Marco Rascón, mexikanischer Nachbarschafts­aktivist, über Nachbarschaftsorganisation und Superhelden nach dem Erdbeben in Mexiko-Stadt

»Es kann helfen, die Stadt auf kollektive Weise neu zu denken«

Interview Von Nils Brock

Marco Rascón ist ein mexikanischer Nachbarschaftsaktivist, besser bekannt als Schöpfer des Superhelden »Superbarrio Gómez«. In rot-gelbem Stretchanzug, mit Maske und Wampe repräsentierte der soziale Superheld 1985 die autonome Nachbarschaftsbewegung aus den »barrios«, den Vierteln Mexiko-Stadts, in ihrem Kampf um Mitsprache und eine soziale Stadt.

Auf den Tag genau 32 Jahre nach dem letzten großen Beben wurde Mexiko-Stadt am 19. September erneut von einem schweren Erdbeben erschüttert. Bereits kurz nach dem Beben haben Sie die Hoffnung geäußert, im Vergleich der Beben von 1985 und 2017 seien auch Lösungen für den anstehenden Wiederaufbau zu finden. Was waren die Unterschiede und Gemeinsamkeiten?
Vom Erdbeben 1985 waren vor allem Bewohner ärmerer Wohngegenden im Stadtzentrum betroffen, die meisten davon Großfamilien, die in vecindades lebten, in um einen gemeinsamen ­Innenhof gruppierten Reihenhäusern. Ihre sozioökonomische Situation ähnelte sich stark. Viele hatten gültige Mietverträge und Versicherungen. So konnten sie nicht so leicht aus ihren Vierteln verdrängt werden. Die Betroffenen von heute sind dagegen eher Wohnungseigentümer, die der Mittelklasse zuzurechnen sind, gebeutelt von wirtschaftlichen Krisen und der Korruption, die im Land extreme Ausmaße angenommen hat. Sie sind wenig organisiert, dafür sehr sensibel für Sicherheitsfragen und ziemlich enttäuscht vom politischen System.

Viele werfen der Regierung vor, versagt zu haben. Teilen Sie diese Kritik?
Die Reaktion der Stadtregierung ist schon ziemlich dürftig. Aber zumindest haben die Behörden diesmal die Leute nicht dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Vielmehr haben sie die Beteiligung der Jugendlichen und anderer Menschen bei der Suche nach Überlebenden in den Trümmern ebenso akzeptiert wie die Tatsache, dass in Eigenregie Versorgungszentren organisiert wurden. Am 26. September hat die Stadtregierung dann ein Sofortprogramm vorgestellt, jedoch ein völlig unzureichendes. Es geht fast nicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ein, sondern konzentriert sich auf wirtschaftliche Versprechen, Kredite für Banken und den Immobiliensektor. Derweil fragen sich viele, was genau mit den Grundstücken geschehen wird, auf denen Häuser eingestürzt sind oder strukturelle Schäden erlitten haben. Das sind ungefähr 5 000 Gebäude, darunter sind einige, die auf dem Papier erdbebensicher waren. Da scheint viel gepfuscht worden zu sein.

Gibt es dafür Beweise oder konkrete Anhaltspunkte?
Zumindest ist klar, dass die Natur die kleinste Verantwortung trägt. Vielmehr werden sich die Bauunternehmen erklären müssen. Auch dort, wo keine Häuser eingestürzt sind, sollten wir uns den Zustand der Häuser ansehen, vor allem auch, ob sie bewohnt sind. Im Zentrum von Mexiko-Stadt wurde in den vergangenen zehn Jahren viel mit Immobilien spekuliert. Es steht relativ viel Wohnraum leer. Jetzt nach dem Beben lohnt es zu diskutieren, wie wir mit dieser Situation umgehen. In Städten wie Vancouver müssen Eigentümer eine Sondersteuer zahlen, wenn sie Büroflächen oder Luxusapartments nicht vermieten.


Wen meinen Sie mit »wir«? Gibt es bereits wieder eine Bewegung organisierter Nachbarn? Vor kurzem haben Sie noch geschrieben, die Bevölkerung sei zurzeit weniger geeint als vor 30 Jahren.
1985 entstand eine Bewegung über die persönlichen Kontakte in der Nachbarschaft. Die räumliche Infrastruktur der barrios war entscheidend. Die Straße war ohnehin der Ort, an dem Fußball gespielt und geflirtet wurde. Es gab ein allgemeines Zugehörigkeitsgefühl in der Nachbarschaft. Derzeit dominieren in einem Mittelklasseviertel dagegen das Private und die Eigentumswohnungen. Jedem gehört ein individuelles Apartment. Jeder hat dafür einen anderen Kredit aufgenommen. Einige haben diesen bereits bezahlt, einige sind versichert, andere nicht. Einige haben untervermietet. Nun ist das einzige, was ihnen bleibt, der Boden, auf dem ihr Gebäude stand. Darüber, wie nun anteilig entschädigt werden soll, entbrennt gerade eine große Debatte.

»Die Erfahrungen von 1985 haben uns gelehrt, dass die Betroffenen am meisten erreichen, wenn sie gemeinsam Forderungen stellen und sich nicht darauf einlassen, jeder für sich als Eigentümer zu verhandeln.«

Worum geht es genau?
Ein Problem ist, dass die Versicherungsunternehmen bisher nur bereit sind, 80 Prozent der Wohnungswerte zu ersetzen. Sie kalkulieren dabei mit Preisen vor dem Immobilienboom. Das heißt, dass alle, die später Wohnungen auf Kredit gekauft haben, nun Entschädigungen erhalten werden, die niedriger sind als ihre Schulden. Die Erfahrungen von 1985 haben uns gelehrt, dass die Betroffenen am meisten erreichen, wenn sie gemeinsam Forderungen stellen, und sich nicht darauf einlassen, jeder für sich als Eigentümer zu verhandeln. Doch ich habe in Roma, meinem Viertel, bisher noch kein Gebäude gefunden, in dem sich die Betroffenen als Plenum organisiert hätten, um eine kollektive Strategie zu entwickeln. Die Stadtregierung begünstigt diese Vereinzelung. Sie hat provisorische Büros aufgemacht, wo die Menschen ausschließlich individuell in Versicherungsfragen beraten werden. Jeder Fall sei verschieden, hämmern sie den Menschen ein. Auch deshalb gibt es bisher so wenig Kontakt und Organisation unter den Anwohnern.

Ihre Analyse der Mittelklassennachbarschaft widerspricht den Bildern und Erzählungen einer großen Solidarität auf der Straße, von der auch in Deutschland zu hören ist.
Ja, da muss man unterscheiden. Die allgemeine Mobilisierung ist schon gewaltig. Vieles ist spontan, aber gerade die Jüngeren sind auch gut organisiert. Sie knüpfen an kollektive Prozesse an, die lange vor dem Erdbeben in den vergangenen acht bis zehn Jahren entstanden sind. Direkt vor meinem Haus gibt es einen großen Gemeinschaftsgarten. Der funktionierte bereits als selbstorganisierte Sammelstelle für die Erdbebenopfer vom 7. September in Oaxaca. Nun wird auch für Menschen in Mexiko-Stadt gesammelt. In den vergangenen Wochen haben sich hier mehr als 40 000 Freiwillige registriert. Die schwärmen auch mit Fahrrädern aus, um die Hilfsgüter zu verteilen. Das gab es 1985 nicht, das Fahrrad wurde in den vergangenen Tagen zum zentralen Instrument. Medizin, Kleidung und Essen – all das verteilen die Freiwilligen damit. Sie sind die Protagonisten bei der Reorganisation der Stadt.

Was hat Sie am meisten überrascht in den vergangenen Tagen?
Dass sich auch Menschen engagieren, die als extreme Individualisten auftreten. Aber wer kapiert schon, wie die Hipster ticken. Klar, einige haben sich nach dem Erdbeben völlig eingeigelt, andere beteiligen sich an Aktionen. Das ist schon ein spannender Prozess. Auch das politische Sektierertum bestimmter anarchistischer und femi­nistischer Gruppen ist wie weggeblasen. Das ist auf Demonstrationen sonst ein echter Krampf.
1985 haben die Nachbarschaftskollektive und Stadtteilbewegungen sich in großer Distanz zu den Parteien und vor allem der faktischen Einheitspartei PRI organisiert. Inzwischen gibt es eine größere Vielfalt an Parteien. Sehen Sie potentielle Verbündete?
Der beste Weg ist auch heute noch eine autonome und unabhängige gesellschaftliche Organisation, um sich nicht von der Regierung oder von Parteien vereinnahmen zu lassen. Die Linke (die Partei PRD beziehungsweise linke Bündnisse mit ihr, Anm. d. Red.) regiert seit 20 Jahren die Hauptstadt. Ihren Aufstieg hat sie ursächlich den urbanen sozialen Bewegungen zu verdanken, vor allem denen aus den barrios. Aber die institutionelle Linke hat sich intern zerstritten und komplett institutionalisiert. Sie hat keinen Kontakt zur Basis mehr und auch deshalb Mühe, die derzeitigen Mobilisierungen zu verstehen.

Und Ihr Superheld »Superbarrio Gómez«? Hat der einen Draht zu den neuen, jungen Protagonisten gefunden? Mit seinen autonomen Ideen dürfte er doch einen besseren Stand haben.
Da könnte schon ein Funke überspringen. Ich war zu einigen Treffen eingeladen, um von meinen Erfahrungen von 1985 zu erzählen. Viele kannten Superbarrio überhaupt nicht, aber sie haben schnell verstanden, was damals seine Funktion im kollektiven Prozess war. Er war ja kein Clown, vielmehr repräsentierte seine Maske alle Betroffenen und ihre gemeinsame Kraft, ihre Vorschläge. Er brachte eine Portion Humor mit und die kulturellen Werte des barrios.

Gibt es diese gemeinsamen Werte noch?
Die Organisationen und Gruppen, die in der Stadt aktiv sind, suchen nach ­ihrer eigenen Identität und Organisationsform. Ich hoffe, dass sie es schaffen, dabei auch alternative Eigentumsformen zu diskutieren und die Stadt auf kollektive Weise neu zu denken. Dieses Erdbeben kann dabei wirklich helfen.

Ihr persönlicher Vorschlag ist, alle beschädigten Gebäude in der Stadt zu enteignen und für die Schaffung öffentlichen Eigentums zu nutzen. Klingt gut und auch irgendwie bekannt.
Es geht sicher nicht darum, das politische Programm von 1985 noch einmal abzuspulen. Aber der Ansatz ist nach wie vor aktuell. Klar ist auch, dass wir damit auf Widerstand bei der Stadtregierung stoßen werden. Miguel Ángel Mancera, der Oberbürgermeister von Mexiko-Stadt, hat bisher nicht vor, die Bevölkerung beim Wiederaufbau der Stadt mitreden zu lassen. Seine Politik ist so vertikal wie die des PRI vor drei Jahrzehnten. Beteiligung ist für ihn nur als philanthropisches Fernsehprogramm denkbar, so eine Art Spendenmarathon am Telefon. Das ist kein partizipativer politischer Ansatz.

In Deutschland kursiert derzeit der Aufruf, internationale Spenden über mexikanische NGOs wie Habitat International Coalition (HIC) laufen zu lassen, die sich für einen selbstbestimmten Wiederaufbau verbürgen.
Super, das ist genau, was wir brauchen. Nicht nur Geld, auch Ideen. Da müssen neue Netzwerke entstehen. Hier im Gemeinschaftsgarten engagieren sich zum Beispiel Studierende und soziale Organisationen für eine nachhaltige Landwirtschaft und Bauweise in der Stadt. In Mexiko gibt es nach wie vor einen Zementfetisch und gerade ­Städter meiden alternative Baumittel wie Bambus, aus Angst, am Ende als ­Indios abgetan zu werden. Höchste Zeit, unser urbanes Universum zu erweitern. Da kann internationale Unterstützung nicht schaden.

Was wird Ihr weiterer Beitrag für ein positives politisches Nachbeben sein?
Ich persönlich werde mich bei der Gouverneurswahl in Mexiko-Stadt im kommenden Jahr als unabhängiger Kandidat bewerben. Das war schon vor dem Erdbeben mein Plan, aber jetzt erst recht. Und was Superbarrio angeht, klar, der Umhang liegt bereit. Aber er ist ein Veteran, der nicht den Jungen die Welt erklären sollte. Die werden ihren eigenen Weg finden. Die alte Superheldenschule muss sensibel sein, was neue Protestformen und Führungsstile angeht. Aber Masken, Ironie und Performance haben auch weiterhin ein großes politisches Potential. Superbarrio würde sich gern einer Legion neuer Superhelden anschließen.