Die Nebenklagevertreter im NSU-Prozess haben Bundesanwaltschaft und Behörden heftig kritisiert

Der Gestank bleibt

Die Plädoyers der Nebenklage im NSU-Prozess demontierten das Anklagekonstrukt der Bundesanwaltschaft.

»Dass die Sache stinkt, kann jeder riechen, auch wenn man nicht genau sagen kann, woher und warum. Wir wollten es herausfinden und sind dabei an vielen Punkten gescheitert. Der Gestank indes bleibt.« Mit diesen Worten zog Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer am 390. Verhandlungstag im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München seine Bilanz der zurückliegenden viereinhalb Jahre. Sein fulminanter Schlussvortrag war abgestimmt mit einigen weiteren Plädoyers von Kollegen der Nebenklagevertretung. Gemeinsam fassen sie zusammen, wie in den neunziger Jahren entstehen konnte, was heute als »NSU-Komplex« bekannt ist: ein todbringendes Gemisch aus institutionellem Rassismus, Geheimdienstverstrickung, Verharmlosung rechter und rechtsterroristischer Organisationen, politischer Ignoranz und skandalöser Vertuschungspolitik.

Die Bundesanwaltschaft (BAW) als oberste Anklagebehörde hatte im Sommer in ihrem achttägigen Plädoyer die der Staatsräson dienliche Version präsentiert und damit Kritiker ihrer Prozessstrategie brüskiert, um dann mit unerwartet drakonischen Strafanträgen den Eindruck zu erwecken, ­dieses Land gehe mit seinen angeblich wenigen gefährlichen Nazis hart ins Gericht und führe den Jahrhundertprozess zu einem triumphalen rechtsstaatlichen Ende. Für den bisher zu Unrecht nicht im Fokus stehenden Angeklagten André Eminger verlangte die BAW überraschend zwölf Jahre Haft und begründete das unter anderem mit einer »geständnisgleichen Wohnzimmerwandgestaltung«.

Bei einer Hausdurchsuchung waren Beamte auf einen Heldenaltar für Emingers verstorbene Kameraden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gestoßen. Die BAW wertet seine Unterstützungsleistungen für den NSU außerdem als Beihilfe zum versuchten Mord – zumindest bezüglich des sogenannten Stollendosenattentats auf einen Lebensmittelladen in der Kölner Probsteigasse im Jahr 2001, bei dem die 19jährige Tochter der iranischstämmigen Betreiberfamilie schwer verletzt wurde.

 

Der Ermittlungsstand ist überholt

Was die BAW in ihrem Plädoyer vortrug, entsprach bis in die Formulierungen den Annahmen, die bereits in der Anklageschrift von Ende 2012 standen und einen Ermittlungsstand spiegeln, der vielfach durch unabhängige journalistische und Antifa-Recherche und mittlerweile 13 Untersuchungsausschüsse überholt ist. Es habe sich beim NSU um eine abgekapselte und von der Szene isolierte Zelle gehandelt, bestehend aus Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe, die von einer Handvoll Helfer unterstützt zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Bank- und Raubüberfälle ohne lokale Komplizen begangen habe.

Ein mindestens eingeweihtes größeres Netzwerk von Unterstützern oder gar Mittätern hat es nach dieser Lesart nicht gegeben und folglich muss man sich auch über die Tätigkeit der – nach Zählung Scharmers – 40 V-Leute im Umfeld des Kerntrios keine Gedanken machen. Auch der Verfassungsschutz habe nichts falsch gemacht. »Es ist unzutreffend, wenn behauptet wird, der NSU-Prozess habe Fehler staatlicher Behörden nicht aufgeklärt«, behauptete Bundesanwalt Herbert Diemer in der Einleitung zum BAW-Plädoyer am 25. Juli. »Anhaltspunkte für die strafrechtliche Verstrickung staatlicher Behörden in die ­Taten des NSU sind nicht aufgetreten, sonst wären sie strafrechtlich verfolgt worden.«

Dem widersprechen die Plädoyers der Nebenklage. Den Reigen eröffnete die Anwältin Edith Lunnebach, die die vom Anschlag in der Probsteigasse betroffene Kölner Familie vertritt: »Ich weiß nicht, warum sich die BAW mit der Zuschreibung aller Taten an die Isoliertheit des Trios zufriedengibt, zumal ich nicht davon ausgehen kann, dass es den Anklagevertretern an Urteilsfähigkeit oder gar an Intelligenz fehlt.« Es sei schlechterdings nicht möglich, den damaligen Tatort ohne Ortskenntnis auszuspähen, sagte Lunnebach. Entsprechende Ermittlungen seien jedoch unterblieben. Ein möglicher Helfer, zudem V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, sei weiter nicht behelligt worden, obwohl ein Phantombild, das die Betroffenen vom Täter erstellten, ihm sehr, den »beiden Uwes« jedoch nicht geähnelt habe.

Der Anwalt Mehmet Daimagüler, der Verwandte der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar vertritt, beschrieb eindringlich den institutionellen Rassismus, der die Behörden bei ihren Ermittlungen geleitet hat. Er stellte die naheliegende Frage, warum die Listen mit bis zu 10 000 potentiellen Anschlagszielen, die der NSU zusammenstellte, nicht gründlich examiniert worden seien. Niemand wisse, wie etwa ein Staatsanwalt aus Siegen auf die Liste gekommen sei. Auf diese Weise seien wichtige Zusammenhänge, potentielle Motive und die Frage nach lokalen Helfern ausgeblendet worden.

 

Angela Merkel hat das Versprechen einer »lückenlose Aufklärung« nicht gehalten

In tief bewegender Weise meldeten sich die Ehefrau und die Tochter des 2006 in seinem Kiosk in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık zu Wort. Die Witwe Elif Kubaşık sagte, ihre Fragen seien nicht beantwortet worden und die Bundeskanzlerin habe ihr Versprechen einer »lückenlose Aufklärung« nicht gehalten. Sie schloss resolut: »Die, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, dass wir dieses Land verlassen. Wir sind ein Teil dieses Landes und wir werden hier weiter leben.« Der Rechtsanwalt Carsten Ilius beschrieb eindrücklich die Leiden der Familie des kurdischen Mordopfers, die jahrelang mit rassistischen Ermittlungen überzogen wurde, obwohl sehr schnell festgestanden habe, dass keine der gängigen Verdächtigungen hinsichtlich PKK, Spielschulden, Ehebruch oder Drogenhandel zutraf. In der militanten Naziszene in Dortmund sei hingegen nicht ermittelt worden, obwohl dort eine terroristische »Combat 18«-Gruppe aktiv ist. Ilius vermutet, der rechte Terror sei mit Rücksicht auf die damals bevorstehende Fuß­ballweltmeisterschaft ausgeblendet worden: »Deutschland hätte bei Bekanntwerden des Verdachts rassistischer Serientäter, die möglicherweise auch für den Bombenanschlag in der Keupstraße verantwortlich waren, wohl nicht als ganz so sicherer WM-Gast­geber dagestanden.«

Beeindruckend war die Powerpoint-Präsentation, mit der der Rechtsanwalt Scharmer die V-Leute-Dichte rund um die angeblich isolierte NSU-Zelle veranschaulichte. Ausgehend von der These der BAW gruppierten sich wie von Zauberhand Dutzende Informanten und Spitzel auf dem Schaubild. Die meisten Beweisanträge zur Aufklärung dieses Dickichts, die die Nebenklage gestellt hat, wurden abgelehnt. Scharmer fügte dem Schaubild von Zuträgern auch den Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, Lothar Lingen, hinzu, dessen Tarnname symbolisch für die Vertuschungen und Aktenvernichtungen beim Inlandsgeheimdienst steht. Vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss musste Lingen ­zugeben, dass er die Akten mit NSU-Bezug mit Absicht hatte vernichten lassen, um bohrende Fragen von seiner Behörde fernzuhalten.

Für große Aufmerksamkeit sorgte auch der Anwalt Peer Stolle, der in seinem Plädoyer die Entstehungsbedingungen und die Gründung des NSU nachzeichnete. Seine stringent hergeleitete These ist, dass diese Vereinigung, anders als die BAW behauptet, bereits Mitte der neunziger Jahre als terroristische Vereinigung in der Jenaer Sektion des »Thüringer Heimatschutzes« entstand und der Gang in den ­Untergrund nur die konsequente Fortsetzung der entsprechenden Diskus­sionen in dieser Gruppe war. Weitere aufschlussreiche Ausführungen sind mit den kommenden Plädoyers der Nebenklage bis zum Jahreswechsel zu erwarten, ehe dann die Verteidigung das Wort hat.