In Israel ist ein Präventivschlag gegen iranische Nuklearanlagen gemäß der Begin-Doktrin umstritten

Dem Feind zuvorkommen

Von Tal Leder

1981 entschied der damalige israelische Ministerpräsident Menachem Begin, der atomaren Bedrohung durch den Irak mit einem konven­tionellem Präventivschlag zuvorzukommen. Die nach ihm benannte Begin-Doktrin wird heute insbesondere mit Blick auf den Iran diskutiert.

Es dauerte nicht einmal 24 Stunden, bis Israel nach seiner Staatsgründung vor 70 Jahren, am 14. Mai 1948, von einer arabischen Allianz, bestehend aus regulären Armeeeinheiten Ägyptens, Syriens, des Libanon, Jordaniens und des Irak, angegriffen wurde, mit dem Ziel, den jungen Staat zu vernichten. Seit damals ist kein Tag vergangen, an dem sich Israel nicht mit zahlreichen Bedrohungen konfrontiert sah. Israels Armee formierte sich erst während des 15monatigen Krieges, eine echte Strategie zum Schutz des Landes gab es damals noch nicht.

Um einem drohenden Angriff der arabischen Armeen wie im Unabhängigkeitskrieg 1948 zuvorzukommen, entschieden die Knesset und die Militärführung sich 1967 für einen Präventivschlag, den Sechstagekrieg. In einem ­sogenannten Enthauptungsschlag ­wurden die gegnerischen Streitmächte geschwächt und dadurch unter anderem daran gehindert, israelisches Territorium anzugreifen. Nach dem Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 musste Israel seine Sicherheitsstrategie überdenken. Militärisch war der Krieg zwar nach 18 Tagen gewonnen, doch waren der ägyptischen Armee in den ersten Kriegstagen bedeutende Vorstöße ­gelungen und mehr als 2 500 Israelis starben. Im April 1974 trat die damalige Regierung deshalb zurück.

Da viele Israelis zu Beginn des Krieges 1973 schon das Ende des jüdischen Staates befürchteten, wollte die neue Regierung für einen erneuten Überraschungsangriff gewappnet sein. Zudem bestand wegen des 1975 geschlossenen Atomabkommens zwischen Frankreich und dem Irak zum ersten Mal die Gefahr einer nuklearen Be­drohung durch einen feindlichen Staat. So begann die israelische Regierung bereits in der ersten Amtszeit Yitzhak Rabins (1974–77) mit der Entwicklung einer Verteidigungsstrategie gegen die neue atomare Bedrohung. Diese Bemühungen intensivierten sich unter ­Menachem Begin (1977–83), dem Ministerpräsidenten der ersten rechten ­Regierung Israels. Von Anfang an machte er klar, dass kein Staat im Nahen ­Osten zur Atommacht aufsteigen dürfe. Dies könne zu einem atomaren Wettrüsten in der Region führen. Insbesondere der Irak unter dem Diktator Saddam Hussein stellte eine Bedrohung dar, da im Reaktor Tammuz-1, von den ­französischen Lieferanten Osirak genannt, Plutonium erzeugt werden konnte. Dem wollte Begin nicht zusehen, er entwickelte eine neue Verteidigungspolitik, die sogenannte Begin-Doktrin. Diese sieht einen Präventivschlag gegen potentielle Feinde Israels vor, die die Fähigkeit besitzen, Massenvernichtungswaffen, insbesondere Atomwaffen, herzustellen.

 

Eine Militäroperation gegen die iranischen Nukleareinrichtungen wäre deutlich schwieriger als es in Syrien oder im Irak der Fall war.

 

Nachdem die »Operation Opera« von Geheimdienst und Militär präzise ­vorbereitet worden war, starteten am 7. Juni 1981 mehrere Kampfjets vom Typ F-16 und F-15 vom ehemaligen israelischen Stützpunkt Etzion auf dem ­Sinai mit dem Ziel Irak. Dabei wurde jordanisches und saudi-arabisches ­Gebiet überflogen. Problemlos gelangten die israelischen Piloten in den ­irakischen Luftraum und griffen die Atomanlage nahe Bagdad an. Die Operation dauerte nur zwei Minuten. Allerdings kamen elf Menschen ums Leben. Der Angriff erfolgte knapp ein Jahr, nachdem iranische Piloten während des iranisch-irakischen Kriegs vergeblich versucht hatten, diese Nuklearanlage zu zerstören. In einer Pressekonferenz rechtfertige Begin den Angriff damit, dass das jüdische Volk nie wieder schutzlos seinem Schicksal überlassen werden sollte. Einen weiteren ­Holocaust dürfe es niemals geben: »Dieser Angriff wird ein Präzedenzfall für jede zukünftige Regierung in Israel sein. Jeder zukünftige israelische Ministerpräsident wird unter ähnlichen Umständen in der gleichen Weise handeln.«

Unter Ministerpräsident Ehud ­Olmert (2006–09) wurde die Begin-Doktrin wieder angewendet: In der »Operation Orchard« gegen eine syrische Nukleareinrichtung. Nachdem die israelische Luftwaffe den Angriff monatelang geplant hatte, gab die ­Regierung am 5. September 2007 grünes Licht für einen Präventivschlag. Noch in derselben Nacht drangen acht israelische F-15- und F-16 Kampfbomber in den syrischen Luftraum ein und zerstörten das Ziel.

Seit der Machtübernahme der Mullahs nach der Revolution 1979 wird ­Israel auch vom Iran in seiner Existenz bedroht. Die Vernichtung Israels gehört zur Staatsdoktrin. Ein Großteil der iranischen Außenpolitik ist seither von diesem Ziel bestimmt. Die vom Iran unterstützte libanesische Hizbollah wurde zu einem ernstzunehmenden Gegner für die israelische Armee, auch den Terror der palästinensischen Hamas und des Islamischen Jihad gegen Israel förderte das iranische Regime. Doch vor allem die Wiederaufnahme des iranischen Atomprogramms nach der Jahrtausendwende, dessen Planung schon 1959 unter dem Schah mit US-amerikanischer Hilfe begonnen hatte, bereitet Israel Sorgen. Die Begin-­Doktrin wird daher auch seit 2009 unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wieder in Betracht gezogen. Allerdings zögert Israel noch mit einem ­Präventivschlag gegen den Iran. Eine Militäroperation gegen die iranischen Nukleareinrichtungen wäre deutlich schwieriger als es in Syrien oder im Irak der Fall war, wo nur jeweils ein schlecht geschütztes Ziel zu treffen war. Sollte sich Israel trotzdem dafür entscheiden, würde das iranische Regime einen Gegenangriff starten, wohl auch mit Hilfe der Hizbollah und verbündeter schiitischer Milizen in Syrien. Die Folgen wären nicht absehbar.

 

Kombinierte Angriffs- und Verteidigungsdoktrin

 

In Israel gibt es nicht wenige Minister, die der Begin-Doktrin kritisch gegenüberstehen. Sie propagieren eine kombinierte Angriffs- und Verteidigungsdoktrin. Ein praktisches Beispiel, für diese abgeänderte Doktrin, ist der ­Raketenabwehrschild, der alles von ballistischen Shehab- und Scud-Raketen aus dem Iran und Syrien bis hin zu den tieferfliegenden Katjuscha- und Qassam-Raketen der Hizbollah und der Hamas abfangen soll. Der ehemalige israelische General Shlomo Brom argumentiert, dass Israels Verteidigung ausgeweitet und vielleicht sogar zum vermuteten atomaren Arsenal des ­Landes offener Stellung bezogen werden könnte. Er setzt auf gegenseitige Abschreckung. Auch weist er die Ansicht zurück, dass die Bombardierung des irakischen Reaktors einen Präzedenzfall für einen möglichen israelischen Angriff auf den Iran geschaffen habe. »Die Entscheidung in Jerusalem, keine militärischen Aktionen gegen mutmaßliche Chemiewaffenprogramme in ­Syrien und im Irak durchzuführen, hat bereits die Begin-Doktrin unterminiert,« so Brom während eines Vortrags am Institute for National Security Studies an der Universität von Tel Aviv im September 2011.

Durch den Krieg in Syrien, wo der Iran mit massiver Unterstützung präsent ist, rückt die Bedrohung für Israel immer näher. Der Iran will neben der Hizbollah, die im Libanon operiert, eine weitere Front zum jüdischen Staat eröffnen. Zudem arbeitet der Iran weiter am Atomwaffenprogramm. Anhänger des »Gleichgewichts des Schreckens«, auch bekannt als MAD-Doktrin (mutual assured destruction), sehen die iranischen Führer trotz ihrer islamistischen Rhetorik als rationale Akteure und ­gehen davon aus, dass sie wissen, dass Israel Massenvernichtungswaffen hat, mit denen es auf einen nuklearen Angriff reagieren könnte. Falls die Aya­tollahs Atomwaffen herstellen, gäbe es aber, abgesehen von deren Einsatz, auch andere Gefahren, wie Chuck Freilich, ein ehemaliger stellvertretender nationaler Sicherheitsberater Israels, in einem Vortrag am ISGAP-Center in New York im April 2015 darlegte: »Selbst wenn es unwahrscheinlich ist, dass sie eine Atombombe auf den jüdischen Staat abfeuern, würde die bloße theoretische Möglichkeit dieses Ereignisses die iranischen Verbündeten an Israels Grenzen, also die Hamas und Hizbollah, drastisch er­mutigen.« Sollte das iranische Regime zur Atommacht aufsteigen, würde das Israels Handlungs­spielraum in Gaza sowie im Libanon und Syrien einschränken, so Freilich.

Der Iran allein ist jedoch nicht das Hauptproblem. Sollte er in der Lage sein, eine Atombombe zu bauen, könnte es zu einem Wettrüsten in der Region kommen, besonders durch die sunnitischen Staaten wie die Türkei, Ägypten und vor allem Saudi-Arabien, dem Rivalen Irans. Dies würde die Region weiter destabilisieren.

Israel müsste seine Verteidigungsstrategie dann erneut anpassen. Sollte es weiterhin in seiner Existenz akut ­bedroht werden, wird aber höchstwahrscheinlich keine Regierung zögern, ­einen Präventivschlag gemäß der Begin-Doktrin gemäß einen Präventivschlag zu führen. Denn wie bereits der erste Ministerpräsident David Ben-Gurion kurz nach der Gründung Israels sagte: »Wir haben die Überlebenden des ­Holocausts nicht hierhergebracht, damit sie einen weiteren erleben.«