Die Ausstellung „Wechselhaft“

Ich bin dann mal drüben

Viel Liebe, wenig Politik: Eine Ausstellung in Berlin beschäftigt sich mit den Biographien von Westbürgern, die in die DDR übersiedelten.

Eine freistehende Villa, umgeben von einem Garten, in den Innenräumen stehen Doppelstockbetten. So wird in »Berlin – Ecke Schönhauser« ein Auffanglager in Westberlin gezeigt. Der Film aus dem Jahr 1957 gehört wie »Die Halbstarken« (1956) und »Denn sie wissen nicht, was sie tun« mit James Dean (»Rebel Without a Cause«, 1955) und »Der Wilde« mit Marlon Brando (»The Wild One«, 1953) zum Genre der sogenannten Halbstarkenfilme. Dieter (Ekkehard Schall) hat Probleme in der DDR, die er durch eine Ausreise in die BRD zu lösen gedenkt. Doch die Situation im Lager missfällt ihm derart, dass er nach Ostberlin zurückkehrt, wo seine Liebe Angela auf ihn wartet. Nun waren solche Grenzgänger zwar nicht die Regel, aber ein paar gab es schon. Eine neue Ausstellung unter dem Titel »Wechselseitig. Rück- und Zuwanderung in die DDR 1949 bis 1989« in der Berliner Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde beschäftigt sich mit der Einwanderung in die DDR.
Ungefähr 500 000 Menschen wählten den Weg von West nach Ost und wurden Staatsbürger der DDR. Das ist im Vergleich zu den 4 Millionen Menschen, die die DDR verließen, eine Minderheit. Doch die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich fast ausschließlich auf die Mehrheit und so tritt die Ausstellung an, die »kaum bekannte Geschichte« der DDR-Einwanderung zu zeigen. Mit Informationstafeln und ausgewählten Lebensgeschichten wird das Phänomen vorgestellt. Es geht beispielsweise um die Chemiefacharbeiterin und Leichtathletin Karin Balzer, die zuerst nach Westdeutschland zog und anschließend, unter mehr oder weniger sanftem Druck des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), wieder in die DDR zurückkehrte. Sie wurde zur Vorzeigesportlerin, trug bei den Olympischen Spielen 1968 die Fahne der DDR und stellte als Hürdensprinterin mehrere Rekorde auf, so lief sie als erste Frau der Welt 100 Meter Hürden in einer Zeit unter 13 Sekunden.
Eine weitere Lebensgeschichte handelt von einem jungen Bundeswehrsoldaten und SPD-Mitglied in Westdeutschland. Der junge Mann nahm die Unterstützung der SPD für den damaligen Bundeskanzler und ehemaligen Nazi Hans Georg Kiesinger zum Anlass, 1967 in die DDR auszureisen. Dort studierte er Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des MfS überwachte er eine Gruppe von Studenten. Später befragt, warum er seine Kommilitonen verraten habe, antwortete er, diese hätten »17 Millionen verraten«. Ab 1997 arbeitete er bei der Tageszeitung Junge Welt und stieg innerhalb von drei Jahren zum Chefredakteur auf. Im Sommer dieses Jahres übergab Arnold Schölzel den Posten des Chefredakteurs an seinen Nachfolger ­Stefan Huth.
Ab 1980 fanden in der DDR auch Mitglieder der Bewegung 2. Juni und der Roten Armee Fraktion (RAF) Unterschlupf. Vom MfS mit neuen Pässen, Identitäten, Wohn- und Arbeitsplätzen ausgestattet, konnten sie einem konventionellen Leben nach­gehen – was durchaus für Befremden bei den selbsternannten Guerillakämpfern sorgte. Eine wichtige Rolle spielte das 1982 in der DDR untergetauchte RAF-Mitglied Inge Viett, die gute Kontakte zum MfS hatte. Erst 1989 wurde bekannt, dass das MfS den in der Bundesrepublik polizeilich gesuchten sogenannten Linksterroristen Unterschlupf geboten hatte. Die westdeutschen Behörden hatten die meisten Untergetauchten in Nordafrika oder im Nahen Osten vermutet. Der Spiegel titelte anlässlich der Enthüllung »Terroristen-Hort DDR«.
Besondere Aufmerksamkeit fanden Prominente, die sich zur Ausreise entschlossen. West wie Ost hatten ein Interesse, die Krisenhaftigkeit des ­jeweils anderen Gesellschaftssystems mit Verweis auf die Flüchtenden zu belegen. Und so wurden jene, die »rübermachten«, auch behandelt. »Verräter der Arbeiterklasse« war über die sogenannten Republikflüchtlinge auf Plakaten in der DDR zu lesen. Die Wanderung zwischen den beiden deutschen Staaten führte auch zu einer regen Tätigkeit verschiedener Geheimdienste, zahlreiche Spionage- und Agentengeschichten sind überliefert. Das MfS versuchte beispielsweise, Agenten in oder im Umfeld der Verwaltung der Auffanglager zu installieren. Im Westen warnten Plakate vor als Liebhabern getarnten Stasioffizieren. »Schön, wenn man einander vertrauen kann«, heißt es in dem Text, der neben dem Bild eines Paares am Strand im Mondschein steht. »Agenten wissen, dass Liebe blind macht. Und gesprächig. Denken Sie daran … Unser Land vertraut Ihnen.«
Die Ausstellung weist aber darauf hin, dass selten ideologische Gründe für einen Wechsel der Staatsangehörigkeit ausschlaggebend waren. Liebe, Verwandte, Kinder und Arbeitsplätze spielten wohl eine größere Rolle. Manch einer war aber auch von der historischen Fortschrittlichkeit der DDR überzeugt, »sie allein stellt Ihnen – auf ihre entsetzliche Weise – die Fragen des Jahrhunderts«, schrieb der Dichter und Dramatiker Peter Hacks an den jungen Ronald M. Schernikau, auf die Frage, ob dieser als Bundesbürger nach einem Studium am Institut für Literatur »Johannes R. Becher« in Leipzig die DDR zu seinem permanenten Lebens- und Arbeitsort machen solle. Hacks selbst war Mitte der fünfziger Jahre aus München nach Ostberlin übergesiedelt und hatte damals Bertolt Brecht um Rat gefragt, der sich weit weniger eindeutig geäußert hatte. »Gute Leute sind überall gut«, hatte Brecht geschrieben. Auch Schernikau entschloss sich für ein Leben in der DDR. 1989 erhielt er die Staatsbürgerschaft der Staats, der schon bald nicht mehr existieren sollte. Schernikau überlebte die DDR nur um kurze Zeit, er starb vor 25 Jahren, am 20. Oktober 1991 in Berlin.
Das Notaufnahmelager Marienfelde wurde 1953 eröffnet. Es wurde zur Anlaufstelle für ungefähr 1,35 Millionen Flüchtlinge aus der DDR, auf der Suche nach »Vielfalt, Demokratie und sozialer Marktwirtschaft«, wie es in der Erinnerungsstätte heißt. In den fünfziger Jahren war der Bedarf an Arbeitskräften in der Bundesrepublik groß. Für körperliche Arbeit wurden bevorzugt sogenannte Gastarbeiter aus der Türkei und Italien angeworben, aus der DDR nahm man bevorzugt die Fachkräfte, Ärzte, Lehrer und technische Intelligenz. »Wirtschaftsflüchtlinge« waren ungern gesehen, eine Flucht wegen ­politischer Verfolgung wurde bevorzugt behandelt. Wer vom Notaufnahmeausschuss nicht angenommen wurde, musste sich als »Illegaler« in Westberlin durchschlagen. Für die Betreuung und Integration der DDR-Flüchtlinge wurden verschiedene ­Sozialprogramme implementiert. Nachdem es 1989 zu einem besonderen Anstieg der Zahl von Flüchtlingen aus der DDR gekommen war, erledigte sich das kurz darauf schon. Die Grenzen verschoben sich. Heutzutage befindet sich in Marienfelde an gleicher Stelle ein sogenanntes Übergangswohnheim, in dem unter anderem Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Iran und Russland untergebracht werden.
Sonderausstellung »Wechselseitig. Rück- und Zuwanderung in die DDR 1949 bis 1989« in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin, bis zum 17. April 2017.