Der Neuanfang des brasilianischen Fußballerstligisten Chapecoense

Mission erfüllt

Dem brasilianischen Fußballerstligisten Chapecoense gelingt der Klassenerhalt. Vor einem Jahr war ein großer Teil der Spieler und der Vereinsführung bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

Die große Befürchtung der Spieler des brasilianischen Fußballerstligisten Chapecoense in dieser Saison war, die Erinnerung an die Verstorbenen nicht ausreichend zu ehren. Doch diese Sorge haben sie aus dem Weg ­geräumt.

Fast auf den Tag genau ein Jahr nach einer der größten Tragödien der jüngeren Sportgeschichte vollbrachte das Team aus Chapecó das kaum für möglich Gehaltene: Mit einem 2:1 (1:1)-Sieg gegen EC Vitória aus Salvador de Bahia vor eigenem Publikum besiegelte Chapecoense drei Spiel­tage vor Abschluss der Meisterschaft den Klassenerhalt.

Mittlerweile trainiert der 25jährige Ersatztorhüter Jackson Follman, dem nach dem Unfall ein Bein amputiert werden musste, wieder, mit einer Beinprothese und dem Ziel, es in die brasilianische Paralympics-Auswahl zu schaffen.

»Mission erfüllt«, jubelte der Schütze des Siegtors Túlio de Melo und widmete den Verbleib in der ersten Liga umgehend »den Familienangehörigen derjenigen, die von uns gegangen sind«. Bei nur wenigen Zählern Rückstand auf die Copa-Libertadores-Plätze darf »Chape«, wie das Team aus dem Bundesstaat Santa Catarina auch genannt wird, auf der Zielgeraden sogar noch vom großen internationalen Geschäft träumen.

Angesichts der Ausgangslage mutet dies unglaublich an. Vor einem Jahr, am 28. November 2016, war auf dem Weg zum Finalhinspiel um die Copa Sudamericana, dem südamerikanischen Pendant zur Uefa Europa League, die Chartermaschine mit der Mannschaft von Chapecoense an Bord beim Landeanflug auf Medellín an einem Berg zerschellt. Bei dem Absturz kamen 71 von 77 Passagieren ums Leben, darunter 19 Spieler, der Präsident des Clubs, Sandro Pallaoro, der Trainer Caio Junior sowie wei­tere Mitglieder der Clubführung und des Betreuerstabes.

»Wir haben versprochen, die Mannschaft in der Serie A zu halten, dort wo unsere Krieger sie hinterlassen hatten«, sagte De Melo nach dem ­Erfolg gegen Vitoria. »Wir hatten ein schwieriges Jahr und die Erinnerung daran hat uns bis zum Schluss kämpfen lassen, damit Chape das fünfte Jahr in Folge in der obersten Spielklasse verbleibt.«

Chapecoense hatte im Januar den Neuanfang mit Trainer Vágner Mancini begonnen, einem erfahrenen Coach, der in der Vergangenheit namhafte Clubs wie den FC Santos, Cruzeiro, Botafogo oder Vasco da Gama trainiert hatte. Nach einer Nieder­lagenserie trennte sich der Verein im Juli aber von dem 51jährigen. Unter dem erst seit Oktober amtierenden Trainer Gilson Kleina, dem bereits dritten Coach in diesem Jahr, gab es zuletzt sieben Spiele ohne Nieder­lage, darunter vier Siege. Beim letzten gegen Vitoria saß kurioserweise eben jener Vágner Mancini auf der gegnerischen Trainerbank. Dort ­vergoss er Tränen der Rührung, als die Fans in der Arena Conda in Er­innerung an die 71 Todesopfer in der 71. Minute das schon traditionell ­gewordene »Vamos, vamos Chape« skandierten.

Nach der Flugzeugtragödie hatte der Fortbestand des Clubs auf dem Spiel gestanden. Es musste praktisch ein ganzes Team von Grund auf neu aufgebaut werden. Darüber hinaus hatte der Club zahlreiche langjährige Mitarbeiter verloren.

Brasiliens Fußballverband CBF bot an, Chapecoense drei Jahre vom sportlichen Abstieg auszunehmen. Damit sollte dem kleinen Verein mit gerade einmal 5 000 Mitgliedern und einem Jahresbudget von umgerechnet gut zehn Millionen Euro die Möglichkeit gegeben werden, sich neu aufzustellen. Der Club aber lehnte dies ab und stellte sich der sport­lichen Herausforderung.

Altstars wie Eiður Guðjohnsen und Román Riquelme boten sich als Spieler an. Doch Chapecoense entschied sich, beim Neuaufbau lieber auf die Jugend zu setzen – ein keineswegs üblicher Weg in Brasilien, wo viele ­Veteranen und frühere Europa-Legionäre in den Mannschaften spielen. Aus Leihspielern anderer Vereine sowie Spielern aus der eigenen Jugend formte Chapecoense quasi über Nacht eine neue Mannschaft.

Die Fans bedauerten im Laufe der Saison mehr als einmal die Entscheidung der Vereinsführung, auf Altstars verzichtet zu haben, ehe die Siegesserie im vergangenen Monat für allgemeine Erleichterung sorgte. Zuvor hatte der Club durchaus glorreiche Momente erlebt, wie das Gastspiel im Camp Nou, auch wenn es dort gegen den FC Barcelona eine 0:5-Niederlage gab, sowie die Partien in der Copa Libertadores.
Entstanden war der Club Associação Chapecoense de Futebol 1973 aus der Fusion der beiden lokalen Vereine Independiente und Atlético Chapecoense. Damit sollte der Fußball in der rund 210 000 Einwohner zählenden Stadt Chapecó im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina wiederbelebt werden. Bis auf eine kurze Hochphase Ende der Siebziger dümpelte der Verein dann aber erst mal jahrzehntelang in den Niederungen des brasilianischen Fußballs ­herum. Einzig ein paar Staatsmeisterschaften von Santa Catarina konnten gewonnen werden. Nach einem Beinahe-Konkurs und der Rettung durch lokale Unternehmer ging es dann aber seit 2009 steil bergauf. In nur sechs Jahren gelang Chapecoense der Aufstieg von der vierten in die höchste Spielklasse, in der man in den vergangenen Jahren jeweils im gesicherten, unteren Mittelfeld landete.

Dass dies auch in diesem Jahr gelang, grenzt dagegen an ein kleines Wunder. Nach dem unter sintflutar­tigen Regenfällen ausgetragenen Spiel gegen Vitória und dem vorzeitigen Klassenerhalt sprach Club­präsident Plínio David de Nês Filho von einem »Ausrufezeichen für ganz Brasilien. Wir haben allen Widrigkeiten getrotzt.«

»Der Zusammenhalt in dieser Truppe ist riesengroß«, sagte Sieg­tor­schütze de Melo, der erst wenige Minuten vor seinem Kopfballtreffer eingewechselt worden war. Der 32jäh­rige Angreifer war 2015 aus Valladolid gekommen, in der vergangenen Spielzeit jedoch für Sport Recife auf Torejagd gegangen. Anfang des Jahres hatte ihn die neue Chapecoense-Führung zurückgeholt. »Die Kameradschaft hier ist phänomenal. Allerdings mussten wir uns manchmal auch klarmachen, dass es letztlich um Punkte geht.«

Leichter gesagt als getan. Denn das gesamte Jahr über begleitete den Club die Erinnerung an die Tragödie. Nur drei Spieler haben den Flugzeugabsturz überlebt. Ersatztorhüter Jackson Follman, dem nach dem Unfall ein Bein amputiert werden musste, ist fast täglich bei der neu zusammengestellten Mannschaft und gilt mit seiner offenen Art als deren ­»guter Geist«. »Mein größter Wunsch war es, aufzustehen, zu laufen, allein ins Bad zu gehen, mir die Zähne zu putzen. Diese einfachen Dinge, die einem gar nicht auffallen«, hatte er während der Rekonvaleszenz einmal gesagt. Mittlerweile trainiert der 25jährige sogar wieder, mit einer Beinprothese und dem Ziel, es in die bra­silianische Paralympics-Auswahl zu schaffen. Auch Innenverteidiger ­Helio »Neto« Zampier arbeitet an seinem Comeback.

Der 32jährige, der bei dem Absturz mehrere schwere Verletzungen davontrug, laboriert allerdings noch an einem Knieproblem. Außenverteidiger Alan Ruschel hingegen gab im Sommer im Freundschaftsspiel beim großen FC Bar­celona sein Comeback. Den ersten Pflichtspieleinsatz ab Spielbeginn absolvierte er im September in der Copa Sudamericana. Ingesamt bestritt der 28jährige acht Partien in dieser Saison, auch wenn er beim Sieg gegen Vitoria nicht zum Einsatz kam. Aber wer hätte vor einem Jahr damit gerechnet, dass er überhaupt je wieder auf einem Fußballplatz ­stehen würde.