Dschungelbuch und Zivilisation

Für immer im Wald

Bitte nicht füttern Von Ivo Bozic

Dieses Jahr wird die berühmte Zeichentrickerverfilmung von »Das Dschungelbuch« 50 Jahre alt. In der Geschichte geht es bekanntlich um den kleinen Mogli, der von Wölfen großgezogen wurde und unter Tieren lebt. Mogli hat dabei den großen Vorteil, dass die Tiere sprechen können. Und zwar seine Sprache. Tarzan, ebenfalls von Tieren aufgezogen, hatte es schwerer: Man sprach äffisch. Bei beiden Geschichten ist es am Ende ein Mädchen, das den jeweiligen Dschungelhelden in die Zivilisation führt: Jane bringt Tarzan Englisch bei (»Du Tarzan, ich Jane«) und Shanti führt Mogli in ein Menschendorf.
Dort angekommen, würden sich die beiden, handelte es sich bei dem Dorf um die österreichische Gemeinde Gerasdorf, jedoch schwer wundern: nix Zivilisation. Da kann man genauso gut wieder zurück in den Urwald. Hier, direkt an der Stadtgrenze Wiens, regiert archaischer Aberglaube. Die Stadt hat Kindergärten, Schulen und das Rathaus mit einem »W-Lan-Schutz« ausgestattet: kleine Aufkleber mit integriertem Chip, die eine windige Firma für teures Geld verscherbelt und die auf böse Geräte wie Handys, Computer und anderes Teufelszeug geklebt werden – schwupps sind die angeblich gefährlichen elektromagnetischen Strahlen »für unseren Körper verträglich«. Dass die ganze Sache offensichtlich Unfug und Beutelschneiderei ist, stört Bürgermeister (SPÖ) und Vizebürgermeister (ÖVP) nicht: Die Gesundheit »unserer Kinder« habe oberste Priorität. Willkommen zurück im Mittelalter.

Und zurück im Wald? »Wald« als Metapher für das Gegenteil von Zivilisation ist sehr beliebt – »Herr Schulz ist doch kein Underdog, der irgendwo aus dem Wald kommt«, sagte Wolfgang Schäuble über Martin Schulz –, dennoch ist sie falsch gewählt. Wald ist in Deutschland vollständig das Ergebnis der Zivilisation: 98,1 Prozent sind Nutzwald, Holzplantagen. Doch »Wald« klingt so schön »natürlich«. So auch in der Werbung für das Trendprodukt Avocado. Die Azteken hätten die Avocado »Butter des Waldes« genannt, heißt es in Lifestyle- und Veganblogs. Azteken sind Indigene, also: gut. Wald ist natürlich, also: gut. Und Butter schmeckt jedem. Dabei stimmt nichts an diesem Satz. Warum sollten die alten Azteken von »Butter« sprechen? Rinder, Schafe und Ziegen kannten sie nicht, lediglich Hunde und Truthühner wurden gehalten. Die geben keine Milch. Sprich: Es gab keine Butter bei den Azteken. Eine andere Übersetzung des aztekischen Begriffs ahua-catl lautet »Hoden«. Das liegt wegen des Aussehens der Avocado viel näher. Aber klar: »Hoden des Waldes« macht sich nicht so gut im veganen Lifestylemagazin. Außerdem ersetzen die Avocadoplantagen immer häufiger den Wald.

Auch nach 50 Jahren »Dschungelbuch« lautet die große Menschheitsfrage: Wo geht’s zur Zivilisation? Inzwischen weiß man: Es reicht nicht, einfach den Wald zu verlassen. Das nächste Dorf heißt immer Gerasdorf und in jedem wohnt ein Martin Schulz und genießt seine Avocadostulle.