Homestory #51-52

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Von Ruhe ist um die Weihnachtszeit häufig die Rede. Eine feierliche Stille wird dann vielerorts heraufbeschworen – die das Gegenteil der Stille ist, von der man am Abend des 19. Dezember in den Medien sprach. Gespenstisch sei sie gewesen. Es war eine Schockstille, die sich über den Berliner Breitscheidplatz gelegt hatte, unmittelbar nachdem ein Lastwagen in die Menschenmenge eines Weihnachtsmarkts gesteuert worden war, um zu töten und Angst und Schrecken zu verbreiten. Wie zuvor auf der Strandpromenade in Nizza oder im Pariser Bataclan – das legen zumindest alle Informationen nahe, die bis Redaktionsschluss vorlagen.
Eine Stille hatte auch von der Redaktion dieser Zeitung Besitz ergriffen. Am Dienstagmorgen, der für die Hektik der allwöchentlichen Schlussproduktion reserviert ist, schallten deutlich weniger Gespräche durch die Gänge. Jeder wusste vom anderen, wonach er oder sie gerade im Internet suchte: nach einer offiziellen Bestätigung, dass es sich bei der Schreckenstat am Fuße der Berliner Gedächtniskirche um einen gezielten Anschlag gehandelt hatte. Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon (CDU) sagte, dieses Land befinde sich im »Kriegszustand«. Cem Özdemir (Grüne) forderte dazu auf, nicht durchzudrehen, nicht zu tun, »was die von uns ­erwarten, dass wir unsere Gesellschaft in Hochsicherheitstrakte verwandeln«.
Vielleicht würde Özdemir einen für verrückt erklären, weil man an diesem Dienstagmorgen seinen Partner gefragt hatte, ob er gut bei der Arbeit angekommen sei. Vielleicht sollte man auch den Kolleginnen und Kollegen nicht erzählen, dass man mit der alten Freundin aus München in diesem Jahr nur zwei Mal kommuniziert hat – einzig um sicherzugehen, dass der jeweils andere nicht Opfer einer Gräueltat geworden ist. Von übertriebener Ängstlichkeit könnte die Rede sein, von Überreaktion und Panikmache. Statistiken könnten belegen, dass …  Mit analytischer Nüchternheit betrachtet sei es ­äußerst unwahrscheinlich, dass … Der Täter sei weiterhin flüchtig, man habe den falschen Mann verhaftet, hieß es am frühen Dienstagnachmittag. »Ist die Tür verriegelt?« fragte daraufhin ein Kollege. Es sollte ein Scherz sein, zur Hälfte jedenfalls. Weil man sich keine Blöße geben wollte. Aber diese Barbarei rückt einem auf den Pelz. Und irgendeiner kennt immer eine, die sich zufällig gerade zehn Minuten zuvor am Ort des Geschehens aufgehalten hat oder als Studentin abends Glühwein ausschenkt auf diesem oder einem anderen Weihnachtsmarkt.
In den Redaktionsräumen dieser Zeitung verflüchtigte sich die Stille im Verlauf des Tages. Während irgendjemand öffentlich forderte, die Weihnachtsmärkte sollten am Tag nach der Tat geschlossen bleiben, erkannte sich eine Redakteurin dieser Zeitung selbst kaum wieder, weil sie plötzlich Argumente für Weihnachtsmärkte fand. Punsch wurde serviert, man lachte, abends noch sollte die Weihnachtsfeier stattfinden, mit allem, was dazugehört. Dazu zählt in diesem Jahr eben auch, der Opfer zu gedenken und den Tätern und ihren Motiven mit aller Verachtung zu begegnen, die sich überhaupt aufbringen lässt.