Ein Gespräch mit dem Schrifsteller Feridun Zaimoglu über dessen »Luther-Roman«

»Es wird die Reformation gefeiert, aber nicht Martin Luther«

Interview Von Tobias Prüwer

Feridun Zaimoglu hat seinem Roman »Evangelio – Ein Luther-Roman« (Kiepenheuer und Witsch, 2017) über die Leiden des jungen Luther geschrieben. Warum zur Hölle? Das erklärt Zaimoglu im Gespräch.

Sie schreiben sonst über Ausgegrenzte, Menschen am Rand. Warum haben Sie mit »Evangelio« ­ausgerechnet ein Buch über Martin Luther verfasst, der nicht gerade als unpopulär gilt?
Es ist ja weniger ein Buch über Luther als über einen in Acht und Bann getanen Menschen, der auf der Wartburg festsaß. Im Roman beziehe ich mich auf dieses eine Jahr, das Luther auf der Wartburg verbrachte.

Im Jahr 1521 wurde über Luther die Reichsacht verhängt. Zu seinem Schutz verbrachte ihn der sächsische Kurfürst inkognito als Junker Jörg auf die Eisenacher Feste. Hier übersetzte er das Neue Testament ins Deutsche. Warum konzentrieren Sie sich in Ihrem Roman auf diese kurze Zeitspanne?
Es gibt im Zusammenhang mit Martin Luther sehr viele Überzeichnungen. Man macht aus ihm einen Heiligen der letzten Tage. Aber in diesem einen Jahr gab es keinen Tag, an dem er ohne Schmerzen war. Zudem war er vogelfrei. Das bedeutet, jeder konnte ihn töten, ohne rechtliche Folgen und Strafe zu befürchten. Er hätte dann nicht nur die Silberlinge bekommen, ihm wäre ein guter Platz im Jenseits zugesprochen worden.
»Evangelio« ist also kein Luther-Roman, sondern die Geschichte von Junker Jörg?
Natürlich ist es auch ein Luther-Roman, aber keine Biographie. Ich habe im Grunde nicht mit meinem Vorsatz gebrochen, die Schwachen, die Armen, die Beladenen zu Helden zu machen. Hier auf der Wartburg haben wir es mit einem tödlich bedrohten, sich vor Schmerzen windenden Martin Luther zu tun – ganz anders als der spätere Luther.

»Ich wollte nicht mit der üblichen Küchentischpsychologie ein Psychogramm von diesem Ketzer entwerfen.«


Der Reformator nannte den Menschen einen »elenden Madensack«. Das nehmen Sie wörtlich und zeigen einen Luther, der leiblich leidet, Verstopfung hat und sich dazu noch von Dämonen getrieben fühlt. ­Haben Sie Spaß daran, ihn so zu quälen?
Da ist ein Mann, der in seiner Frömmigkeit und in seinem Frommsein ernst genommen werden will. Keiner hat mich gezwungen, dieses Buch zu schreiben. Aber ich wollte nicht im heutigen Quatschdeutsch und auch nicht mit der üblichen Küchentischpsychologie ein Psychogramm dieses Ketzers entwerfen. Sondern ich habe seinen Glauben, dass er auf der Wartburg vom Teufel umstellt sei, ernst ­genommen. Und diese Teufelsvisionen stelle ich auch im Buch dar.

Was hielten Sie von Luther vor dem Schreiben Ihres Buches – und was halten Sie jetzt von ihm?
Wenn es um die Sprache geht und mit Blick auf die »Biblia teutsch« (Luthers Bibelübersetzung, Anm. d. Red.), also auf seine Leistung und Wortgewalt, ist er neben Grimmelshausen einer meiner Helden der deutschen Sprache. Das ist, ganz unabhängig vom Glauben, ein glänzendes Sprachwerk. Und was den Glauben betrifft: Jeder Mensch, der glaubt, dass es einen Schatten oder einen personifizierten Stellvertreter Gottes gibt, ein solcher Gläubiger weiß es zu würdigen, dass Luther für einen Befreiungsschlag sorgte, nämlich keinen Ablasshandel, keine Beichte, allein die Gnade und die Schrift. Zunächst einmal, sage ich, denn das ist alles mit Vorsicht zu genießen. Man kann den späteren Martin Luther, der nicht umsonst als »Fürstenknecht« bezeichnet wurde, nicht einfach so mögen. Aber der frühere hat zur Befreiung von der Ausbeutung durch Religionshöker beigetragen.

Besonders im späteren Leben zeigte Luther einen rasenden Antisemitismus. Auch Sie zeichnen in Ihrem Roman solche Züge. Luther wird dennoch weiterhin von vielen als Held verklärt. Warum gelingt kein differenzierter Umgang mit ihm?
Das liegt daran, dass da draußen auf der Wiese so viele Harmoniehäschen herumhoppeln. Das betrifft ja nicht nur Martin Luther. Wie oft hat man den bescheuerten Satz über eine historische Figur gehört: »Was kann er uns Heutigen sagen?« Dass es nicht darum geht, alles wohnzimmertauglich zu formatieren, damit die Spießer nicht aufseufzen, ist ein allgemeines Problem. Zitat Luther: »Ich bin ein reuischer sächsischer Bauer.« All jene, die jetzt darauf hinweisen, dass er ein Gebildeter und ein Professor der Theologie war, haben ja recht. Aber sie blenden all das aus, was ihnen nicht in den Kram passt. Sie möchten am liebsten nichts davon wissen. Es wird ja die Reformation gefeiert, aber nicht Martin Luther. Was von ihm übrig bleibt, sind die Lieblingsspeisen, die Kochrezepte und das Kräutermännlein.

Vom ausverkauften Playmobil-Luther bis zur Reformator-Gummiente, es ist schon alles erluthert anno 2017. In Wittenberg stand vor einigen Jahren das Graffito »These 1 – Lutherkult abschaffen.« Tragen Sie nicht zu diesem Kult bei?
Es war nie meine Sache, nie, alles harmonisch zu zeichnen. Wer meine Bücher liest, kann schon sagen, da ist ein Autor, der die Düsternis immer hineinbringt. Das habe ich mit diesem Buch auch gemacht. Frömmler werden natürlich die Hände falten und sich herauspicken, was sie wollen. Die anderen kommen hippieesk daher und jauchzen und jubeln. Kann man machen, aber jeder, der etwas mehr Grips hat, der geht weg von der hysterischen Meute. Man hält es heute nicht nur nicht allein mit Luther aus, sondern sobald etwas mit mehr als homöopathischen Inhalten kommt, schalten die meisten Leute ab.

Welches ist Ihr liebstes Luther-Zitat?
Ich bin noch nie der Typ für Zitate gewesen, nicht von Goethe, Schiller, auch nicht von Luther. Ich mag seine Bibelübersetzung als Gesamtbild. Er hat selbst gesagt zu den Frömmlern, die alles für bare Münze nehmen: Es ist eine literarische Übersetzung. Im Grunde genommen ist es ein Gesang. Was Zitate betrifft, kann man blindes Bibelstechen machen, aufschlagen und schon wird man auf eines stoßen. Er war ein Mann, der in der einen Hand die Schreibfeder hielt und in der anderen den Schweinespieß.

An einer Stelle heißt es: »Eine Knochenmühle wird die Welt. Er aber vergisst den Schmerz, vergisst den bellenden Leviathan, und übersetzt Gott ins Teutsche.« Sie haben für ­Ihren Roman eine eigene, altertümlich wirkende Kunstsprache gewählt. In Ihrem ersten Buch entwarfen Sie »Kanak Sprak«. Woher rührt Ihre Faszination für die ­Sprache?
Für mich, der ich halbbetäubt durch das Leben schwanke, stellt sich die bessere Lesbarkeit der Welt über das Wort, die Schrift ein. Ich kann nur das sehen, was ich kenne. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die in Büchern ­beschriebene Wirklichkeit um einiges wirklicher ist, weil gut beschrieben, als die Wirklichkeit selbst. Auch wenn das komisch klingt. Ich habe nie zu denen gehört, die es toll finden, sich von der Realität verätzen zu lassen. Ich kann nicht sagen, dass man zum Realismus kommt, indem man sich der Realität aussetzt. Ich bin außerdem der Lautheit der Leute immer entflohen, habe immer gelesen, konnte mir mit Büchern eine eigene Welt machen. Wenn man sieht, dass Bücher die Welt verändert haben, weil Menschen sich auf Bücher bezogen haben, leider fast immer mit fatalen Konsequenzen, sage ich: Die Realität darf man in ein Buch übertragen, aber bloß nicht das Buch in die Realität. Das gibt nur Blut und Schaden.

Weil die Menschen zum Dogma neigen?
Genau. Sonst wird der Mensch von diesen Volkskommissaren, egal ob sie rot, schwarz oder grün angestrichen sind, zum Ideenbehälter und zählt dann nichts. Diese Erfahrung haben wir in den letzten 80, 90 Jahren machen müssen und machen sie immer noch.

Sie haben gesagt, Sie flüchten gern der Realität. Für Ihren Roman waren Sie aber an Luther-Stätten, besuchten die Wartburg, einen Sehnsuchtort des Deutschtums. Wie fühlten Sie sich dort?
Ich glaube nicht an Gespenster. Wenn jemand gelebt hat und stirbt, dann stirbt er. Dann gibt es eine Hinterlassenschaft, ein Erbe – schön. Ich missverstehe die Frage bewusst, weil es auch dieses Phänomen gibt, dass Leute die Nähe zu Schreinen suchen, um sich dem Geist von jemanden oder etwas nahe zu fühlen. Das war so nicht. Man gruselt sich auf dieser Burg in der Dunkelheit. Es war sehr gut, dass ich dort war, weil man viel versteht: Wie unangenehm und ungemütlich es dort ist – eine windumbrauste Feste, es ist einfach furchtbar, sich dort aufzuhalten. Es ist dort arschkalt. Und man bekommt es mit der Angst zu tun, weil es plötzlich aus dem Dunkel wispert. Da bildet man sich viel ein. Ich habe einiges verstanden bei der Recherche dort, habe aber nie an diese blöde Burgromantik geglaubt. Ich habe die Luther-Stube nicht als verklärten Ort, sondern als wirklich kleine Zelle gesehen. Da versteht man Luthers Koller. Das war schon Isolationshaft.