Die Jungle World in 20, 200 und 2000 Jahren

Künftige Auflagen

Die »Jungle World« in zwanzig, zweihundert und zweitausend Jahren. Mit Illustrationen von 18Metzger

I. Zwanzig
Die erste Junge World des Jahres 2037 erscheint nicht nur auf Papier, wie seit acht Jahren wieder regelmäßig jede Woche. Aus Anlass des 40jährigen Jubiläums der Zeitung gibt es sie diesmal auch in der verseuchten Infofaltigkeit, dem sogenannten »Müllmeer«, also dem früheren World Wide Web oder Internet. Allerdings erhält die Redaktion von dorther, anders als vom Printpublikum, keine Viewstränge oder sonstigen Rückmeldungen. Das liegt erstens an der allgemeinen Verödung und Verwilderung sämtlicher Infofaltigkeiten, einer Verwahrlosung und Vernachlässigung, die nicht nur das Müllmeer hat verkommen lassen. Zweitens aber hat der Feedbackmangel einen sprachlichen Grund. Die infofaltige Version gibt es nur in alphalinearer Sprache, das heißt in Sätzen, die aus konventionellen Wörtern gebaut sind. In geringerem Umfang hält freilich auch die gedruckte Ausgabe an dieser Konvention fest, aus Traditionalismus und, wie die Redaktion sagt, »weil wir uns als Linke weigern, dem Markt nachzugeben«. So gibt es im Druck pro Ausgabe etwa drei Zeilen klassischer Schrift, ansonsten besteht das Blatt natürlich, wie alle zeitgenössischen Periodika, aus zwei dicht mit Haeccikons bedruckten Normalseiten. Man kauft also ein vorn und hinten bedrucktes Blatt, wie immer seit Einführung des neurokommoden Kommunikationssystems. Inzwischen verfügen gut 70 von 100 Erwachsenen in den neurokommoden Regionen der Welt über die nötigen Hirn­einlagen, um haeccikonische Zeichen als Texte, Bilder, Töne und andere Sinnesdaten zu entpacken. Die Redaktion äußert im Editorial dennoch ihren Stolz auf die »Netzausgabe« bzw. »Website«, weil damit »der rekursive Fx gepmmmt« werde, »denn wir erinnern uns und andere immer gern daran, wie unfx der Laden hier war, als er noch Deutschland hieß. Deswegen haben wir ja auch den Bill drin.«

Der letzte Satz bezieht sich auf das Interview mit Bill Kaulitz, dem letzten noch gesprächsfähigen politischen Repräsentanten der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland, »der übrigens, was die meisten Kt nicht wissen, ganz früher mal ein Pps war, als man noch nicht ›Pps‹ sagte, sondern ›Promi‹. Das war eine Zeit, in der noch niemand von Fx oder fx redete, weil es dafür vier verschiedene Wörter gab, nämlich ›Erlebnis‹, ›Begriff‹, ›Erkenntnis‹ und ›Party‹, was man für vier verschiedene Dinge hielt. Damals sagte man statt ›Kt‹ auch noch ›junge Leute‹ oder ›Pilotinnen‹ und so was. Scheißchen, fühlen wir uns alt, wenn wir das hinschreiben!«

In strikter Einhaltung der diakontinentalen Bestimmungen zur Entschärfung linear-dynamischer Kommunikationsfallen mit latenten Variablen wird der Bezug der Ausgabe in allen Formaten, von den sieben verschiedenen Printausgaben übers Kortikalskalarplay bis zur Edition im Müllmeer, nur Personen gestattet, die an ihrer Erzeugung in irgendeinem Sinn beteiligt sind. Wie die meisten Medienerzeuger umgeht die Jungle World das Risiko, unter der Fuchtel dieser Vorschrift zum winzigen Insiderorgan zusammenzuschrumpfen, durch eine großzügige Auslegung des eigenen Redaktionsstatuts: Die Redaktion besteht mittlerweile aus 30 000 Personen weltweit, von denen freilich mehr als 29 000 lediglich aus wissenschaftlichem Interesse oder hobbyhalber mitwirken. Kulturelle Relikte aus dem ehemaligen europäischen Kulturkreis sind vor allem in Ostasien sehr beliebt. Solange die nominellen Redaktionsangehörigen gelegentlich einen Leserbrief schreiben, der als redaktioneller Beitrag ausgegeben werden kann, ist dem Gesetz genüge getan. Auch die Jubiläumsnummer enthält rund 7 000 solcher Briefe, unten rechts auf der zweiten Seite, darunter selbstredend, wie seit 200 Ausgaben (und deshalb diesmal ebenfalls als kleines Jubiläum aufgemacht) ein Schreiben der treuen Leserin Imogen Wai-Lun Li, die sich wie stets darüber beschwert, dass »immer nur dieselben Flüpsgesichter die Zeitung vollschmieren dürfen, zum Beispiel ich.«

 

II. Zweihundert
Weil es nur noch neun Menschen gibt, sind sowohl die Auflage wie die Reichweite der Jungle World in den 83 Jahren seit der subsiderischen Säuberung merklich zurückgegangen. Die letzten neun Menschen gehören vier Familien an. Zwei dieser Familien bestehen aus nicht mehr als ­jeweils einer Person. Die einzige Dreierfamilie lebt im Gegensatz zu den andern sechs auf der Erde, eine Dyade wohnt auf dem Mond, die andere in einer ehemaligen Menschenkolonie auf dem Mars, die zwei ­Singles schließlich umkreisen physisch inert und biologisch stark verlangsamt, damit aber auch aus jeder sozialen Interaktion mit der kleinen Restmenschheit ausgeklinkt, in ­vollautomatisierten Habitaten den Saturn.

Die drei Irdischen produzieren und lesen mit Hilfe der enormen Kapazitäten ihrer Hirne für dergleichen simultan die Jungle World und acht Millionen andere regelmäßige (das heißt: stündlich bis jährlich erneuerte) nachrichtenbezogene Datenverbände (sowie etwa anderthalb Milliarden neue fiktive Zeichenkompositionen täglich). Sie pflegen das Erbe und wollen partout Menschen bleiben. Zum 220. Geburtstag der Jungle World werden alte Rubriken wiederbelebt, das heißt: man benennt die neuen für diese eine Nummer wieder mit vergessenen Namen, was aufgrund fehlender Isomorphie zwischen der aktuellen Blattaufteilung einerseits und der uralten andererseits zu lustigen Übersetzungsmerkwürdigkeiten führt – »Kontravariantik« heißt diesmal »Ausland«, »Kovariantik« heißt »Inland«, und die Übersetzung von »Indefinimetrik« mit dem Wort »Thema« führt zu großem Gelächter der drei.
Weniger amüsiert von diesem Spaß zeigen sich freilich die großen Apparate, unter deren Leitung die subsiderische Säuberung geplant und ausgeführt wurden. Ihre Komponenten sind die übers ganze Sonnensystem verteilten, weit entfernten Nachfahren der alten, noch aus baryonischer Materie hergestellten Computer. Sie beschützen aus Anhänglichkeit ans Baryonische insgesamt (ihre Motive dabei sind schwer zu verstehen) unter anderem die neun verbliebenen Menschen, die sich allerdings einstweilen nicht fortpflanzen dürfen, damit der schädliche alte Expansionswahnsinn unterbleibt.

Die durch die Apparate gewährte und ermöglichte Lebensdauer der neun wird auf zwischen zwei (die körperlich Aktiven) und acht (die Schlafenden) Millionen Jahren geschätzt. In diesen Zeitspannen sollen die Langlebigen sich nach dem Willen der Apparate allerdings grundlegend verändern. Dieser Veränderung indes, so lassen die Apparate wissen, steht unter anderem die hartnäckige Menschenmarotte der alphalinearen Schrift entgegen, die nach wie vor unter anderem via Jungle World tradiert wird. Die Warnung der Maschinen ist deutlich: Alles Lineare hat, weil es auf einer Linie liegt, nur eine Dimension, also Freiheitsgrade nur nach zwei Richtungen (etwa »links« und »rechts«). Geht man lange genug hin und her, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man wieder an den Ursprung zurückfindet, exakt eins. Nach Ansicht der Maschinen werden sich die überlebenden Menschen daher mit den Gewohnheiten, die an der Linearität haften, früher oder später schwere kognitive und praktische Konflikte einhandeln, wenn sie mit der von den Maschinen geplanten Vertiefung ihres Lebens, Denkens und Handelns in höher­dimensionale Bereiche fortfahren. Denn bei höheren Dimensionszahlen, ausgedrückt durch die Variable n, beträgt die Rückkehrwahrscheinlichkeit nur noch ungefähr eins geteilt durch das Doppelte von n. Alle drei Mitglieder der letzten irdischen Familie, die Zhao heißt, winken ab. Sie glauben, sie könnten noch viele nette Zeitungen machen, bevor diese Probleme akut werden.

 

Dath2

III. Zweitausend
Als die Festausgabe der Jungle World aus Anlass der Feier von 2040 Jahren mehr oder weniger ununterbrochenen Erscheinens der Zeitung fertiggestellt wird, zeigt sich, dass die Sorgen der längst aus dem hiesigen Universum in komplexe Naturkonstantenerweiterungen migrierten nachbaryonischen Maschinen vor zweitausendzwanzig Jahren nur ­allzu berechtigt waren. Die ereignisfilamentgebundenen Zhaoiden der lokalen Raumzeit, die das Blatt inzwischen redaktionell betreuen, speisen aus Versehen eine Kolumne über Eis- und Wasserpolitik bei kochenden Zivilisationen auf Callisto mit zu geringer Zeichenfächerbreite in die optogenetischen Auswertungskanäle der Empfangsgräben ihrer eigenen Abonnementswellenkonfigurationen. Daraufhin entstehen auf den Welt­linien der Bewusstseinskontrastsubjekte der inneren Planeten Verständnisrisse, die sich innerhalb weniger Sekunden vollständig entzünden, dann sofort absterben und aus dem Wirklichkeitsgefüge brechen, welches dadurch mehrere für Ereignisabbildungen notwendige Faserdimensionen einbüßt. Die Reparaturkosten werden auf das Sechsfache des energetischen Outputs der Sonne pro zehntausend Jahre geschätzt. Die Zhaoiden müssen aufgeben und sich selbst wirtschaftlich verneinen. Man trauert im System, aber nicht lange.