Die Automobilkonzerne verlassen sich auf ihre wirtschaftliche Unentbehrlichkeit

Alternativlose Automobilindustrie

Der Abgasskandal bei den deutschen PKW-Herstellern zeigt: Die Konzerne haben den Sachzwang auf ihrer Seite.

Es ist ein eigenartiger Skandal: Die Leitmedien lassen ihre Leitartikler von der Leine und schicken ihre Rechercheteams los, die Verbraucherverbände laufen Sturm, die Börsenaufsicht ist alarmiert, Umweltbehörden schalten auf Konfrontation – und zwar weltweit. Wer in dieser Situation die Öffentlichkeitsarbeit für die deutsche Autoindustrie betreut, dürfte eine höchst undankbare Arbeit haben. Und die Branche selbst? Quittiert es mit einem Achselzucken. Vor dem vom Bundesverkehrsministerium eilig einberufenen »Dieselgipfel« am Mittwoch vergangener Woche schimpfte Heribert Prantl, Leitartikler der Süddeutschen Zeitung (SZ): »Die Chefs der Autokonzerne haben den Ernst der Lage nicht erkannt.« ­Einen Tag nach dem Gipfel hieß es ebenfalls in der SZ: »Die Haltung der Autobosse ist einfach nur arrogant.« Es ist ein bisschen, als hätte man entdeckt, dass der bereits alkoholkranke Ehepartner auch noch heimlich Tabletten schluckt. Der zuckt mit den Schulter: Ja, ist schlimm, aber was soll ich anderes tun?

Das Eigentümliche des Skandals besteht darin, dass er sich seit zwei Jahren offen vor unseren Augen abspielt und dennoch ohne große Folgen für die Schuldigen bleiben dürfte. Die deutschen Autokonzerne haben Millionen Kunden höchstwahrscheinlich Autos mit manipulativer Software verkauft, die deshalb von einem Fahrverbot bedroht sind, und eine noch größere Zahl von Stadtbewohnern übermäßig verschmutzter Luft ausgesetzt. Rechtlich ist die Situation ziemlich eindeutig, Staatsanwälte ermitteln, Prozesse ­wegen der Manipulationsfälle sind schon eröffnet, der in den USA inhaftierte VW-Manager Oliver Schmidt hat sich vergangene Woche schuldig bekannt. Weitere Selbstbeschuldigungen dürften folgen. Trotzdem agieren die Vorstände von VW, Audi, Porsche, Daimler-Benz und BMW erstaunlich selbst­sicher.

Sie haben, wenn man so will, den Sachzwang auf ihrer Seite. Sie verkörpern ihn geradezu, denn die Auto­mobilindustrie ist das Herz der Deutschland AG: Sie hat 815 000 Beschäftigte, Millionen weitere sind indirekt von ihr abhängig. Die gesamte Infrastruktur Deutschlands ist auf den Autoverkehr abgestimmt. Auch der große Konkurrent, die Deutsche Bahn, wickelt immer mehr Dienstleistungen (Mietwagen, Gepäckservice) auf der Straße ab. Seit Anfang des Jahres sind sogenannte ­Gigaliner, übergroße LKW, auf deutschen Straßen zugelassen, ein deut­licheres Votum für die Straßen und gegen den Güterverkehr auf der Schiene kann es nicht geben. 15 Millionen Diesel-PKW verkehren auf deutschen Straßen, das ist ein Drittel aller zugelassenen PKW; die Mehrzahl der derzeit verkauften Autos von BMW, Daimler und VW sind Diesel. Die Zahlen, die die deutsche Autoindustrie in die Runde wirft, sind erdrückend.

Die Manager brüsten sich, deutsche Dieselmotoren seien in puncto Verbrauch und Langlebigkeit weltweit konkurrenzlos, allein das Abgasverhalten der Motoren kann mit dieser Effizienz nicht mithalten. Das ist die Formel ihres Erfolgs. Die Konkurrenz mache es nicht anders: Renault und Fiat-Chrysler bedienen sich der gleichen Techno­logie von Bosch, der im Skandal um manipulierte Abgaswerte die Schlüsselrolle zukommt. Um die beim Diesel ­anfallenden giftigen Stickoxide zu reduzieren, müssen Zusatzstoffe eingesetzt werden – die Harnstofflösung Adblue. Je mehr Adblue dem Abgasstrom zu­gesetzt wird, desto mehr werden die Schadstoffemissionen reduziert, desto größer muss aber auch der Adblue-Tank sein. Die Industrie befürchtet Einbußen der Motoreneffizienz und des Komforts bei gesteigertem Adblue-Einsatz. Man würde im Wettbewerb verlieren. Und überhaupt: Einen direkten Verstoß gegen Umweltauflagen hat man bislang nur bei der VW-Gruppe feststellen können, BMW und Daimler weisen darauf hin, dass ihre Autos auf dem Prüfstand bestanden haben. Dass die Prüfbedingungen unrealistisch sind und kaum etwas mit dem Straßenverkehr zu tun haben, dafür hat wiederum in den vergangenen Jahren die Bundesregierung gesorgt, die ihren Einfluss in der EU geltend machte.

Politische Entscheidungen werden Abgaswerten angepasst und nicht umgekehrt – das zeigt deutlich, wie sich die schiere Kapitalmacht der Unternehmen fast unmittelbar in politische Macht übersetzt. Hinzu kommt die personelle Verstrickung: In den vergangenen Jahren sind Spitzenpolitiker aus SPD und CDU – Matthias Wissmann, Thomas Steg, Eckart von Klaeden – in die Industrie gewechselt, umgekehrt leitet der bisherige Opel-Manager Joachim Koschnicke den derzeitigen Bundestagswahlkampf der CDU. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ließ von VW seine Regierungserklärung absegnen. Wirtschaftlicher Erfolg, politischer Einfluss und die Überlegenheit deutscher Motorentechnik bilden einen undurchdringlichen Komplex.

Kein Wunder, dass die Industrie dem »Dieselgipfel« gelassen entgegensah und nur zu geringen Zugeständnissen bereit ist. Das magere Ergebnis: Für 5,3 Millionen Autos bieten die Konzerne ein Software-Update an, das das Einspritzen von Adblue weniger stark begrenzen soll. Unter Testbedingungen dürfte der Stickoxidausstoß um 25 bis 30 Prozent sinken – ob das auch für die wirkliche Welt gilt, ist fraglich. Eine Nachrüstung der Autos mit größeren Adblue-Tanks oder den Einsatz von ­Filtertechnik lehnt die Industrie ab – zu teuer, zu unwägbar. Schon die neue Software könne sich negativ auf die Motoreneffizienz auswirken. Für ältere Diesel­modelle, und das ist die Mehrzahl auf den hiesigen Straßen, wird erst gar kein Update angeboten. Diese ­Modelle sind ab 2018 von Fahrverboten bedroht – oder, wie Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) fordert, von Strafsteuern anstelle von Fahrverboten; ein Weiterverkauf dürfte schon jetzt sehr schwierig sein, allerdings könnten Verluste durch staatliche Kaufprämien kompensiert werden.

Verbraucherschützer sprechen von einer verlorenen Kundengruppe. Man kann sich denken, wer in den älteren Dieselmodellen unterwegs ist: Leute, die darauf angewiesen sind, dass ihr Auto möglichst lange hält, die nicht das Geld haben, sich permanent am neuesten Markttrend zu orientieren, und die sich vor fünf oder zehn Jahren einen Diesel gekauft haben, weil damit das Versprechen von Langlebigkeit – also Sparsamkeit – verbunden war. Kurzum: Es sind die Autos der Arbeiterinnen und Arbeiter. Viele von ihnen dürften mit ihren Arbeitsplätzen direkt oder indirekt in die Automobilindustrie involviert sein. Als Arbeiter haben sie entscheidend dazu beigetragen, den Weltmarkterfolg der deutschen Autoindustrie zu erringen, und sind dafür in der Konkurrenz der Arbeiter durch bessere Löhne privilegiert worden. Um den Preis, dass sie als Kon­sumenten gleich mehrfach gestraft sind: durch drohende Fahrverbote, finanzielle Verluste und verschmutzte Atemluft.

Der wirtschaftliche Erfolg entpuppt sich als Kannibalisierung seiner gesellschaftlichen Voraussetzungen. Es ist eine Form des totalitären Kapitalismus: Die Autoindustrie stellt ihr Erfolgsmodell nicht nur als alternativlos dar, unter den derzeitigen Bedingungen ist es tatsächlich alternativlos. Welche ­Infrastruktur könnte denn die durch Fahrverbote blockierte Mobilität ­kompensieren? Die Bahn mit ihren maroden Trassen? Die störungsan­fälligen Nahverkehrsnetze in den Städten? Es existiert in Deutschland kein politisches Subjekt und keine gesellschaftliche Kraft, die zu einer konsequenten Konfrontation mit der Autoindustrie bereit wäre.

Der VW-Vorstandsvorsitzende Matthias Müller hat nach dem Gipfel einen Satz gesagt, der Kommentatoren erzürnt hat: »Ich möchte meine Ingenieure zukunftsorientiert arbeiten lassen und nicht rückwärtsgewandt.« Soll heißen: Wir haben kein Interesse an Nachrüstung. Wer jetzt noch ein älteres Dieselmodell fährt, ist selber schuld. Müller drückte arrogant aus, was ihm tatsächlich große Sorgen bereiten ­dürfte. Denn bei allen Gewinnen, die die hiesige Autoindustrie in den vergangenen fünf Jahren erzielte, bleibt sie doch eine Getriebene: Sie braucht die Milliarden kurzfristig, um ihre Aktionäre bei der Stange zu halten und die Börsen zu beruhigen. Sie braucht sie mittel- und langfristig, um in neue Technologien zu investieren. Denn der wahre Schock bestand für die Inge­nieure nicht in der Aufdeckung der Abgasmanipulation, sondern in der Ankündigung des US-amerikanischen Konzerns Tesla, ein modernes E-Auto zu konstruieren. Der deutsche Dieselmotor war zuletzt so erfolgreich, dass die Konzerne darüber den Anschluss an die Entwicklung anderer Technologien zu verpassen drohen. Zu guter Letzt frisst sich der Kapitalismus wieder einmal selbst.