnen erwartet werden konnte, und jüdische Gebäude speziell bewachen.
Haben Sie den Eindruck, dass die Besorgnis der jüdischen Bevölkerung dadurch auf mehr Verständnis trifft?
Ja. Zum jetzigen Zeitpunkt würde niemand sagen: »Die Juden sind immer nur am Nörgeln und Klagen, das ist ein bisschen übertrieben.« Die Unsicherheit, das Gefühl von Hilflosigkeit und Angst, das wird von der ganzen Gesellschaft geteilt. In der Vergangenheit, also unter meinem Vorgänger am Ende des 20. Jahrhunderts, stießen wir mit dem Thema Sicherheit vielleicht etwas auf taube Ohren. Doch nach dem schrecklichen Anschlag im Jüdischen Museum ist das anders. Die jetzige belgische Regierung hat getan, was sie tun musste, um der jüdischen Gemeinschaft nicht nur physisch eine bestimmte Sicherheit zu gewährleisten, sondern auch finanziell. Wobei es diese finanzielle Beteiligung erst seit kurzem gibt. Zuvor hatten wir nur unsere eigenen Sicherheitsdienste, auf Kosten der Re­ligionsgemeinschaft.
Wie steht es denn um Antisemitismus in der belgischen Gesellschaft?
Ich habe etwas gegen das Wort »Antisemitismus«. Man soll mir mal erklären, wer diese Semiten sind. Als Sprachwissenschaftler kann ich sagen, dass es Menschen sind, die semitische Sprachen sprechen. So wie auf Malta. Manche sagen: »Wir Semiten sind alle Cousins oder Blutsverwandte, und alles war harmonisch, bis Israel gegründet wurde.« Das Zerwürfnis ist demnach Israels Schuld. Wenn man sich die Geschichte des Begriffs Antisemitismus anschaut, wird also deutlich: Es hat nichts mit anderen Menschen aus dem Mittleren Osten zu tun, sondern einzig und allein mit Juden. Darum sage ich lieber »Antijudaismus«.
Und wie sieht es damit in Belgien aus?
Es ist eine Tatsache, dass es bei einem Teil der muslimischen Gemeinschaft starke antijüdische Klischees und Aggressionen gibt. Man sieht das zum Beispiel daran, dass die Anwesenheit jüdischer Kinder auf öffentlichen Schulen in Brüssel gegen null geht. In Antwerpen besuchen die meisten sowieso jüdische Schulen, aber in Brüssel gab es früher auch sehr viele auf öffentlichen. In Brüssel und Antwerpen wohnen die meisten der etwa 40 000 belgischen Juden. (Antwerpen ist überwiegend religiös und chassidisch geprägt, die Brüsseler Gemeinden sind diverser und gelten allgemein als liberaler, T. M.) Der Grund ist, dass jüdische Kinder durch Mitschüler muslimischer Herkunft wegen ihres Jüdischseins auf­gezogen werden. Ich weiß von einer Familie, in der dem Kind gesagt wurde: »Lass niemanden je wissen, dass du etwas mit dem Judentum zu tun hast.« Jüdische Schulen in Brüssel haben Rekordzahlen an Schülern.
Was hat das für Folgen, wenn jüdische Kinder aus öffenlichen Schulen verschwinden?
Das ist natürlich ein Dilemma. Schickt man die Kinder auf öffentliche Schulen, werden sie angeschnauzt und geärgert, weil sie jüdisch sind. Schickt man sie auf jüdische Schulen, sitzen sie in Gebäuden, um die Stacheldraht gespannt ist, für die hohe Mauern aufgezogen werden und die von bewaffneten Polizisten bewacht werden. Erklären Sie das mal einem Kind! Dass manche jetzt andere Orte aufsuchen, um ihre Kinder zumindest in einem friedlicheren Klima aufwachsen zu lassen, sollte niemanden überraschen.
Es wurde viel geschrieben über das wachsende Interesse an der jährlichen Aliyah-Börse in Brüssel, wo sich Jüdinnen und Juden, die nach Israel auswandern wollen, orientieren können.
Ja, die Börse zieht Leute an. Die genauen Zahlen von Menschen, die nach Israel gehen, kann ich Ihnen nicht geben. Laut Jewish Agency ging es um 285 Personen im Jahr 2015. Es ist nicht so, dass alle gehen wollen. Aber in jeder jüdischen Familie werden Fragen gestellt: »Was jetzt?« Die Koffer stehen nicht bereit, aber man weiß, wo sie liegen.
Ist das für Sie auch ein Thema?
Ja, wobei ich vollständig mit Belgien verbunden und ein Teil dieser Gesellschaft bin. Ich bin gerne für einige Zeit in Israel, aber hier ist mein Zuhause.
Wie schätzen Sie die politische Entwicklung in Belgien ein?
Ich habe immer gehofft, dass andere mir beweisen würden, dass ich zu pessimistisch bin. Doch in letzter Zeit gibt es in dieser Gesellschaft ein Klima von Angst, Erschütterung und Wut. Wir bekommen eine »Wir gegen sie«-Erzählung, was den Populismus stärkt, und der war noch nie gut für den jüdischen Teil der Gesellschaft. Ich fürchte, dass dabei das Wort »Jude« wieder zum Ziel und zum Ursprung des Unbehagens gemacht werden kann. Wir leben in einer Periode schriller Polarisierung. Und ich hoffe, dass in dieser polarisierten Gesellschaft nicht jemand Slogans gegen »die Juden« benutzen wird, um die Menschen zusammenzubringen. Werden die Juden zum »wir« oder zum »sie« gehören? Oder werden wir zwischen »wir« und »sie« stehen? Das ist meine Frage. Diejenigen, die dieses Land und andere Länder regieren, singen Lieder wie »Imagine« und zünden Kerzchen an. Aber was ist die Alternative? Werden die Spannungen so groß, dass es eine Explosion gibt und Milizen entstehen?
Sie haben die Shoah überlebt, weil man sie als Kind versteckte. Wie bestimmt diese Erfahrung Ihren Blick auf die Gegenwart?
Ich wurde 1939 geboren. 1942 mussten wir weg aus Oostende, dann sind wir in Brüssel untergetaucht. Ich war in einem Haus, meine Eltern in einem anderen, und dann bekam meine Mutter Tuberkulose. Diese Lungenkrankheit hat sie schlussendlich gerettet. Sie war in einem Sanatorium, wo die Nazis nicht hinwollten, weil sie fürchteten, sich anzustecken. Aus irgendeinem Grund erzeugt die heutige Situation beinahe die Hoffnungslosigkeit der damaligen. Ich spüre Ängste in mir, die ich nie gefühlt habe und von denen ich denke, dass sie zurückgehen auf diese ersten Lebensjahre, als ich meinen Mund halten musste.
Können Sie das näher erklären?
Es kommen bei mir Ängste hoch, von denen ich nicht wusste, dass ich sie hatte. Ich hatte einmal einen Panikanfall, als ich in Tel Aviv war und in der Nähe ein Anschlag begangen wurde. Ich war auch in Israel, als Saddam Hussein 1990 in Kuwait einfiel. Ich hatte diese undurchdachte Reaktion, dass ich zurückwollte. Und jetzt, in dieser Situ­ation, kommt das wieder.
Sie waren sehr lange Vorsitzender im Consistoire Central Israélite de Belgique. Wie ging man dort mit der wachsenden Bedrohung um?
Wachsamkeit gab es immer. Aber heute ist sie vielleicht noch größer. Wir gingen dazwischen, wo es nötig war. Aber zu meiner Zeit war es nicht so schlimm wie jetzt. Ich stand in der ersten Reihe nach dem Angriff auf das Jüdische Museum. Da sorgten wir als Erstes für die Sicherheit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Wir hatten permanent Kontakt mit den Behörden, auf jedem Niveau.
Institutionell ist Belgien auch jüdische Organsiationen betreffend ziemlich komplex. Können Sie das kurz skizzieren?
In Belgien gibt es eigentlich drei Dachorganisationen: auf religiöser Ebene das Consistoire central israélite de Belgique (CCIB), dann das Forum Jüdischer Organisationen (FJO), das die flämischen Juden repräsentiert, und auf frankophoner Seite das Koordinationskomitee Jüdische Organisationen Bel­giens (CCOJB). Wenn es um die Repräsentation gegenüber den belgischen Behörden geht, machen das die Vorsitzenden von CCIB, FJO und CCOJB zusammen. Dass sie ab und zu Dinge alleine tun wollen, hat auch mit dem Ego der Vorsitzenden zu tun. Aber es gibt immer Gruppen, die außerhalb dieser Dachorganisationen liegen. Die progressiven linken Juden machen ihr Ding oder beim religiösen Judentum zum Beispiel die Satmar- Bewegung, die antiisraelisch und auch nicht im CCIB vertreten ist. Uniformität gab es nie.
Erschwert diese Struktur einen gemeinsamen Ansatz?
Das liegt in der Natur der Sache, Einstimmigkeit wird man nie erreichen. Die belgischen Autoritäten nehmen die jüdischen Repräsentanten durchaus wahr. Sie hatten zwar nicht immer ein offenes Ohr, aber wie gesagt: Seit anderthalb Jahren und ganz besonders nach dem Anschlag auf das Jüdische Museum und den koscheren Laden in Paris tun sie, was sie können.