Französische Filmwoche im Berliner Kino Arsenal

Ziemlich beste Filme

Das Berliner Kino Arsenal zeigt in seiner französischen Filmwoche fünf zeitgenössische Produktionen, die nicht in die deutschen Kinos kamen.

Die Eigenschaft »anpassungsfähig«, die Paula in Léonor Serrailles »Jeune femme« (2017) für sich in Anspruch nimmt, möchte man der jungen Frau auf den ersten Blick eher absprechen. Bei dem Versuch, sich mit dem Kopf durch die Wand (genauer: die Tür) Zutritt zu der verschlossenen Wohnung ihres ehemaligen Freunds zu verschaffen, zieht sie sich gleich in der ersten Szene eine Platzwunde zu. Und erklärt dem Arzt kurz darauf ohne Punkt und Komma, was alles falsch läuft mit Paris, Frankreich, dem Leben, ihrer Rolle als Muse und der neu gewonnenen Freiheit – wobei sie den Satz »Freiheit ist was für egoistische Arschlöcher« unterstreicht, ­indem sie ein an der Wand hängendes Wasserfallleuchtbild einschlägt. Nach dieser hochbeschleunigten ­Darbietung an wilden Gesten, Wut und Bockigkeit beweist Paula (Lae­titia Dotsch) dann dann aber doch eine ziemlich originelle Auffassung von Anpassungsfähigkeit. Sie lässt den ziegelsteinroten Mantel ihrer Zimmernachbarin mitgehen, frisiert sich die langen Haare über die Stirn­wunde (»Amy Winehouse!«) und bricht mit der dem Ex entführten weißen Perserkatze in ein ungewisses Leben auf – ohne Geld, Wohnung, Freunde und Familie.

Was der Ausgangspunkt für ein Borderline-Drama sein könnte, entwickelt sich bei Serraille zu dem ­Porträt einer »jungen Frau«, die mit erstaunlich flexiblen Manövern wieder Boden unter den Füßen gewinnt. Nicht nur schafft sie es, ohne Referenzen bei einer vielbeschäf­tigten Mutter eine Anstellung als Kindermädchen und Haushaltshilfe zu bekommen (plus Dachzimmer); auch ihre alles andere als geschmeidige Bewerbung als Dessousverkäuferin hat Erfolg. Eine so unberechenbare, sprunghafte Frauenfigur hat das französische Kino lange nicht gesehen: Paula, leuchtendes rotes Haar, ein blaues und ein braunes Auge, ist mal schön, mal ein bisschen hässlich, außerdem abwechselnd mondän und trampelig, ernsthaft und ulkig, autark und fragil. Manchmal ist sie auch alles gleichzeitig.

»Jeune femme«, ein Film, der von einem überwiegend weiblichen Team realisiert und in Cannes mit der Caméra d’Or für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, ist in der ­französischen Filmwoche im Berliner Kino Arsenal zu sehen. Unter dem ­Titel »Neues französisches Kino« werden fünf Arbeiten von Regisseurinnen aus den Jahren 2013 bis 2017 gezeigt, die in Deutschland keinen ­Verleih fanden. Dass die Filme von Léonor Serraille, Pascale Breton, Claire Simon, Rebecca Zlotowski und Valérie Massadian allesamt toll sind, zeigt einmal mehr, wie traurig und beschränkt der Ausschnitt des französischen Kinos ist, den man hier­zulande überwiegend zu sehen bekommt: meist politisch unterbe­lichtete Culture-Clash-Komödien, trutschige Künstlerbiopics und die ­unvermeidlichen Madame & Monsieur-Filme. Was die vom Arsenal ausgewählten Arbeiten bei allen ästhetischen und erzählerischen Unterschieden eint, ist ihr formaler Eigensinn und das Interesse an Figuren, die sich durch thematische Formatierungen nicht einhegen lassen. Nur so kann etwa der schwarze Sicherheitswachmann Ousmane in »Jeune femme« nichts mehr und nichts ­weniger als Arbeitskollege und love interest sein – im Unterschied zum migrantischen Objekt des Thesenfilms, an dem gesellschaftliche ­Fragen exemplifiziert werden müssen.

Rebecca Zlotowski verbindet in »Grand Central« (2013) den Gefahrenraum eines Reaktors mit den riskanten Dynamiken des Begehrens. Als der Hilfsarbeiter Gary (Tahar Rahim) eine Anstellung in einem Atomkraftwerk bekommt, überwältigt ihn die Verlobte eines Kollegen (Léa Seydoux) zum Einstand mit einem ­»öffentlichen« Kuss auf den Mund, der ihn schwindeln lässt: »Da hast du alles: die Angst, die Unruhe, die verhangene Sicht, das Drehen im Kopf, die zitternden Beine. Das ist die Dosis.« Der immateriellen Qualität dieser »Dosis« begegnet Zlotowski mit einem virilen, überformten Kino, ­dabei nimmt sie Anleihen beim Thriller, Actionfilm und Film Noir. »Grand Central« hat einen genauen Blick für die Arbeit wie auch für die gemeinschaftlichen Rituale der Werktätigen – die verschiedenen Abläufe und Stationen im nuklearen Kontrollbereich, die zu passierenden Schranken, der Eintritt ins bläulich schimmernde Innere des Reaktors, das ­­An- und Auskleiden, Duschen und so weiter werden geradezu dokumen­tarisch protokolliert. Doch Zlotowski interessiert sich bei all dem vor allem für den Körper: seine magnetischen Triebkräfte, seine Potenz und Schwäche, seine nicht zu greifende Kontaminierung.

Einem eher lyrischen Naturalismus verpflichtet ist Valérie Massadians mit Laiendarstellern inszenierter Film »Milla« (2017). In einer verarmten Hafenstadt am Ärmelkanal richtet sich ein Teenagerpaar in einem leerstehenden Haus ein spärliches, aber gut organisiertes Quartier ein. Die Form des Films ist offen, beobachtend, die Regisseurin verzichtet auf dramaturgische Zuspitzungen und Ausformulierungen. Irgendwann ist die schwangere Milla (Séverine Jonckeere) alleine, der Freund ist ge­storben und die junge Frau ist auf sich gestellt. Auch wenn die Präsenz des abwesenden Freunds bis zuletzt nachhallt, erzählt Massadian diese Geschichte nicht als Verlustdrama. Überhaupt ist dem Film das Drama fremd. »Milla« zählt eher zu jenen Werken, die einladen, mit der Figur etwas Zeit zu teilen und ihr bei sehr einfachen Dingen zuzuschauen – etwa, wie sie in ihrem Hoteljob ungeschickt Kleider zusammenfaltet oder ihrem Kind zu essen gibt.

Auch »Le bois dont les rêves sont faits«, dem einzigen Dokumentarfilm in der Reihe, ist eine unaufgeregte Form der Beobachtung eigen. Die Filmemacherin Claire Simon, die im Film mit ihrer rauchigen Off-Stimme präsent ist, blickt auf das Treiben jener Menschen im Bois de Vincennes, die sich eher an den Rändern des Parkgeschehens bewegen: Obdachlose, Prostituierte, Cruiser, ein Voyeur, ein ehemaliger Soldat, Exilkambodschaner, die sich im Pariser Stadtwald an ihre Heimat erinnert fühlen.

Simons flaneurhafte Beobachtung findet ein Echo in den fluiden Erzählbewegungen von Pascale Bretons »Suite armoricaine« (2015). Hauptschauplatz des Films ist eine Universität in Rennes, an die die Kunst­historikerin Françoise (Valérie Dréville) zurückkehrt – sie hat dort vor vielen Jahren studiert. Gleich der Hauptfigur, die die Fäden zu ihrer Vergangenheit wieder aufzunehmen beginnt, sich erinnert, Leute aus der lokalen Punkszene wiedertrifft, macht sich der Film durchlässig für verschiedene Zeitebenen, Begegnungen, gesellschaftliche Milieus – und für sehr unterschiedliches Material. Archivbilder, Malerei von Poussin und Böcklin, Klassik und Punkrock fließen in den traumwandlerischen Film ein, ohne dass sich das eine am anderen stieße. Schön ist, wie durch­lässig und unakademisch Breton auch die Universität begreift. Nicht als eine lebensferne Institution, sondern als ein Ort, an dem alles in Bewegung ist: das Wissen, die Kunst, die Freundschaften, die Liebesverhältnisse.

Auch Vincennes, Schauplatz von  »Le bois dont les rêves sont faits«, besaß einst eine eigene Universität, 1968 wurde sie als experimentelles Hochschulzentrum errichtet. Viele französische Intellektuelle der Zeit lehrten dort (darunter Gilles Deleuze, Michel Foucault, Roland Barthes und Hélène Cixous), bevor zwölf Jahre später die Eingliederung der Fakultät in die Universität Saint-Denis erzwungen wurde. In »Le bois dont les rêves sont faits« stapft Émelie Deleuze etwas ratlos durch den Landschaftspark, weil an diesem Ort nichts mehr an die Uni erinnert, an der ihr berühmter Vater einst lehrte. Die Regisseurin Simon fragt dabei: »Gehört eine Utopie in den Wald?«


Die Reihe »Neues französisches Kino« läuft im Berliner Kino Arsenal vom 1. Dezember bis zum 6. Dezember.