Filmschaffende aus der Türkei protestieren in Leipzig gegen Erdoğan

Kollaps der Demokratie

In Leipzig protestierten Filmschaffende gegen Erdoğan und Merkel.

Die Polizei kommt spät – und zum falschen Ort. Langsam schiebt sich der Mannschaftswagen am Freitagnachmittag durch die Leipziger Innenstadt, bleibt vorm Bildermuseum stehen. Die Beamten blicken ratlos, können die Kundgebung nicht finden. Filmschaffende aus der Türkei hatten kurzfristig zu einer Protestkundgebung aufgerufen. Von den Polizisten unbemerkt halten sie eine Ecke weiter auf A4-Blättern ihre Forderung über den Köpfen: »Merkel stopp Unterstützung für Erdoğan«. Eigentlich waren die Filmemacher angereist, um am Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig) teilzunehmen. Das Festival für Dokumentar- und Animationsfilm widmet sich in diesem Jahr der Türkei.
20 Filmschaffende hatten die kleine Kundgebung organisiert. Ebenso viele Journalisten waren ihrer Presseeinladung gefolgt. Anlass ist die Verhaftungswelle in der Türkei. In der Nacht auf Freitag waren dort die Vorsitzenden und mehrere weitere Mitglieder der Oppositionspartei HDP verhaftet ­worden. Zunächst hieß es, allen HDP-Abgeordneten drohe die Inhaftierung. Bereits im Mai hatte das türkische Parlament die Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter aufgehoben. Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterstellt ihnen, der verbotenen PKK anzugehören.
»Hier zeigt sich Erdoğans faschistisches Antlitz«, sagt eine Sprecherin der Protestgruppe. »Wir sind verzweifelt, wissen nicht, wie es enden soll, wenn man gegen eine von sechs Millionen gewählte Partei einfach so vorgehen kann. Es ist unglaublich, was da passiert.« Auf Türkisch, Englisch und Deutsch drücken die Protestierenden ihren Zorn und ihre Ohnmacht aus. Das sei ein neuer Tiefpunkt der ohnehin ungeheuerlichen Vorgänge im Land, kommentiert Regisseur Rüzgâr Buşki. Er ist mit dem Film »#resistayol« auf dem Festival vertreten. Mit seinem Projekt über eine LGBTI-Aktivistin geriet Buşki mitten hinein in die Proteste vom Istanbuler Gezi-Park 2013. Der Film wurde so zum Dokument nicht nur der Situation abweichender Lebensweisen in der Türkei, sondern auch von der starken Opposition – damals. »Die Situation betrifft nicht nur die Künstler«, sagt Buşki. »Die Lage ist für alle schlimm. Viele Journalisten wurden verhaftet, die Meinungsfreiheit existiert nicht. Selbst Whatsapp ist blockiert.« Ein Passant ruft einmal »Türkiye!« und verschwindet. Keiner nimmt Notiz von ihm. Die Polizei ist immer noch nicht zu sehen. Gebraucht wird sie hier ohnehin nicht.
»Warum protestieren sie gegen unsere Regierung«, wundert sich eine Reporterin über die Merkel-Plakate. »Es heißt immer, es gibt so viele schlechte Dinge in der Türkei«, erklärt jemand. »Das stimmt, aber Europa ist nur oberflächlich gesehen besser. Es unterstützt Erdoğan, finanziert ihn und sein Vorgehen in Syrien.« Deshalb richteten sich die Protestierenden gezielt gegen die Kanzlerin und die Bundesregierung, um sie nicht aus der Verantwortung zu entlassen; auch, weil sie nun einmal gerade in Deutschland seien. »Das ist der Kollaps der Idee von Demokratie«, sagt eine Studentin. Ob sie Angst habe? »Nein, aber ich lebe im Ausland und mache nicht durch, was die Menschen in der Türkei derzeit erleben.« Ja, sie wolle nach dem Studium zurückgehen – wenn sie dürfe. Man könne nicht einfach so auf diesem Festival, das immer wieder zum Forum spontanen politischen Protests wurde, sein und schweigen. Besonders in den achtziger Jahren nutzten DDR-Oppositionelle die Anwesenheit internationaler Journalisten, um Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu erhalten. Nach zehn Minuten ist die Kundgebung vorbei. Viele Journalisten applaudieren, schwärmen aus, um sich Interviewpartner zu suchen. »Spread the news! In der Türkei sind alle ­sozialen Medien abgeschaltet«, ruft ein Filmemacher noch. Dann hat sich die Gruppe zerstreut. Irgendwann ziehen auch die Polizisten wieder von ihrem verlorenen Posten ab.