Die Außenpolitik der SPD orientiert sich an deutschen Interessen

Unsere Werte, unsere Pipelines, unser Europa

Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz propagiert die »Vereinigten Staaten von Europa«, doch die Außenpolitik der Partei orientiert sich an deutschen Interessen.

»Wer hat uns verraten?« wurde früher bei Demonstrationen oft gefragt. ­»Sozialdemokraten!« lautete die Antwort. In jüngerer Zeit aber schaffte die SPD es nicht einmal mehr, die Menschen zu enttäuschen, weil man nur noch sehr wenig von ihr erwartete. Das soll sich nun ändern, Erneuerung war das große Thema des Parteitags der SPD am Donnerstag und Freitag vergangener Woche. Dort gelang es dem Parteivorsitzenden Martin Schulz mit der Forderung, bis zum Jahr 2025 die »Vereinigten Staaten von Europa« zu schaffen, wenigstens in der Außenpolitik Erneuerungswillen zu simulieren und ­damit einiges Aufsehen zu erregen.

 

Schulz und das »föderale Europa«

Ein demokratischer Bundesstaat soll die EU jedoch nicht werden, Schulz will ein »föderales Europa« schaffen, »das keine Bedrohung für seine Mitgliedsstaaten ist, sondern ihre sinnvolle Ergänzung«. Was sich ändern soll, bleibt daher unklar, und ebenso, wer darüber entscheidet – welcher »Konvent« den Verfassungsvertrag schreibt und wie er »die Zivilgesellschaft und die Völker Europas mit einbezieht«. Aber die Veränderung ist unausweichlich: »Wer dann dagegen ist, der geht dann eben aus der Europäischen Union heraus.«

Diese Botschaft dürfte in den von der Austeritätspolitik gebeutelten Staaten Südeuropas, wo man die SPD von 2009 bis 2013 als treuen Partner Wolfgang Schäubles kennengelernt hat, nicht auf Begeisterung stoßen. Rechtspopulistische Regierungen in Osteuropa können Schulz’ »Basta«-Vereinigungsrhetorik nutzen, um ihren Nationalchauvinismus als Abwehr deutscher Großmacht­ambitionen darzustellen. Da äußert ein führender Sozialdemokrat einmal eine interessante Idee, und sofort verpatzt er wieder alles.

Man muss weder die SPD noch ihren Vorsitzenden mögen, um das zu bedauern. Beim gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnis kann nur eine – im politischen Sinn des Wortes – sozialdemokratische Europa- und Globalisierungspolitik die Lebensbedingungen verbessern, die rechtsextreme Offensive aufhalten und den Klimaschutz zu verbessern. Wenn Martin Schulz, der seine Bekanntheit und Popularität ­seiner Arbeit im Europaparlament verdankt, in seiner Rede die europapolitische Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit keinem Wort erwähnt und einen deutschen Führungsanspruch geltend macht, zeigt dies, wie sehr die SPD sich »nationalen Interessen« verpflichtet fühlt.

Zudem verfolgte der SPD-Vorsitzende das Ziel, die Delegierten durch die Betonung sozialdemokratischer Standhaftigkeit für Koalitionsverhandlungen mit der Union zu gewinnen, und sparte deshalb nicht mit Kritik an Steuer- und Lohndumping. Was die SPD im wirklichen Leben zu tun gedenkt, verrät wohl eher die außenpolitische Grundsatzrede Sigmar Gabriels am 5. Dezember vor dem »Berlin Foreign Policy Forum« der Körber-Stiftung, ­einem »internationalen Kreis von 250 hochrangigen Politikern, Regierungsvertretern, Experten und Journalisten«.

Die Gelegenheit für eine sozialdemokratische Wende ist eigentlich günstig. Wegen des extrem hohen Handelsbilanzüberschusses wird Deutschland weltweit auch von Ökonomen kritisiert, die linker Umtriebe unverdächtig sind; selbst der Internationale Währungsfonds fordert höhere Sozialausgaben und Löhne. Der geschäftsführende Außenminister Gabriel aber forderte in seiner Grundsatzrede, Frankreich solle »in Finanzfragen etwas deutscher« werden. Offenbar gehen ihm Macrons wirtschaftsliberale Reformen nicht weit genug. Zudem vertrat er eine gegen die Interessen der osteuropäischen Staaten gerichtete Politik. Die vom US-Kongress beschlossenen Russland-Sanktionen »umfassen Tat­bestände, die selbst existierende deutsche Pipelines aus Russland betreffen. Diese Sanktionen gefährden unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen existentiell«, sagte Gabriel knapp eine Woche, nachdem er bei der 10. Deutsch-Russischen Rohstoffkonferenz in St. Petersburg gefordert hatte, »die wirtschaftlichen Beziehungen zu inten­sivieren«.

 

Die SPD und Russland

Die SPD treibt die strategische Partnerschaft mit Russland im Energiesektor voran, gegen den Widerstand vor ­allem Polens, aber auch der EU-Kommission. So soll es bleiben. »Das Angebot an Russland ist auch klar: Nach der Durchsetzung eines dauerhaften ­Waffenstillstands können wir Europäer helfen, den Donbass wiederaufzubauen, und auch erste Schritte für den Abbau von Sanktionen auf den Weg bringen.« Da ihm der Wiederaufbau des Donbass – nach offizieller Auffassung der Bundesregierung ein Teil der Uk­raine – als Angebot an Russland gilt und dessen Wiedereingliederung in die ­Ukraine für Gabriel keine Bedingung für den Abbau der Sanktionen ist, darf man die »tragfähige Blauhelm-Mission« zur Sicherung des Waffenstillstands wohl als Mittel zur Sicherung des Status quo, also der Teilung des Landes, betrachten. Deutschland kann dann am Wiederaufbau verdienen und unermüdlich zum Dialog mahnen.

Das lässt erahnen, was Gabriel meint, wenn er sagt, eine »Werteorientierung« werde »allein jedenfalls nicht ausreichen«; die Außenpolitik solle fortan »ohne überdimensionierte moralische oder normative Scheuklappen« betrieben werden. Dass die Deutschen sich bei der Verbreitung demokratischer und humanistischer Werte bislang übernommen haben, ist eine gewagte Behauptung. Die »Werteorientierung« bestand vornehmlich darin, die Konfliktparteien in Kriegen und Bürgerkriegen zum Dialog sowie die USA zur Mäßigung aufzufordern, um schulterzuckend zu resignieren, wenn die unvernünftigen Ausländer wieder einmal nicht hören wollten. Da die meisten Deutschen sich vor allem dafür interessieren, wer an einem Krieg oder an einer Krise schuld ist, und gern bereit sind zu glauben, wegen ihrer »Werteorientierung« würden sie von allen übervorteilt, kommt eine solche Rhetorik beim Publikum gut an.

Daher muss Gabriel nicht erläutern, was man hätte anders machen sollen, wenn er beklagt, dass die EU im Syrien-Konflikt keinen Einfluss habe. Wichtig ist dem deutschen Publikum zudem das Dogma, dass Deutschland keine Macht ausübte und nicht nach Macht strebte. Niemals nicht. Hier zeigt Gabriel un­gewohnten Einfallsreichtum, wenn er die »noch fehlende Machtprojektion« der EU beklagt. Im Duden findet sich der Begriff nicht. Im Englischen versteht man unter power projection die Fähigkeit eines Staates, seine Interessen in fernen Ländern durch den Einsatz seiner Macht, vor allem der militärischen, durchzusetzen.

Gabriel fordert, Deutschland solle in der Sicherheitspolitik »etwas französischer« werden, und ­prophezeit mit apokalyptischem Unterton: »Nur wenn die EU ihre eigenen Interessen definiert und ihre Macht projiziert, kann sie überleben.« Doch die nationalstaatlichen Interessen der EU-Länder divergieren. Um im gegenwärtigen institutionellen Rahmen zu einer EU-­Außenpolitik zu kommen, müssten Kompromisse etwa für die Energieimporte aus Russland gefunden werden. Oder über die Außenpolitik wird auf gesamteuropäischer Ebene demokratisch entschieden, was allerdings, ebenso wie eine gemeinsame Militärpolitik, mit der nationalen Souveränität unvereinbar ist. Die SPD macht jedoch deutlich, dass sie vor allem für deutsche Interessen und deutsche Pipelines steht.

Zum Glück gibt es ein Thema, bei dem sich fast alle Europäer einig sind: ­Donald Trump. Bemerkenswert an ­Gabriels Rede war, dass er sich nicht auf die obligatorische Kritik am US-Präsidenten beschränkte, sondern sie mit einer Prophezeiung verknüpfte: »In absehbarer Zukunft wird die Mehrheit der US-Amerikaner keine euro­päischen, sondern lateinamerikanische, asiatische und afrikanische Wurzeln haben. Deshalb wird das Verhältnis der USA zu Europa auch nach Donald Trump im Weißen Haus nicht mehr das Gleiche werden, was es einmal war.« Das ist, milde ausgedrückt, kulturalistischer Humbug, und wohl kein Ausrutscher, denn Gabriel mahnt auch, das »gesellschaftliche Bedürfnis nach Klarheit und Ordnung« – ein Euphemismus für den Aufstieg der extremen Rechten – erfordere »mehr Materialismus und weniger postmodernen Idealismus«. Man darf getrost annehmen, dass er bei Materialismus nicht an Marx, sondern an die Bilanzen deutscher Konzerne denkt.

Ein Hindernis bei den Koalitionsverhandlungen werden die außenpolitischen Positionen der SPD wohl nicht darstellen. Sie geben den common ­sense der Exportnation Deutschland wieder, in der man es selbstverständlich findet, in der EU das Sagen zu haben, auch global mehr »gestalten« will, aber weiterhin keinen ernstzunehmenden Beitrag zur Lösung inter­nationaler Konflikte zu leisten gedenkt. Auch Alexander Graf Lambsdorff, der außenpolitische Sprecher der FDP, war mit Gabriels Rede zufrieden.

Traditionell gibt die SPD in der Innen- wie in der Außenpolitik den ideellen Gesamtkapitalisten mit sozialem Gewissen. Mit den ahistorisch als neue Entspannungspolitik gerechtfertigten Angeboten an Russland vertritt die SPD nun Sonderinteressen, die über das übliche Maß des Kuschelns mit ­Autokraten hinausgehen. Wohl nicht unbeabsichtigt sprechen sie – wie auch die über die Abwehr Trump’scher Zumutungen hinausgehende Distanzierung von den USA – rechte und rechtsextreme Wähler, aber auch einen Teil des Milieus der Linkspartei an. Es gibt sicherlich Sozialdemokraten, denen diese Art der Erneuerung der Partei missfällt. Zu hören war von ihnen bislang wenig.