Jlins rhythmische Energie ist ansteckend

Gefaltet und verschachtelt

Der Musikstil Footwork war von Beginn an auch ein Tanzstil. Die US-amerikanische Musikerin Jlin zählt zu den ­Protagonistinnen des Genres. Auf ihrem jüngsten Album »Black Origami« balanciert sie auf dem schmalen Grat zwischen Verschrobenheit und Tanzbarkeit.

Gute Clubmusik leistet stets mehr als nur den Soundtrack zu einer ekstatischen Nacht. Sie hat die Menschen mit den Maschinen versöhnt, weil sie Anorganisches in Organisches und elektronischen Sound in menschliche Bewegungsenergie verwandeln kann. Das gilt besonders für rhythmisch avancierte Stilvarianten, die in ihrer Komplexität nur mit maschineller Hilfe entstehen können – und bei denen das Gehör vom Wahrnehmen mit der Haut, dem Brustkorb und schließlich den Beinen übertrumpft wird. Waren dafür in den neunziger Jahren noch Musikstile wie Jungle und Drum & Bass zuständig, sind es heute die verschiedenen, oft tautologisch als Bassmusic bezeichneten Derivate zwischen Sound-Experiment und »Auf die Zwölf«-Mentalität.

Eine ihrer derzeit interessantesten Protagonistinnen ist die US-amerikanische Musikerin Jerilynn Patton alias Jlin. Die zwölf Stücke auf ihrem jüngsten Album »Black Origami« vereinen alles, was das von Erwartungsdruck und Like-Gesellschaft perforierte Ich des 21. Jahrhunderts mit Hang zur akustischen Reizüberflutung ruhigstellt: Hyperschnelle Hihats, die wie Helikopter durch den Raum fliegen, scharf geschnittene, abgehackte Vocalsamples, Subbässe, die den Bauch wärmen, und tribalistische Percussions. Der Rhythmus spielt hier die Hauptrolle – und treibt die menschliche Fähigkeit zur rhythmischen Mustererkennung an ihre Grenzen.

Jlins Kompositionen erinnern an die japanischen Faltkunstwerke, die stets aus einem leeren Blatt Papier entstehen. Es geht darum, aus etwas sehr Einfachem, Unbeschriebenem etwas Komplexes
und Schönes zu machen.

»Wenn ich Musik mache, kann ich Zeit und Raum verschwinden lassen«, sagte die in Gary, Indiana, lebende Musikerin vor kurzem in einem Interview. Für die Hörerinnen und Hörer sollte dasselbe gelten. Das Vertiefen in die von Rhythmus dominierten Stücke ist eine akustische Tour de Force, das Betreten eines Labyrinths, das in jedem Moment weitere Abzweigungen produziert, bis ein Ankommen in sicheren Gebieten unmöglich wird. Den Stillstand zu negieren, nie anzukommen und doch stetig nach einer Ordnung im Chaos zu suchen, wird besonders in »Nya­kinyua Rise« hörbar. Die vielen Synkopen, also Brüche in der Taktbetonung, die nach westafrikanischen Djembes klingenden Percussions und die immer wieder herausstechenden Kampfschreie setzen eben etablierte Akzente außer Kraft und lassen den Track mal schneller, mal langsamer, mal völlig aus dem Takt erscheinen. Das funktioniert, obwohl er stets im gleichen Tempo steht und auf absurde Weise tanzbar bleibt – vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein.

Wer Jlin live erlebt hat, weiß: Der kinetischen Energie kann man sich schwer entziehen. Jlins musikalische Wurzeln liegen im Footwork, dem in den vergangenen Jahren wohl aufregendsten Clubmusik-Update, für das die 30jährige neben Szenegrößen wie RP Boo oder DJ Spinn inzwischen zum Aushängeschild geworden ist. Der Mitte der Nullerjahre in Chicago entstandene Musikstil, der aus der Kompromisslosigkeit von Drum & Bass und Jungle, der Street-Attitüde von HipHop sowie dem Hedonismus des House schöpft, war von Beginn an auch ein Tanzstil – Footwork als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Wie Musik Einfluss auf die Bewegungen der Tanzenden nimmt, beeinflussen wiederum die Tänzerinnen und Tänzer, die in den Clubs Chicagos ihre Battles auf dem Dancefloor abhalten, die Musik.

Ihren ersten Track veröffentlichte Jlin 2011 auf der Footwork-Compilation »Bangs & Works«, die auf dem britischen Traditions-Label Planet Mu erschien. Sie nahm Kontakt zur Szene im nur 20 Kilometer entfernten Chicago auf und lernte DJ Rashad kennen, jene Stilikone, die 2014 unerwartet starb und zu so etwas wie dem Kurt Cobain der alternativen Clubmusik-Szene wurde.

Ein Jahr später erschien Pattons Debütalbum »Dark Energy«. Dass sie fast schlagartig international bekannt und zur weltweit gefragten Künstlerin wurde, lag an ihrer sehr eigenen Interpretation des Musikstils. Anfangs verwendete Jlin noch Samples, aber nach einem Kommentar ihrer Mutter, die sie fragte, wie sie denn eigentlich selbst klinge, begann Jlin, nur noch mit eigenen Sounds zu arbeiten.

Mittlereile hat sie die Balance zwischen völliger Verrücktheit und Noch-Tanzbarkeit perfektioniert – und sich mit ungewöhnlichen Kollaborationen auf positive Weise von ihrer musikalischen Herkunft entfernt. Für »Holy Child«, eine Hommage an DJ Rashad, hat sie mit dem New Yorker Avantgardemusiker William Basinski zusammengearbeitet. »Never Created, Never Destroyed« entstand mit der queeren Rapperin Dope Saint Jude aus Südafrika, deren Stimme in kurzen Fetzen aus Vokalen und Silben zu hören ist. »1 %« hat Jlin zusammen mit der US-amerikanischen Komponistin und Musikerin Holly Herndon verarbeitet. Das raue Stück mit den leicht verstörenden Klängen wie dem Hinweiston eines nicht zustellbaren Anrufs und verzweifelten Schreien deutet den politischen Gehalts des Titels an, ohne konkret zu werden – war das besagte eine Prozent doch die von der Occupy-Bewegung geprägte Chiffre für die Herrschenden, deren Vermögen und Politik für den Lauf der Welt verantwortlich seien. »1 %« könnte als Musik gewordene Forderung verstanden werden, dem Unrecht der Welt zumindest durch Tanz entkommen zu können.

Die Flucht, der Ausbruch aus der Normalität treibt Patton seit jeher an. Musik sei für sie der einzige Weg gewesen, der »Ödnis des American Life« zu entkommen, wie sie einem englischen Musikmagazin mitteilte. Man habe ihr beigebracht, zur Schule zu gehen und im Anschluss einen ordentlichen Beruf auszuüben. Das Musikmachen war für sie die Möglichkeit, etwas Eigenes zu schaffen. Das ist ihr gelungen – und der Albumtitel könnte nicht passender sein. Ihre Kompositionen erinnern an die japanischen Faltkunstwerke, die stets aus einem leeren Blatt Papier entstehen. Es geht darum, aus etwas sehr Einfachem, Unbeschriebenem etwas Komplexes und Schönes entstehen zu lassen. Was nicht im klassischen Sinne zu verstehen ist als die Vollendung in Harmonie oder das glückselige Happy End, sondern im Gegenteil: als die beschwerliche Suche nach dem Erhabenen, das Tappen im Dunkeln und der Mut, sich statt Erlösung, Kontemplation oder wohltuenden Melodien ganz dem Rhythmus hinzugeben.

Jlins vertrackte Beats sind inzwischen auch außerhalb des Clubs gefragt. Seit Anfang des Jahres arbeitet sie mit der indischen Tänzerin und Choreographin Avril Stormy Unger zusammen, derzeit komponiert sie die Musik für ein autobiographisches Ballettstück des Choreo­graphen Wayne McGregor, das im Herbst in London Premiere haben wird. Der Club bleibt allerdings ihr zentraler Wirkungsort. Pattons Musik öffnet den Zugang zu einer Welt, in der heterogene Elemente miteinander kollidieren, aneinander abprallen, wieder zueinanderfinden und schließlich auf schönste Art koexistieren. Das lässt sich, wenn man nicht einfach nur tanzen will, auch als kritische Aussage verstehen, gegen das Bestehende, gegen die Verhärtung von Kategorien und für eine Offenheit gegenüber der Realität.

Jlin: Black Origami (Planet Mu/Cargo ­Records)