Jutta Ditfurth, Publizistin, über die Auseinandersetzungen rund um die Proteste gegen den G20-Gipfel

»Wir brauchen eine Demokratisierung der Polizei«

Interview Von Kevin Culina

Jutta Ditfurth ist Soziologin und Autorin. Von 1984 bis 1988 war sie Bundesvorsitzende der Grünen. 1991 trat sie wegen der Rechtsentwicklung der Grünen aus der Partei aus und wurde Mitgründerin der Ökologischen Linken. 2001, 2006, 2011 und 2016 wurde sie für das Bündnis ÖkoLinX-Antirassistische Liste ins Frankfurter Stadtparlament gewählt.

Der Christdemokrat Wolfgang Bosbach verließ die Talkrunde »Maischberger« nach einem Streit mit Ihnen über die Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg. Bosbach nannte Ihre Argumentation »unerträglich« und löste damit einen Skandal aus. Was ist seitdem passiert?
Es gab Tausende von Hassreaktionen auf allen digitalen und analogen Kanälen. Typisch sind sexistische, etwa: »du untergevögelte hässliche Alte, ich werde dir auflauern, dich durchficken und dann aufschlitzen«. Und nationalistische: »Sie sind eine Schande für Deutschland, verschwinden Sie aus unserem Land.« Morddrohungen wie: »Ich reiße dir den Kopf ab und scheiße in dein Hirn.« Erschlagen, erschießen, aufhängen – alles dabei. Viele sind offen faschistisch. Auch die Drohung »vergasen« ist sehr beliebt. Viel von dem Dreck ist ja auf meinen Facebook-Seiten und auf meinem Twitteraccount nachlesbar. Das sind die Verteidiger von Bosbach, der sich, nachdem er aus der Sendung weggelaufen war, zwei Tage lang in vielen Medien darüber beschwerte, wie böse ich sei. Ich bin immer wieder überrascht, wie abgehoben solche Leute leben. Der würde keine normale Kneipendiskussion überstehen.
Es gibt aber viel wunderbare Solidarität von sehr unterschiedlichen Menschen, linken wie bürgerlichen, wenn auch leider kaum von jungen Feministinnen. Dann gab es viele Medienanfragen, darunter eine Interviewanfrage der Bild-Zeitung, die ich wie immer abgelehnt habe.

Im Mittelpunkt der Kontroverse stand das Verhalten militanter Autonomer und der Polizei. Sie bezichtigen die Polizei, gewalttätig Journalistinnen und Journalisten attackiert und Grundrechte eingeschränkt zu haben. Was haben Sie in Hamburg beobachtet?
Meine erste Demonstration war im Juni 1969, da war ich 17 und hatte gerade Abitur gemacht. Seither habe ich viele furchtbare Polizeiübergriffe gesehen. Aber noch nie habe ich erlebt, dass so viele Polizisten über mehrere Tage und Nächte hinweg in einer Stadt so enthemmt, ja sadistisch auf Demonstrierende, Anwohnerinnen und Anwohner und auf klar gekennzeichnete Journalistinnen und Journalisten eingeprügelt haben. Der Senat aus SPD und Grünen sowie die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD hatten ihnen freie Fahrt gegeben, und das war ihnen anzumerken. Die Polizisten waren vollkommen sicher, dass ihre Handlungsweise politisch gedeckt wird. Die Kämpfe gegen Atomkraftanlagen in Brokdorf, Grohnde, Kalkar und vor allem im französischen Malville im Sommer 1977 waren einschneidende Erfahrungen für mich: Dort habe ich gesehen, wie französische CRS-Einheiten (eine Art Bereitschaftspolizei, Anm. d. Red.) mit Tränengasgranaten auf Menschen zielen und wie einer der Demonstrierenden, der Lehrer Vital Michalon, durch eine Blendgranate getötet wurde. Als jetzt in Hamburg plötzlich Antiterroreinheiten mit Schnellfeuergewehren am Pferdemarkt vor uns standen, als sie allen Ernstes auf Anwohnerinnen und Anwohner, Demonstrierende und Sanitäterinnen und Sanitäter zielten, war es schieres Glück, dass kein Mensch erschossen wurde. Die Trennung von Bundeswehr und Polizei wird durch die Militarisierung der Polizei, mental wie waffentechnisch, tendenziell aufgehoben. Diese Militarisierung der Polizei ist Ausdruck eines autoritären Staates auf dem Weg in den Polizeistaat.

»Noch nie habe ich erlebt, dass so viele Polizisten über mehrere Tage hinweg so enthemmt, ja sadistisch auf Demonstrierende, Anwohnerinnen und Journalisten eingeprügelt haben.«

Gewalt gegen Journalisten, ausgebrannte Kleinwagen, Steinwürfe von Häusern – das Autonome Zentrum »Rote Flora« äußerte Unbehagen angesichts der Ausschreitungen im Schanzenviertel, auch Sie kritisierten diese als »nicht vermittelbar«. Wie ordnen Sie die Ereignisse ein, die selbst in weiten Teilen der radikalen Linken auf Staunen und Ablehnung treffen? Woher kommt diese jahrelang nicht gesehene Militanz?
Am liebsten hätte ich jetzt die Zeit, die sechs höllischen Gipfeltage oder wenigsten die zwei Schanzennächte – ich war auch dort – vollständig und im Detail zu rekonstruieren: Was ist wirklich passiert und was ist Mystifikation? Ich bin später Leuten aus Hamburger Vororten begegnet, die aufgrund der Berichterstattung glaubten, Hamburg sei abgebrannt. Die Fragen sind: Wer war beteiligt und mit welchen Motiven? Wer hat was gemacht? Ich bin sicher, dabei würde Erstaunliches herauskommen. Es mischten sich dumme Militanz mit kluger Militanz, der Voyeurismus Gelangweilter und der wachsende Hass marginalisierter Menschen, der keinen kritisch denkenden Menschen erstaunen kann.

Und auf Seiten der Polizei?
Vielleicht werden wir eines Tages auch erfahren, welche Rolle Polizei-Provokateure spielten. In der Polizei gibt es einen – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – überdurchschnittlich hohen Anteil an autoritär strukturierten, rechten und auch faschistischen Mitgliedern. Die kommen in ihrem Job an Gleichgesinnte, an Waffen und an Macht über andere Menschen. Wenn der Staat dann noch monatelang gegen Demonstrierende hetzt und schließlich den Schusswaffengebrauch gegen Menschen im Hamburger Schanzenviertel frei gibt, zeigt das die vorausgegangene gefährliche Rechtsverschiebung dieser Gesellschaft.
Diese Entwicklung wird auch von einem Chor von ehrgeizigen Opportunistinnen und Opportunisten besungen, wie etwa Sahra Wagenknecht, für die militante Demonstrierende, die sie noch nie verstand, sofort »Kriminelle« sind. Was wir dringend brauchen, um nicht im Polizeistaat zu landen, ist eine Demokratisierung der Polizei, also ein Aufräumen mit antidemokratischen bis faschistischen Kräften in der Polizei und ein Zurückdrängen von antidemokratischen, menschenrechtsverletzenden Kräften in Politik und Justiz. Aber das wäre ja schon fast eine Revolution.

In Politik und Medien wird nun zum Kampf gegen »Linksextremismus« aufgerufen. Die »Bild«-Zeitung fahndete auf ihrer Titelseite nach mutmaßlichen Randalierern, aus den Reihen der CDU wird die Schließung linker Kulturzentren gefordert, im Düsseldorfer Landtag wurde sogar ein lebenslanges Demonstrationsverbot für Straffällige diskutiert. Wie ordnen Sie diese Debatte ein?
Dazu kommen noch die Fußfessel-Vorschläge von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und die Idee von Justizminister Heiko Maas (SPD), jetzt »Rock gegen Links« zu veranstalten. Aber zu diesem Zweck haben sich soeben 6 000 Nazis im thüringischen Themar versammelt. Ich weiß nicht, ob er sich ihnen wirklich anschließen will. Es ist doch so: Dieser gesellschaftliche Großkonflikt lässt aufblitzen, in welch verheerendem Zustand die deutsche Gesellschaft ist. Der Schah kam 1968 nach Westberlin und Benno Ohnesorg wurde von einem Polizisten ermordet. Jetzt kamen anlässlich des G20-Gipfels ein halbes Dutzend Diktatoren und Menschenrechtsverbrecher nach Hamburg, die sich anmaßen, Einfluss auf das Schicksal von Milliarden Menschen zu nehmen – und wir sollen schafsbrav sein und die Sache ungestört ablaufen lassen? Natürlich nicht. Das Schöne an den Hamburger Protesttagen war, dass es gelang, den Gipfel, die Hafenlogistik, die Konvois wirklich zu stören. Im Übrigen müssen linke Zentren wie die Rote Flora verteidigt und erhalten werden.

In der Demonstration am 8. Juli liefen Unterstützer der antiisraelischen Kampagne »Boykott, Divestment, Sanctions« (BDS) mit, die Linksjugend griff auf die Krakensymbolik zurück, das »Internationalistische Barrio« diskutierte unter dem Motto »Intifada bis zum Sieg« über den Kampf gegen den Kapitalismus. Welche Rolle spielten ein personifizierender Antikapitalismus und antisemitische Ideologie in der Mobilisierung gegen den G20-Gipfel?
Es gab antisemitische Teile in den G20-Protesten, aber sie waren kleiner, als ich befürchtet hatte, und diese Leute mussten vorsichtig sein. Die zentrale Veranstaltung des antisemitischen BDS-Bündnisses »Interationalistisches Barrio« im Altonaer Camp floppte mit nur 40 bis 50 Leuten, von denen etwa ein Drittel Beobachterinnen und Beobachter und Gegnerinnen und Gegner waren. Die an Karikaturen in der Nazizeitung Der Stürmer erinnernde Riesenkrake auf der Demonstration am Samstag wurde von einer Handvoll Solid-Mitgliedern getragen, die seltsamerweise noch im Solid-Landesverband geduldet werden. Der relativ kleine BDS-Block in der Großdemonstration am Samstag entfernte sich auf der Strecke, warum, weiß ich nicht. Aber der Konflikt um den Antisemitismus in Teilen der Linken fängt gerade erst an, auch wenn viele Linke noch glauben, sich um die Auseinandersetzung drücken zu können.

In der »Jüdischen Allgemeinen« bezeichnete Michael Wuliger den Slogan »Gegen jeden Antisemitismus« an der Roten Flora als Warnung vor antisemitischen Linken und äußerte Sorge vor einem Kippen gewalttätiger Auseinandersetzungen in antisemitische Pogrome. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich fand das Banner der Roten Flora ganz ausgezeichnet. Die Auseinandersetzung um Antisemitismus in Teilen der Linken ist überfällig. In der Geschichte aber waren linke, emanzipatorische Aufstände im Gegensatz zu Pogromen und völkischen Erhebungen tendenziell nicht antisemitisch. Ich kenne Michael Wuligers Text noch nicht. Ich halte aber nichts von der Totalitarismusthese, die linke und rechte Aufstände gleichsetzt und von jeder Zielsetzung, egal ob emanzipatorisch oder menschenverachtend, absieht. Antisemitinnen und Antisemiten können nicht Teil der Linken sein, egal welcher Strömung.