Die Renaissance des Jiddischen in Israel

Jiddisch für Einsteiger

Die Sprache der aschkenasischen Juden wird in Israel kaum mehr gesprochen. Die in Tel Aviv ansässige Initiative Yung Yidish versucht, ihr neues Leben einzuhauchen.

Sara Bruck aus Ciechanów lebt in einem Altenheim in Ramat Gan im Bezirk Tel Aviv. Als sie Kind war, saßen am Pessachfest zwei Dutzend Leute am Sedertisch ihres Elternhauses. Die Haggadah wurde auf Hebräisch gelesen, ansonsten wurde bei Tisch, wie auch sonst in ihrer Familie, jiddisch gesprochen. Saras Erinnerungen an die vielen Weisheiten ihres Vaters, seine liebevollen Ansprachen an die Kinder und all seine Witze verbinden sich mit ihrer Muttersprache Jiddisch. Ihr Vater las die Zeitung Die letzte Neies.
Fruma Weitz stammt aus Vilnius. Beeindruckende Keramiken, die sie geschaffen hat, erzählen von der untergegangenen ostjüdischen Welt, aus der sie stammt. Fruma ist in einer jiddisch sprechenden Familie aufgewachsen. Ihr Vater las die Tageszeitung Vilner Tog. Sie selbst las Gedichte von Avrom Sutzkever, der wenige Jahre älter als sie war und auch in Vilnius lebte. Wenn Frumas Sohn zu Besuch ins Altersheim kommt, sprechen sie jiddisch. Über die Gesundheit, das Essen im Heim und über die Enkel und Urenkel. Es sind die letzten jiddischen Unterhaltungen, die im Heim geführt werden.

Hanna Gershuni, die Archivleiterin des Yiddishpiel Theaters, die selbst aus einer jiddisch sprechenden Familie stammt, ist sehr pessimistisch, was die Zukunft der Sprache ihrer Eltern angeht. Das Theater Yiddishpiel wurde 1987 gegründet, um die reiche Welt der jiddischen Literatur, Poesie, Lieder und Theaterstücke zu bewahren. Mit der russischen Einwanderung in den neunziger Jahren kamen viele Menschen nach Israel, die jiddisch sprachen.

Kleine Gruppen von Schauspielern des Yiddishspiels besuchten alte Leute und spielten vor Holocaustüberlebenden. Heutzutage sei die Situation ein bisschen anders, sagt Gershuni. Die jiddisch sprechenden Menschen würden weniger. Und ein paar »Meshigenes«, wie sie sagt, die gerade Jiddisch für sich entdecken, bedeuteten noch kein Revival. Eine Wiederbelebung als Muttersprache, ähnlich dem Hebräischen vor einem Jahrhundert, kann sie nicht erkennen.
Als sich Eliezer Ben Yehuda an die Erneuerung der hebräischen Sprache machte, war Jiddisch die lingua franca für die Mehrheit der europäischen Juden. Es war die gemeinsame Sprache und Kultur, die die jüdischen Gemeinden zusammenhielt. Jiddisch ist ein Amalgam aus Deutsch, Hebräisch und Aramäisch und wird in hebräischen Buchstaben geschrieben. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Sprache von ungefähr 12 Millionen Menschen gesprochen. Es schien unvorstellbar, dass die mächtige jiddische Kultur einmal ausgelöscht werden könnte.
In Palästina wurde Jiddisch von den zionistischen Pionieren als Ghettosprache abgelehnt. Sie duldeten keine jüdische Kultur neben der modernen hebräischen. Es gab Angriffe auf Zeitungskioske, die jiddische Blätter verkauften, und auf Personengruppen, die sich auf Jiddisch unterhielten. Im September 1920 bewarfen die »Verteidiger der hebräischen Sprache« bei der Vorführung von »Mayne Yiddishe Mame« die Leinwand des Mograbi-Kinos mit Unrat.

Später wurde die Sprache mit dem Holocaust assoziiert. Obwohl Jiddisch über Hunderte Jahre hinweg eine äußerst lebendige Sprache gewesen war, wurde es zur Zeit der Staatsgründung als morbide empfunden.
Mendy Cahan ist der Vorsitzende des Vereins Yung Yidish, eines jiddischen Büchermuseums in Tel Aviv. Er gilt als der charismatische Fürstreiter der Wiederbelebung der jiddischen Sprache und Kultur. Obwohl er verstehe, warum die Pioniere das Hebräische idealisierten, meint er doch, dass es ein Fehler gewesen sei, Israel nicht als Heimstätte verschiedener Sprachen zu akzeptieren. Die Durchsetzung des Hebräischen als offizielle Sprache hätte nicht zu Lasten von Minderheitensprachen gehen müssen. Vielmehr hätte Hebräisch ein Dach sein können, unter dem die verschiedenen jüdischen Sprachen hätten lebendig bleiben können. Jiddisch ist nach Cahans Ansicht die Sprache einer reichen Zivilisation, deren Entwicklung in mancher Hinsicht anders war als die Entwicklung des christlichen Europa. Und es ist ihm äußerst wichtig zu betonen, dass es diese jiddische Welt gewesen ist, in der das Hebräische über die Jahrhunderte hinweg weitergetragen wurde.
Seit 2006 befindet sich das Yung-Yidish-Büchermuseum im siebenstöckigen Busbahnhof von Tel Aviv. Rund um das Betonungetüm blühen der Drogenhandel, die Prostitution und das Glücksspiel. Heruntergekommen wäre noch ein schmeichelhafter Ausdruck für die Bausünde. In einem toten Winkel im 5. Stock versteckt sich im Laden Nr. 5 008 eine heimelige ostjüdische Welt. Hier findet man mehr als 50 000 jiddische Bücher. Klassiker von Shalom Aleichem und Jizchok Leib Perez stehen neben weniger bekannten jiddischen Schriftstellern. Dazu gibt es Fachbücher über verschiedene naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Disziplinen und Abhandlungen zu Themen, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in Mode waren. Wer jiddische Texte zum Anarchismus sucht, humoristische Sammlungen oder Kinderbücher, ist hier richtig. Alle Werke sind stilsicher auf freistehenden Regalen arrangiert. Neben Büchern beinhaltet die Sammlung auch vergilbte Magazine und Zeitungen. Das Yung Yidish ist mehr als nur ein Museum. Mit einer Bühne und einem Veranstaltungsprogramm ist es ein kulturelles Zentrum. Auf der Bühne ist eine Bücherwand errichtet. Davor stehen Stühle, die mit den Namen der großen jiddischen Autoren beschriftet sind: Mendele Moicher Sforim, Shalom Aleichem und J. L. Perez.

Das Yung Yidish ist eine liebevolle Inszenierung der jiddischen Welt. Cahan möchte mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln einen vergessenen Kulturschatz zugänglich machen. Seinem Anliegen kommt entgegen, dass sich Tel Aviv von der modernen hebräischen Stadt zu einer multikulturellen Stadt wandelt.
Im Yung Yidish finden Kabarettabende, Lesungen, Musik- und Theatervorführungen statt. Cahan singt Lieder von Itzik Manger, J. L. Perez, Mordechai Gebirtig und Jacques Brel mit Klavierbegleitung von David Serebrianik. Folklore in warmer Atmosphäre bei Kerzenlicht.
Cahan wurde 1963 in Antwerpen als Jüngster von drei Brüdern in einer jiddisch sprechende Familie geboren. Sein Vater las die Zeitung Unzer Wort. Das Jiddische war für ihn eine Alltagssprache, kein Kuriosum. Für sein Selbstverständnis war das Jiddische im Gegensatz zum Jüdischsein nicht relevant.

Cahan ging in den achtziger Jahren nach Israel und besuchte zunächst eine Talmud-Hochschule (Yeshiva), bevor er an der Hebräischen Universität französische, deutsche und vergleichende Literaturwissenschaften sowie Philosophie und Politikwissenschaft studierte. Schließlich landete er über das Studium der Philosophie wieder beim Talmud. Im Rahmen seines Studiums der Literaturwissenschaften begann er, sich mit jiddischer Literatur zu beschäftigen. Als er Texte aus Zeitungen um 1880 las, fand er einen neuen Zugang zu seiner Muttersprache und der Kultur der Chassidim.

Er sei überrascht gewesen, wie marginalisiert Jiddisch in Israel war. Er habe die Sprache nur in Lesezirkel angetroffen. 1990 habe er begonnen, Bücher auf Märkten und am Straßenrand zu sammeln. Viele Bücher sollten einfach nur entsorgt werden.
Zunächst lagerte er die Bücher in einem Gebäude im Industriegebiet von Jerusalem. 1993 gründete er einen Verein und nannte ihn Yung Yidish. 2004 eröffnete er eine Bücherei in Tel Aviv.

Viele Bücher stammen aus dem Besitz berühmter Schriftsteller wie Avrom Karpinovitch, Lenny Prager und Dov Sadan. Er lernte großartige Persönlichkeiten wie den Literaten und Partisanen Sutzkever und den Bruder des Habima-Gründers Zemach kennen.
Im Yung Yidish ist Cahan im Kontakt mit vielen junge Menschen, die die besondere Atmosphäre des Ortes mögen. Es kommen Künstler, um sich mit ihm auszutauschen. Cahan trinkt Tee und raucht Camel-Zigaretten zwischen all den Bücherregalen. Manche Besucher kommen mit einem wissenschaftlichen Interesse oder aus Liebe zur ostjüdischen Kultur. Andere Besucher sind auf der Suche nach der verlorengegangenen Welt ihrer Großeltern und Urgroßeltern, die sie nicht selten in ihrer Kindheit und Jugend abgelehnt haben. »Junge Menschen wollen verstehen, wo sie herkommen«, sagt Cahan. Als die Enkelin des berühmten Arbeiterführers Ber Borochov im Yung Yidish war, erfuhr sie von Cahan, dass ihr Vorfahre auch Philologe gewesen war und sich um die jiddische Sprache verdient gemacht hatte.
Die konstituierende Sitzung des Betriebsrats einer Baufirma fand im Yung Yidish statt. Russisch- und arabischsprachige Kranführer riefen erregt durcheinander. Cahan erzählt, dass Jiddisch in vielen Ländern eng mit den Arbeiterbewegungen verknüpft gewesen sei. Viele Bücher und Zeitungen seiner Sammlung zeugen vom jüdischen Arbeitskampf. Im Yung Yidish treffen sich russische Immigranten, Anarchisten, Religiöse und Ultraorthodoxe. Es ist ein Ort der kulturellen Vielfalt im jüdischen Staat, der jedoch kaum öffentliche Unterstützung erhält und auf ehrenamtliches Engagement und Spenden angewiesen ist.

Cahan bereitet zudem israelische Schulklassen auf ihre Besuche von Gedenkstätten vor und vermittelt den Schülern ein Gefühl für das kulturelle Leben, das zerstört wurde. Er arbeitete als Übersetzer für den Holocaust-Film »Son of Shaul« und schulte die Schauspieler im Jiddischen. Es war die Sprache der Juden im Vernichtungslager Auschwitz. Die Todesschreie wurden auf Jiddisch ausgestoßen. An einem Film über den Holocaust mitzuarbeiten, sei für ihn eine schwierige Erfahrung gewesen, da er Jiddisch als Sprache für die Gegenwart ansieht.
Das Yung Yidish ist nicht der einzige Ort in Tel Aviv, an dem Jiddisch wiederbelebt wird. Im Shalom Aleichem Center haben die Anmeldungen für Jiddischkurse in den vergangenen Jahren zugenommen. Gevolt, eine Heavy-Metal-Band, singt Partisanenlieder wie »Zog nit keijnmal« des Dichters Hirsch Glik. Ein Stück des Theaters Yiddishspiel über den Komponisten Mordechai Gebirtig, der die Partisanenhymne »Unzer Shtetl brennt« geschrieben hat, wird mit einigem Erfolg an Schulen aufgeführt.
Hanna Gershuni bereut es, dass sie die Kultur ihrer jiddisch sprechenden Eltern früher abgelehnt hat, und freut sich über die wachsende Akzeptanz des Jiddischen als Minderheitensprache. Die Anliegen des radikalen Jiddisch-Aktivisten Daniel Galay teilt sie jedoch nicht. Dieser ist ein stattlicher älterer Herr, der bis Ende der achtziger Jahre als Journalist für Die letze Neies, die damals größte jiddische Zeitung in Israel, tätig war. Er gründete 1989 den Lesekreis »Hemshekh Dor – Libhobers Fun Yidish«. Auf Betreiben des Lesezirkels wurde 1996 die nationale Behörde für jiddische Kultur gegründet.

Galay bewahrt in einem mit Büchern vollgestellten Besprechungszimmer des jiddischen Kulturzentrums Leyvik Hoyz in Tel Aviv einen ganzen Stapel von Protokollen auf, die die Anstrengungen dokumentieren, mit denen die Gruppe für ein Gesetz zur Förderung des Jiddischen geworben hat. Die Protokolle sind auf jiddisch geschrieben.
Galay ist auch Komponist und Pianist, Dozent und Intellektueller. Er komponierte Musik zu jiddischen Märchen, zu Gedichten von Perez Markish, Avrom Sutzkever und Uri Tzvi Grinberg und Kammeropern zu seinen eigenen Libretti. Er wurde 2009 mit dem Kompositionspreis des Ministerpräsidenten ausgezeichnet. Seine Musik spiegelt seine Verbundenheit mit dem kulturellen Erbe des osteuropäischen Judentums. Galay hat zudem jiddische Gedichtbände und Theaterstücke veröffentlicht und schreibt regelmäßig Kolumnen für die jiddische Zeitung Forwerts.

Alle zwei Wochen findet im Leyvik Hoyz ein Gesprächskreis statt. Am Jahrestag des Beginns des Aufstands im Warschauer Ghetto wurde der Zeugenbericht eines Überlebenden gelesen. Es ist schwer zu bestreiten, dass die jiddische Sprache ein Schlüssel zur Geschichte ist

Galay wurde 1945 in Argentinien geboren. Sein Vater las die jiddische Zeitung Di Presse. Daniel war Zionist und ging 1965 in einen israelischen Kibbuz. Mit dem Eintritt in die Kollektivsiedlung, so erzählt er, musste er seine Vergangenheit ablegen. Als er Ende der siebziger Jahre in die USA ging, verlor er das Interesse an der sozialistisch-zionistischen Ideologie und besann sich auf die jiddische Kultur.
Den Säkularen in Israel fehle es an Identifikation und einem Wertesystem, sagt Galay. Die Strenggläubigen hätten die Religion und die Nationalreligiösen das Siedlungswerk als Identität stiftende Anliegen. Wenn die Säkularen stark sein wollten, so Galay, müssten sie sich mit ihrem kulturellen Erbe beschäftigen. Er plädiert dafür, dies durch Folklore, Musik und Literatur zu vermitteln. In den neunziger Jahren wurden Natan Sharansky und Juli Edelstein von der neu gegründeten Einwandererpartei auf Galay und dessen Engagement für die jiddische Sprache aufmerksam. Galay kam auf die Wahlliste für die Knesset. 2001 wurde er zum Vorsitzenden des Verbands der jiddischen Schriftsteller und Journalisten gewählt.

Seit 1970 befindet sich dieser Verband im eigens dafür errichteten Leyvik Hoyz, dem führenden Zentrum für die jiddische Sprache und Kultur in Israel. Zu seiner Einweihung kamen Ministerpräsidentin Golda Meir und der Poet und Partisan Avrom Sutzkever.
Der H. Leivik Ferlag im selben Gebäude publiziert jiddische und zweisprachige Bücher. Mehr als 100 Bücher sind bereits in dem Verlag erschienen.

Galays Ziel ist es, die jiddische Kultur aus ihrem Schattendasein zu holen. Etwas Jiddisch zu lesen, sei nicht genug. Der Reichtum der Sprache und ihr Klang würden sich so nicht erschließen. Alle zwei Wochen findet im Leyvik Hoyz ein Gesprächskreis statt. Am Jahrestag des Beginns des Aufstands im Warschauer Ghetto wurde der Zeugenbericht eines Überlebenden gelesen. Es ist schwer zu bestreiten, dass die jiddische Sprache ein Schlüssel zur Geschichte ist.