Ouiry Sanou, politischer Aktivist, im Gespräch über die Opposition in Burkina Faso

»Es gibt fast jede Woche Arbeitskämpfe«

Interview Von Franza Drechsel

Ouiry Sanou gehört der Organisation Démocratique de la Jeunesse du Burkina Faso (ODJ) an. Die linke Jugendorganisation beteiligte sich unter anderem an den Aufständen 2014 gegen den damaligen Präsidenten Blaise Compaoré, die zu dessen Sturz führten.

In Burkina Faso gab es 2014 große Proteste gegen eine Amtszeitverlängerung des langjährigen Präsidenten Blaise Compaoré. Die Rapper Smockey und Sams’K Le Jah mit ihrem Bündnis Le Balai Citoyen (Der Bürgerbesen) werden häufig als die Begründer einer Revolution dargestellt. Was halten Sie davon?
Das war keine Revolution. Dieses Missverständnis macht mich immer wütender. Eine Revolution ist ein Umsturz der Verhältnisse, das heißt, eine andere Klasse kommt an die Macht, mit einem anderen Programm. Beides ist nicht der Fall. Was Le Balai Citoyen anbelangt: Hätte es nur ihn gegeben, hätten wir Compaoré nicht zum Rücktritt zwingen können. Burkina Faso hat eine lange Tradition gesellschaftlicher Kämpfe, nur dadurch ließen sich überhaupt so viele Menschen mobilisieren. Le Balai Citoyen ist nur auf die Welle aufgesprungen.

Die Rapper waren also nicht ausschlaggebend für die Proteste, wie oft behauptet?
Niemand kann diesen Aufstand für sich reklamieren. Alle waren wichtige Akteure: diejenigen, die sich seit Jahrzehnten für die Veränderung der Verhältnisse einsetzen, ebenso wie jene, die weniger mutig waren und erst mit den Massen auf die Straße gingen. Wenn die Rapper glauben, sie seien die Begründer der Revolution, haben sie entweder nichts verstanden oder sie sind Opportunisten. Mit der Zeit werden wir sehen, wer die Opportunisten sind und wer die wahren Kämpfer.

Hat sich denn wirklich gar nichts geändert, seit Compaoré verjagt wurde?
Wie gesagt, weder die Klasse noch das Programm wurden ausgetauscht. Es ist sogar dasselbe Regime an der Macht und damit auch dieselbe bourgeoise Klasse. Von den inhaltlichen Versprechen ist bisher nichts erfüllt: Kostenfreie Bildung bis 16 Jahre? Noch sind Schulen kostenpflichtig. Zugang zu Wohnraum? Keine Verbesserungen. Arbeitsplätze für junge Burkinabè? Fehlanzeige. Es sind genau dieselben Dinge, die Compaoré auch schon gemacht hat.

Oft führen Regierungsstürze zu einem Backlash.
Ja, das ist in Burkina Faso derzeit auch der Fall. Die sozialen Bewegungen werden immer stärker kriminalisiert und als unzivil dargestellt. Streik- und Demonstrationsrechte werden eingeschränkt. Die politischen und ökonomischen Verbrechen des vorherigen Regimes werden nicht aufgeklärt. So warten wir weiterhin darauf, dass die für den Mord an Thomas Sankara 1987 und für den Mord am Journalisten Norbert Zongo 1998 Verantwortlichen und viele weitere bestraft werden. Stattdessen werden Compaorés Verbündete aus den Gefängnissen freigelassen – ohne Strafverfahren. Das Ziel der Konterrevolutionäre ist es, uns glauben zu machen, der Aufstand hätte nichts gebracht, wir sollten uns lieber Compaoré zurückwünschen. Aber das werden wir keinesfalls! Wir werden weiter dafür kämpfen, dass die Errungenschaften des Aufstands erhalten bleiben.

Es gibt also doch Erfolge?
Ja. Allgemein haben wir politische Freiheiten erkämpft, unseren Handlungsspielraum erweitert. Aber vor allem haben wir erreicht, dass die Bevölkerung sich weniger ohnmächtig fühlt. Sie hat verstanden, dass Wahlen nicht das einzige Mittel sind, um etwas zu verändern. Es gibt also ein gestiegenes Bewusstsein für die eigene Macht: Auch wenn die Regierung stark scheint, können wir einfachen Leute etwas gegen sie ausrichten. Zum Beispiel können wir mit Druck von der Straße Rücktritte erzwingen. Damit ist es für Putschisten schwerer geworden, einen weiteren Staatsstreich auszuführen, wie es schon so viele in Burkina Faso gab. Sie haben mittlerweile Angst vor der Bevölkerung, denn die wird sich gegen einen erneuten Putschversuch wehren.

Sie sagten, Sie kämpfen weiter. Wie sieht das konkret aus?
Am 4. November sind wir mit dem Bündnis CCVC (Koalition gegen das teure Leben, Korruption, Betrug, Straflosigkeit und für die Freiheit) auf die Straße gegangen, um die erwähnte Straflosigkeit der Regimetreuen und die vielen unaufgeklärten Morde anzuprangern. Ansonsten gibt es seit der Transition fast jede Woche Arbeitskämpfe – im Bildungsbereich, in den Finanzbehörden und im Gesundheitssektor. Letzterer wurde medial besonders bekannt: Viele Krankenhäuser blieben geschlossen, in einigen Gemeinden haben 95 Prozent des Krankenhauspersonals gestreikt. Die Regierung hat versucht, die Bevölkerung gegen die Streikenden aufzuhetzen, aber das hat nicht funktioniert. Es wurde weiter gestreikt, es gab Verhandlungen und es konnten bislang einige Verbesserungen erzielt werden. Auch darüber hinaus gab es aufgrund unseres großen Drucks in einigen Bereichen Gehaltserhöhungen.

Gibt es auch spezifische Kämpfe auf dem Land?
Ja, zum einen wehren sich Baumwollbauern dagegen, dass ihnen so schlechte Preise für die Baumwolle gezahlt werden und sie – auch durch die zwischenzeitliche Umsttellung auf gentechnisch veränderte Baumwolle von Monsanto – immer öfter in Armut leben. Dann gibt es viele Proteste gegen Vertreibung, sei es durch das Agrobusiness oder den Goldbergbau. Was letzteren angeht, setzen sich große Teile der burkinischen Zivilgesellschaft dafür ein, dass die Bevölkerung mehr davon profitiert. Bisher wird das Gold extrahiert und die Bevölkerung wird gleichzeitig immer ärmer.
Während vor 2014 die verschiedenen Bewegungen in Burkina Faso gemeinsam gegen die Amtszeitverlängerung von Compaoré protestiert haben, gibt es jetzt allerdings überall verschiedene Kämpfe.

Vor allem im Norden des Landes nimmt auch der Einfluss islamistischer Gruppen zu. Es gab bereits zwei Anschläge in der Hauptstadt Ouagadougou. Wie lässt sich das erklären?
Selbstverständlich ist das im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Mali und in Algerien zu sehen, aber auch mit dem Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) in Syrien und im Irak sowie dem Nato-Einsatz in Libyen. Einige der wichtigsten Personen der Nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) in Mali sowie des Mujao (Bewegung für die Einheit und den Jihad in Westafrika) hielten sich häufig in Burkina Faso auf und hatten enge politische Beziehungen mit dem Regime von Compaoré. Dieser konnte sich zugleich als Befreier europäischer Geiseln darstellen und profitierte auf seine Weise von der Kollaboration. Da ist es nicht überraschend, dass die Angriffe zunehmen, seit er nicht mehr Präsident ist.

Wie sehen die Konsequenzen aus?
Die Jihad-Terroristen schwächen die Rolle des Staats und die Souveränität Burkina Fasos. Wie in Mali wird schnell Frankreich, die alte und noch immer sehr präsente Kolonialmacht, um Hilfe gebeten. Auch die USA haben damit einen Anlass, sich einzuschalten und ihre Rolle in der Region zu vergrößern.

Was sind die Gründe dafür, dass Menschen sich diesen Gruppen anschließen?
Viele Menschen in Burkina Faso leben in Armut und ohne Perspektive. In so einer Situation gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man hat Hoffnung, weil man an ein Ideal glaubt und dafür kämpft. Oder man tut das nicht, fühlt sich ohnmächtig und wird damit offener für die Werbung terroristischer Gruppen. Als ODJ haben wir kein konkretes Programm dagegen, aber wir versuchen, die Bevölkerung darin zu bestärken, für ihre Rechte zu kämpfen, und ihnen eine Perspektive zu geben.

Welche Auswirkungen hat der Aufstieg der jihadistischen Terrorgruppen auf die Arbeit der ODJ?
Es ist extrem schwer, sich als Gruppe zu treffen oder zu demonstrieren. Einerseits wird man schnell Ziel eines Anschlags. Andererseits macht die Lage es den lokalen Regierungen leicht, soziale Kämpfe zu kriminalisieren unter dem Vorwand, wir könnten zu den jihadistischen Terroristen gehören. Da ist es nicht einfach, für soziopolitische Rechte zu kämpfen. Wir tun trotzdem alles im Bereich des Möglichen dafür.

Wie behalten Sie bei all den Problemen die Hoffnung?
Wie gesagt: Auch wenn der Aufstand 2014 nicht viel geändert hat – wir kämpfen weiter. Dass wir in den vergangenen drei Jahren Compaoré verjagen und zwei Militärputsche verhindern konnten, zeigt ja, dass es viele Menschen gibt, die bereit sind für einen echten Wandel. Und dass die Bevölkerung selbst stärker daran glaubt, etwas verändern zu können. Mit unserer Arbeit an der Basis bereiten wir weiterhin eine wirkliche Revolution vor. Die Kämpfe an den verschiedensten Fronten tragen alle dazu bei. Es ist nur eine Frage der Zeit.