Der autobiographische Roman »Meine Eltern« von Hervé Guibert

Das habe ich von euch

»Meine Eltern«, der autobiographische Roman des französischen Autors und Fotografen Hervé Guiberts ist in deutscher Sprache erschienen.

Irgendetwas stimmt an dieser Geschichte nicht«, schreibt Hervé Guibert am Anfang des Buchs. Er schildert, wie seine Großtanten Suzanne und Louise ihm, dem erwachsenen Sohn, die Geschichte seiner Eltern erzählen, dubios und voller Verstrickungen in zweifelhafte Fakten: Vergessene Beschneidungen und Affären mit Pfarrern, Erpressungen und Verschwörungen. Was stimmt hier also nicht? Fakten und Fiktion fließen ineinander, der Autor entwirft seine eigene Person.

Eine Biographie zu schreiben, hieß für den französischen Philosophen Roland Barthes, aus Schnappschüssen ein großes Bild entstehen zu lassen. Nur eben in Worten, assoziativen Beschreibungen. »Wäre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir: ›Biographeme‹ reduzieren würde, deren Besonderheit und Mobilität außerhalb jedes Schicksals stünden und wie die epikuräischen Atome irgendeinen zukünftigen und der gleichen Auflösung bestimmten Körper berührten«, schrieb er 1971 in seinen Studien zu Marquis de Sade, Charles Fourier und Ignatius von Loyola. Mehr als eine einzelne, geschlossene Geschichte scheint ihm das Subjekt ein Geflecht aus Eindrücken und Momenten zu sein. In »Über mich selbst« entwirft Barthes eine fiktive Autobiographie. Er trennt nicht zwischen Fakt und Fiktion und will sich selbst als Roman­figur verstanden wissen.

Dass Hervé Guibert wie sein Freund Barthes Fotografien schätzte, ist vielleicht nicht die größte Gemeinsamkeit der beiden – Guibert, ge­boren 1955, gestorben 1991, war als Fotograf nicht weniger begabt denn als Autor. Aber beide schätzten die Fotografie als Inspirationsquelle für ihr Schreiben. Guiberts Prosastück »Meine Eltern« ist eine autobiographische und fiktive Skizze, sammelt Momentaufnahmen im Sinne von Barthes’ Biographemen und zeichnet so nicht nur das Bild zweier Erwachsener und eines ihnen ausgelieferten Kindes, Jugendlichen, Erwachsenen, sondern Urszenen von Kindheit und Jugend.

Gewidmet ist es »niemandem«, und nicht nur das nimmt der Autor im Laufe des Buchs zurück. »Der Hass in der Widmung dieses Buchs war natürlich fiktiv«, heißt es im ­vorletzten Absatz. Dazwischen: Urlaube, Kinobesuche, kindliche Theateraufführungen im Türrahmen, ­Infekte und unangenehme Kuren, die Erkenntnis des eigenen Körpers und seiner Fehler, das Erleben vorpubertärer Lust mit älteren Mitschülern, elterliche Demütigungen und Schläge. »Einmal müssen meine Schwester und ich uns Kalbsbries einverleiben, mein Vater hat seine Uhr auf den Tisch gelegt und gibt uns fünf Minuten, um unsere Teller zu leeren: Es regnet Ohrfeigen, wir geben das weiße Gewebe von uns und käuen es, mit Tränen und Rotz vermischt, wieder.« Guibert erzählt von elterlichen und geschwisterlichen Freundschaften und Feindschaften, davon, ihnen den Tod zu wünschen und sich dafür zu schämen; er beschreibt die Unbeholfenheit seiner Eltern, als sie ihn in seinem neuen Leben besuchen, und erinnert sich an Kinderspiele: »Wenn er aufhört, muss ich erraten, wohin er mich geführt hat. Dann schaltet er das Licht ein, ich bin genauso erfreut, gewonnen wie verloren zu haben, ich frage, ob wir von vorne anfangen können, aber es ist Zeit, sich erneut die Hände zu waschen, wobei mit den Fingernägeln ordentlich in der Seife zu kratzen ist, um die Mikroben des Abendessens zu entfernen.«

Das Buch folgt Guiberts bekannteren Werken »Mitleidsprotokoll« (1991) und »Dem Freund, der mir nicht das Leben gerettet hat« (1990), das in Frankreich heftige Debatten auslöste und ihn posthum über die Pariser Kultur- und Theorieszene ­hinaus berühmt gemacht hat. Auch weil er in dem Buch recht drastisch und nur leicht verschlüsselt den Aids-Tod seines prominenten Freundes Michel Foucault schildert. »Dem Freund, der mir nicht das Leben gerettet hat« war einer der ersten Romane, die HIV zum Thema hatten. Beide Bücher und auch der Roman »Meine Eltern«, der früher entstand, 1986 und vor dem Wissen um seinen nahenden Tod – auch Guibert war HIV-infiziert – , sind Teile von etwas, das Guibert als Projekt der Selbstenthüllung bezeichnete. Auch seine ­Fotografien, die häufig Freunde, Familienmitglieder oder biographisch wichtige Orte zeigen, gehören zu dem Projekt, bei dem der Künstler gesteht, sich und andere zu »misshandeln«, durch die Gnadenlosigkeit, mit der er Intimität ausnutzt und sie zur Grundlage seines Schreibens macht. Guibert, dessen Romane ­publiziert wurden, der aber vor allem journalistisch tätig war, erhielt seine Diagnose 1988. 1991 starb er an den Folgen eines Suizidversuchs.

Fotografien sind auch ein wichtiger Bestandteil von Guiberts Erinnerungen. Als Kind und Jugendlicher verliebt er sich häufig in Männer auf Fotografien, auf Film- und Theaterplakaten und Plattencovern. In der Mitte des Romans steht eine Szene, in der er seiner Mutter nahekommt wie nur selten: eine misslungene Fotografie. »Mein Vater hat sich eine Kamera gekauft, eine kleine Rollei 35, er schlägt mir vor, sie auszuprobieren, zusammen legen wir den Film ein, ich will meine Mutter fotografieren, ich lasse sie alles Überflüssige, Kleidung wie Haarschmuck, ablegen und sage meinem Vater, er soll uns allein lassen. Sie sitzt im Licht, ich gehe um sie herum, es ist ein Moment der Verbundenheit und der Erfüllung, der die Zeit stillstehen lässt, ganz so, als würden wir zusammen Walzer tanzen in einem großen lichtdurchfluteten Salon. Als mein Vater zurückkehrt, richten wir uns im Badezimmer ein, um den Film zu entwickeln, erstaunt müssen wir feststellen, dass der ganze Film nicht belichtet wurde. Das Licht hat nachgelassen, meine Mutter hat sich wieder angezogen, und wir wissen ohnehin, dass wir diese Episode nie wieder so darstellen können, dass sie bereits unwiederbringlich vorbei ist. Und dass dieses Phantombild von nun an nach etwas anderem drängt als dem Bild – nach der Erzählung.«

»Meine Eltern« erinnert an die interessanten Anfänge der erzählerischen Auseinandersetzung mit dem Subjekt des Schreibenden. Man kann das Buch als Ergänzung einer anderen autobiographischen Erzählung eines homosexuellen französischen Intellektuellen lesen: Didier Eribons im vergangenen Jahr auf Deutsch veröffentlichtes Buch »Rückkehr nach Reims«. Eribon, ebenfalls mit Guibert bekannt, schildert darin so literarisch wie soziologisch seine Herkunft aus der Arbeiterklasse und spricht von zwei Versteckspielen: dem »sexuellen Schrank«, dem er bald entsteigt, und dem »sozialen Schrank« seiner Herkunft, die ihn nicht loslässt – und die ihn aus der Nähe miterleben lässt, wie Frankreich nach rechts rückt. Guibert erzählt aus einer anderen Perspektive, der eines Bürgertums, das von Abstiegsängsten geplagt ist, von der Scham seiner ­Eltern, nicht bourgeois genug zu sein, und seiner Scham, seinen Eltern verbunden bleiben zu müssen. Weniger soziologisch, eher unmittelbar werden die wechselseitigen Beziehungen deutlich. Das Leben der Eltern erscheint dem Kind mitunter als alptraumhafter Blick in die eigene Zukunft, die Eltern projizieren ihren Wunsch nach Unsterblichkeit auf ihren Sohn. Der Familienname bleibt für die Guiberts ein »Fundament aus Autorität, Bedeutung und Macht«, das ihnen sogar erlaubt, die Homosexualität des Sohnes zu tolerieren, die »aus mir in ihren Augen ein asoziales, gefährdetes, verlorenes Wesen« macht.

Das Schöne an »Meine Eltern« ist, dass der Roman trotz personeller und literarischer Nähe zur Theorie auch ohne Bezugnahme auf die Philosophie funktioniert. Guibert sprach von der Familie als »Goldgrube«, deren Erbe er sich in »Fiktionen« ausbezahlen ließe. Gleichzeitig heiter und tragisch ist das Buch geraten, was es von den Romanen des sarkastischen Vorbilds Guiberts, Thomas Bernhard, unterscheidet. »Im Restaurant sagt sein Vater diesen Satz, den er vermutlich nie zu seiner Frau gesagt hat«, zitiert Guibert seine eigene Tagebuchskizze: »›Du bist sehr schön heute Abend.‹ Er sagt ihm auch: ›Das Wichtigste ist, dass du nicht leidest‹, und ihm scheint, dass dieser Satz alles enthält, was sein Vater ihm sagen will, alles, was er ihm jemals hat sagen wollen.« Wer angesichts dessen nun zwischen Vatermord und Rührung schwankt, wird mit Guiberts Eltern Momente höchster Intimität erleben können – und nicht wenig comic relief.

Hervé Guibert: Meine Eltern. Aus dem Französischen von Katrin Thomaneck. ­Diaphanes-Verlag, Berlin 2016, 160 Seiten, 18 Euro