In der Ukraine haben sich Nationalisten und Rechtsextreme etabliert

Blau-gelber Wahnsinn

Reportage Von Paul Simon

Bereits während der Maidan-Proteste 2014 beteiligten sich Rechtsextreme und Nationalisten am Aufstand gegen die damalige ukrainische Regierung. Vier Jahre nach Beginn der Proteste haben sie sich in der Ukraine etabliert.

50 junge Männer in Tarnanzügen laufen mit schnellen Schritten durch die U-Bahn-Station unterhalb des Maidan-Platzes. Sie scherzen und lachen, als wären sie auf einem Schulausflug. Aufsehen erregen sie kaum; kahlgeschorene Rekruten sind in Kiew kein ungewöhnlicher Anblick. Doch es sind keine Soldaten. Viele sind nicht einmal erwachsen. Sie sehen aus, als gingen sie noch zur Schule.

In einer Passage bieten kleine Läden patriotische Waren an: T-Shirts und Flaggen in den Nationalfarben, Trachten, Klopapier mit dem Konterfei Putins. Noch immer erinnert blau-gelbe Beflaggung auf dem Unabhängigkeitsplatz an den Nationalfeiertag für die »Verteidiger der Ukraine« am 14. Oktober. Das Heldendenkmal für die während der Maidan-Proteste getöteten »himmlischen Hundert« ist nur wenige Meter entfernt.

Oben angekommen sammelt sich die Gruppe, bevor sie in geschlossener Formation über den Platz marschiert. Ihr Ziel, das »Kosakenhaus«, befindet sich in einer Nebenstraße am anderen Ende des Maidan. Schwarze Flaggen bedecken die Mauern des Gebäudes, die Eingangstür ziert eine stilisierte Wolfsangel – ein von vielen Rechtsextremen weltweit verwendetes Symbol. Während der Kämpfe auf dem Maidan 2014, als in Sichtweite die Barrikaden standen, wurde das Haus besetzt. Seitdem diente es verschiedenen nationalistischen Gruppen als Hauptquartier, die von hier aus auch Freiwillige für den Krieg rekrutierten. Mittlerweile gehört es dem »schwarzen Korps«, auch bekannt als Regiment Asow, dessen Symbole seine Mauern zieren.

 

»Die Nationalisten konstruieren ein Bild der Linken als ›Separatisten‹ oder ›Kreml-Agenten‹, um ihre Gewalt zu legitimieren.« Stanislav Sergienko, linker Aktivist


Als 2014 der Krieg in der Ostukraine begann und die ukrainische Armee zu versagen drohte, bildeten sich zahlreiche unabhängige Freiwilligenbataillone, die das Land vor der, wie es bei ihnen heißt, »russischen Invasion« schützen wollten. Viele dieser Verbände rekrutierten sich aus nationalistischen Gruppen, die teilweise schon auf dem Maidan ihre Kampfbereitschaft bewiesen hatten. Das Regiment Asow war vom frisch aus dem Gefängnis entlassenen Neonazi Andrij Bilezkyj gegründet worden. Immer wieder gab es Berichte über Neonazis, die – teilweise hakenkreuzbewehrt – in seinen Reihen kämpften. Von den US-Militärhilfen für die ukrainischen Streitkräfte war es deshalb bis 2016 explizit ausgenommen.

Maidan

Für die Ukraine. Gedenken am 14. Oktober auf dem Maidan unter dem Unabhängigkeitsdenkmal

Mittlerweile ist die Einheit offiziell in die Nationalgarde integriert. Bilezkyj sitzt im Parlament und bekleidet einen offiziellen Rang der Polizei. 2016 gründete er die Partei »Nationalkorps«, hervorgegangen aus dem »zivilien Korps« des Regiments, und dessen politischer Arm. So hat sich aus dem Regiment eine politische Bewegung entwickelt.


Rechts aus Überzeugung

Die Kulturwissenschaftlerin Nina Boichenko hat über den nationalistischen Aktivismus geforscht. »Im Kampf um die Herzen und Köpfe«, sagt sie, »versuchen diese Nationalisten vor allem junge Menschen zu erreichen, um eine Gemeinschaft von patriotischen ›neuen Ukrainern‹ aufzubauen.« So organisiert das Regiment Asow etwa Sommercamps für Jugendliche, auf denen neben Selbstverteidigungstraining auch patriotische Schulungen stattfinden. Auch das »Kosakenhaus«, im Grunde ein nationalistisches Kulturzentrum, ist Teil dieser Strategie. Es sei dem neofaschistischen Hausprojekt »Casa Pound« in Rom nachempfunden, so Boichenko. Geboten werden Sport- und Boxsäle, ein Tattoostudio, eine Bibliothek, Lese- und Diskussionszirkel und Vortragsveranstaltungen.

Die deutsche Neue Rechte, die eigentlich prorussisch eingestellt ist, steht den ukrainischen Rechtsextremen dennoch nahe. Auch deutsche Neonazis der Partei »Der III. Weg« zeigten sich dem Spiegel zufolge beeindruckt von dem, was die Asow-Bewegung in Kiew aufgebaut hat – und vom Mangel an antifaschistischem Widerstand.

Für den Soziologen Volodymyr Ishchenko ist genau diese Normalität des Rechtsextremismus das Gefährliche. Den Nationalisten sei es gelungen, »ihre Ansichten in den Mainstream zu transportieren«, sagt er. »Das begann schon während der Maidan-Proteste, als sie ihre Slogans und die schwarz-rote Flagge der Ukrainischen Aufstandsarmee, der UPA, verbreiteten. Plötzlich war dieser Nationalismus etwas ganz Normales.«

Schon 2012 errang die rechtsextreme Partei Swoboda bei den Parlamentswahlen zehn Prozent der Stimmen, im Westen des Landes teilweise bis zu 40 Prozent. Vielen galt Swoboda – gerade weil sie extrem auftrat – als einzige glaubwürdige Oppositionspartei. Bei den Maidan-Protesten waren nationalistische Gruppen und Parteien zwar in der Minderheit, aber sehr umtriebig, wie Ishchenkos Untersuchungen belegen. Ihre Rolle als militante »Verteidiger des Maidan« verlieh ihnen Legitimität und die Proteste boten ihnen eine Bühne.

Dabei spielte ihnen die Korruptheit des politischen Establishments, selbst des oppositionellen, in die Hände.

»Die normalen Politiker«, sagt Ishchenko, »hatten den Demonstrierenden nichts zu sagen«. Den meisten Parteien, etwa dem Block Petro Poroschenko oder der 2015 darin aufgegangenen Partei Vitali Klitschkos, Udar, gehe es nur darum, »bestimmte Personen an die Macht zu bringen oder bestimmte Geschäftsinteressen zu vertreten«. Die Linke bot auch keine Perspektive. Sie war in der Haltung zu Russland gespalten, die nunmehr verbotene kommunistische Partei durch ihre Beteiligung an der Regierung Wiktor Janukowytschs diskreditiert. In dieses politische Vakuum stießen die Nationalisten. »Swoboda hatte eine starke Botschaft. Ihre Vertreter waren sehr aktiv bei den Protesten und sprachen, so oft sie konnten«, sagt Ishchenko.

 

»Wir haben Faschisten in der Ukraine, und sie werden stärker. Sie stehen über dem Gesetz, sie können sich organisieren, sie wirken auf den Mainstream.« Volodymyr Ishchenko, Soziologe


Das ganze politische Klima habe sich deshalb nach 2014 scharf nach rechts entwickelt. Zwar sind die rechtsextremen Parteien nach westeuropäischen Maßstäben nicht besonders groß. Aber das mache sie nicht weniger gefährlich. »Wie viele Bataillone hat Le Pen? Wie viele Soldaten kommandiert die AfD?« fragt Ishchenko. »Jede rechte ukrainische Partei hat mindestens ein bewaffnetes Bataillon. Im Fall von Asow hat sich ein Regiment sogar erst eine Partei geschaffen!« Auch stehe den Rechtsextremen im Gegensatz zu Westeuropa kein in der Bevölkerung verankertes und als legitim empfundenes politisches Establishment gegenüber. »Die Mitglieder der meisten Parteien existieren nur auf dem Papier«, sagt Ishchenko. »Die Oligarchen müssen in der Regel ein Gehalt bezahlen, um Unterstützer für sich zu mobilisieren. Die Rechten haben überzeugte Anhänger, die einer Ideologie verpflichtet sind.«

Bei den Wahlen 2014 war es den rivalisierenden rechtsextremen Parteien nicht gelungen, ins Parlament einzuziehen. Für Ishchenko war das kein Grund zur Entwarnung: »Poroschenko ist Präsident, weil er reich ist, einen Fernsehsender besitzt, und die Unterstützung des Westens genoss. Und so ist es mit den anderen Oligarchenparteien auch: Sie haben Geld und Ressourcen«, sagt er. »Wahlen in der Ukraine sind ein Wettbewerb von Patronagemaschinerien. So werden Wahlen in der Ukraine entschieden. Nicht durch die Stärke der Programme. Und sicher nicht durch die Anzahl echter Mitglieder, wie sie eigentlich nur die Rechten haben.«

 

Nationalistische »Dekommunisierung«

Auch die Regierung stützt sich auf patriotische Rhetorik und Maßnahmen. Praktisch heißt das »Ukrainisierung« und »Dekommunisierung«: Die Spuren der Sowjetherrschaft, identifiziert mit der Unterwerfung unter das russische Imperium, werden ausgemerzt, kommunistische Symbolik und Kunst aus dem öffentlichen Raum entfernt.

Anders als die meisten ehemaligen sowjetischen Staaten gedenkt die Ukraine nicht mehr am 23. Februar ihrer Veteranen, der roten Armee und des Kampfes gegen den Faschismus. Seit 2014 ist der 14. Oktober offizieller Gedenktag für die »Verteidiger der Ukraine«, denn an jenem Tag im Jahr 1942 wurde die Ukrainische Aufstandsarmee, der militärische Arm der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), gegründet. Sie führte in der Westukraine noch bis in die fünfziger Jahre einen Partisanenkrieg gegen die Sowjetarmee. Als erfolgreichste nationalistisch-ukrainische militärische Organisation, die in der jüngeren Vergangenheit gegen die »russische Fremdherrschaft« gekämpft hatte, wurde sie in den vergangenen Jahren zum Symbol des neuen ukrainischen Patriotismus. Auf dem Maidanplatz wurde am 14. Oktober offiziell der Veteranen und der Toten der ukrainischen Armee gedacht – der Veteranen des derzeitigen Kriegs.

Immer mehr setzt sich damit eine nationale historische Sichtweise durch, die – wie in der Westukraine schon länger üblich – die Nationalisten der OUN und ihren Anführer Stepan Bandera heroisiert, die in der Sowjetunion noch als Faschisten und bürgerliche Nationalisten geächtet waren. Die anfängliche Kollaboration der OUN und der UPA mit den Nazis, ihre teils faschistische Ideologie, ihr Antisemitismus, ihre Beteiligung am Holocaust, und schließlich die gewaltsamen Vertreibungen und Massaker vor allem in Wolhynien und Ostgalizien, denen Zehntausende Polen zum Opfer fielen, müssen dafür, wenn nicht geleugnet, so zumindest verdrängt werden. Am Kiewer Rathaus, dem Amtssitz des Bürgermeisters Vitali Klitschko, den der Marsch der Nationalisten passierte, hatte am 14. Oktober 2017 jemand gut sichtbar ein Porträt Banderas befestigt.

Die Symbolik der UPA ist dank des Einflusses der Nationalisten in der Politik allgegenwärtig. Auch die mit der UPA assoziierte Grußformel, »Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden«, wird nicht nur von vielen rechten Politikern verwendet. Für Ishchenko ist das besorgniserregend: »Wenn Leute diesen Slogan auf den Lippen führen, dann wollen sie damit zwar nicht unbedingt sagen: Tötet die Polen, tötet die Juden. Aber warum ist ausgerechnet dieser Slogan so populär geworden? Warum kein liberaler Slogan gegen den Polizeistaat oder für Menschenrechte? Warum diese nationalistischen Ideen?«

 

Maidan

Nationalismus für alle. Auf und rund um den Maidan-Platz wird am 14. Oktober der Veteranen und Kriegstoten gedacht

Bild:
Paul Simon

 

Jagd auf Linke

Führende Figur der neuen patriotischen Geschichtsschreibung ist Volodymyr Viatrovych, der Direktor des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken. Immer wieder wird er – besonders von ausländischen Historikern – für seine politisch motivierte und manchmal verfälschende Geschichtsschreibung kritisiert. In einem Artikel im renommierten US-Magazin Foreign Policy bezeichnete Josh Cohen ihn als »den Historiker, der die Geschichte der Ukraine schönfärbt«.

Stanislaw Sergienko ist ein Kritiker der patriotischen Geschichtspolitik. Bereits mit Anfang 20 hatte er Viatrovychs Aufmerksamkeit erregt. Sergienko sei keineswegs ein »berühmter Historiker«, schrieb Viatrovych 2016, sondern nichts als ein »Student und linker Aktivist«, der auch noch für prorussische Zeitungen schreibe. Tatsächlich entspricht Sergienko dem Feindbild auch der extremen Rechten. Er demonstrierte gegen den Faschismus und sprach sich gegen die Fortführung des Kriegs aus.

Zweimal wurde er Opfer rechtsextremer Attacken. Am 1. Mai 2016 nahm er in Kiew an einer kleinen Demonstration linker Gruppen teil. Später lauerten ihm zwei Männer auf, die ihn fragten, ob er Antifaschist sei. Dann begannen sie, auf ihn einzuschlagen. Polizisten in der Nähe gelang es, einen Angreifer festzunehmen. Den weiteren Verlauf schilderte Sergienko damals so: Einer der Angreifer habe ihm zunächst Geld angeboten, wenn er die Anklage fallen lasse. Dann habe der Polizist gedroht, wenn er die Anzeige nicht zurückziehe, erwarteten ihn neue Angriffe. Zudem habe er die Macht des Regiments Asow betont. Ob er nicht wisse, wer Bilezkyj sei, habe er Sergienko gefragt.

Wie eine Untersuchung der NGO Institute Respublica, einer der zahlreichen in der Ukraine tätigen, vom Westen finanzierten Reformgruppen, zeigt, kam es in den vergangenen Jahren fast nie zu einer Verurteilung, wenn Rechte politische Versammlungen ihrer Gegner angegriffen hatten – etwa Veranstaltungen von Linken, Friedensaktivisten, LGBTQ. Oft ließ die Polizei die Angreifer demnach sogar gewähren. Sergienko erstattete dennoch Anzeige, obwohl er Vergeltungsmaßnahmen fürchtete. Kürzlich wurde das Verfahren ohne eine Verurteilung eingestellt.

Im März 2017 wurde Sergienko erneut zum Ziel eines Angriffs. Ein Neonazi aus dem Umfeld der Gruppe S-14 bedrohte ihn auf der Straße in Kiew, wie der linke Aktivist sagt. Der Name der ehemals mit Swoboda verbundenen paramilitärischen Gruppe bezieht sich auf die »14 words« der US-amerikanischen white supremacists, die mit dem Schwur ihrer Treue zum Kampf für die »weiße Rasse« Ausdruck verleihen. Am 20. April, dem Geburtstag Adolf Hitlers, lauerten zwei Männer Sergienko vor seiner Haustür auf und stachen mehrmals auf ihn ein. Sergienko wurde in die Intensivstation eingeliefert. Seine Angreifer filmten die Attacke und stellten das Video ins Internet, offensichtlich um zu zeigen, dass sie ihre Feinde auch auf offener Straße angreifen können, wenn sie wollen. Einige Tage später veröffentlichte Jewgenij Karas, der Anführer der Gruppe S-14, im Internet einen höhnischen Artikel mit dem Titel »Eine Safari auf Separatisten«. Darin hieß es, diese Jagd beginne gerade erst.

Es mag an der üblichen Ineffektivität der ukrainischen Polizei gelegen haben, dass sie die Täter nicht ermittelte. Es könnte aber auch ideologische Gründe haben. »Bei allen Fällen von rechter Gewalt, die ich kenne, weigert sich die Polizei, den politischen Hintergrund der Taten anzuerkennen. Auch der letzte Angriff auf mich wird wie eine normale Körperverletzung eingestuft«, so Sergienko. »Die Nationalisten konstruieren ein Bild der Linken als ›Separatisten‹ oder ›Kreml-Agenten‹, um ihre Gewalt zu legitimieren«, sagt er. »Immer wieder gibt es Gewalt, und die Regierung tut nichts, um das zu verhindern. Mitglieder nationalistischer Gruppen haben Verbindungen ins Innenministerium. Ich fühle mich in der Ukraine nicht mehr sicher.«

Auch der Soziologe Ishchenko kennt das Problem: »Wenn man auf diese Gefahr hinweist, wird einem sofort vorgeworfen, man sei ein Agent des Kreml.« Er fährt fort: »Ich höre regelmäßig, ich sei ein prorussischer Wissenschaftler. Ein russischer Agent. Aber wir müssen die Dinge beim Namen nennen. Wir haben Faschisten in der Ukraine, und sie werden stärker. Sie stehen über dem Gesetz, sie können sich organisieren, sie wirken auf den Mainstream – all das in einem Ausmaß, von dem Nazis in Westeuropa nur träumen können.«