Die Zahl der Salafisten steigt, besonders in Berlin

Zu viele Salafisten, überforderte Polizisten

Die Zahl der Salafisten in Berlin hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Zugleich sind die mit dem Islamismus befassten Polizeistellen überlastet. Welche Rolle dies für den Anschlag auf dem Breitscheidplatz spielte, interessiert auch die Bundespolitik.

Es muss nicht immer ein Hipster sein. Wer in Berlin einen Bartträger trifft, könnte es auch mit einem Salafisten zu tun haben. Informationen des Berliner Verfassungsschutzes zufolge ist dieses Milieu in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Gehörten ihm Ende 2011 rund 350 Personen an, von denen etwa 100 als gewaltbereit galten, geht der Inlandsgeheimdienst zurzeit von etwa 950 Salafisten in Berlin aus, von denen er mehr als 380 als gewaltbereit einschätzt. Bundesweit stieg die Zahl der Salafisten in den zurückliegenden Jahren auf über 10 000. Das geht aus einer kürzlich vom Ber­liner Inlandsgeheimdienst veröffentlichten 29seitigen Lageanalyse mit dem Titel »Hintergründe zu den Angehörigen des salafistischen Spektrums« hervor.

 

Früher als in anderen Städten etablierte sich in Berlin eine salafistische Infrastruktur, die »neben Moscheen auch Kleider­geschäfte, Buch­handlungen und Lebensmittelläden umfasst«.

 

Für die Broschüre wertete der Verfassungsschutz Daten von 748 Salafisten aus. Den Angaben zufolge ist das Milieu in der Stadt weitaus heterogener als bisher bekannt. 51 Prozent der Sa­lafisten besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. 115 von diesen 366 Personen haben einen zweiten Pass, es handelt sich mehrheitlich um deutsch-türkische, deutsch-libanesische und deutsch-syrische Staatsbürger. Nur vier Prozent der erfassten Salafisten sind EU-Bürger ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Unter denjenigen, die die Staatsbürgerschaft keines EU-Staats besitzen, stellen Russen die größte Gruppe, danach folgen Türken, Syrer und Personen aus den Gebieten, die der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstehen.

Männer dominieren das Milieu, sie machen 89 Prozent der Salafisten aus. Der Mangel an Frauen trägt anscheinend dazu bei, dass die Mehrheit der salafistischen Männer erst mit über 30 Jahren verheiratet ist. »Erst im Alter von über 46 Jahren sind nahezu alle Berliner Salafisten verheiratet«, heißt es in der Analyse. Die Frauen hingegen heiraten viel früher. Im Schnitt sind die Berliner Salafisten mit fast 34 Jahren demnach auch weit älter als ihre islamistischen Glaubensbrüder in anderen Bundesländern. Dies widerspricht der weit verbreiteten Annahme, es handele sich um ein Jugendphänomen. Das höhere Alter könne auch daher rühren, dass »die salafistische Szene in Berlin schon lange existiert«, so die Autoren des Berichts. »Viele Angehörige dieses Spektrums« seien »mit und in der Szene älter« geworden. Salafistische Veranstaltungen fanden demnach in der Al-Nur-Moschee »spätestens 2004 erstmals statt und zogen mehrere hundert Besucher an«.

 

Personelle Überlastung der zuständigen Behörden

 

Früher als in allen anderen deutschen Städten etablierte sich der Lageanalyse zufolge eine Infrastruktur, die »neben Moscheen unter anderem auch Kleidergeschäfte, Buchhandlungen und Lebensmittelläden umfasst«.

Die Mehrheit der für die Broschüre erfassten Salafisten lebt in den westlichen Bezirken, die seit Jahrzehnten von einem hohen Migrantenanteil geprägt sind. Rund 400 der 748 Personen besuchten eine der vier Berliner Moscheen, die den Behörden als Treffpunkte des Milieus bekannt sind: die Neuköllner Al-Nur-Moschee, die Ibrahim-al-Khalil-Moschee in Tempelhof, die As-Sahaba-Moschee im Wedding und die im Februar 2017 ­geschlossene Fussilet-Moschee in ­Moabit.

Nicht genau ausgewiesen werden in dem Bericht Moscheen, die der ebenfalls islamistischen, jedoch in Deutschland nicht zur gewaltsamen Errichtung eines Gottesstaats aufrufenden Muslimbruderschaft nahestehen und regelmäßig von Salafisten besucht werden. Die Autoren spekulieren lediglich über die Gründe, warum Salafisten in solchen Einrichtungen des »legalistischen Islamismus« auftauchen. Es liege »die Annahme nahe, dass diese auch aus lebenspraktischen Gründen frequentiert werden, zum Beispiel wegen ihrer Nähe zum Wohn- oder Arbeitsort«.

Marcel Luthe, der innenpolitische Sprecher der FDP im Berliner Abgeordnetenhaus, bemängelt im Gespräch mit der Jungle World angesichts der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes die personelle Überlastung der zuständigen Behörden. So fehle es zum Beispiel an gut geschulten Mitarbeitern, um das islamistische Vereinswesen zu überprüfen. Zwar habe der neue Berliner Senat geplant, zusätzliches Personal einzustellen. Dies reicht der Ansicht des Abgeordneten zufolge jedoch bei weitem nicht aus, um die bestehenden Probleme zu lösen.

Welches Ausmaß die Überlastung der mit dem Islamismus befassten Polizisten in den vergangenen Jahren angenommen hat, zeigen behördeninterne Dokumente, die dem RBB und der Berliner Morgenpost vorliegen.

»Vor dem Hintergrund der derzeitigen ­Personalsituation ist festzuhalten, dass eine zeitnahe Bearbeitung der Vorgänge mit den zur Verfügung stehenden Dienstkräften im Rahmen der ­regulären Dienstzeit bis auf weiteres nicht mehr möglich ist«, schrieb der zuständige Kommissariatsleiter bereits im Oktober 2015 in einer sogenannten Überlastungsanzeige. Wegen fehlenden Personals könnten »Qualität und Tiefe von Ermittlungsmaßnahmen nicht in allen Fällen dem Optimum entsprechen«, so der Beamte. Ein Jahr darauf erschoss der Jihadist Anis Amri den Fahrer eines Sattelzugs und fuhr mit diesem über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Der Anschlag kostete elf Menschen das Leben.

Um diese und weitere Versäumnisse aufzuklären, fordert die Berliner FDP einen Ausschuss zur Untersuchung der Missstände im Bereich des Personalwesens bei der Berliner Polizei, Feuerwehr und Justiz. Andreas Geisel (SPD), Senator für Inneres und Sport, verkaufe seine Politik zwar sehr erfolgreich, sagt Marcel Luthe. »Aber bisher kam dabei nur heiße Luft heraus.« Deshalb bezeichnet der FDP-Politiker den Sozialdemokraten spöttisch als »Ankündigungssenator«. Die Berliner Christdemokraten verweigern sich bisher dem Anliegen, einen Ausschuss einzurichten. Nur die AfD hat ihre ­Zustimmung angekündigt. Jedoch würden die Stimmen der beiden Parteien allein nicht ausreichen, um einen Ausschuss einzusetzen.

Im Bundestag wird derzeit darüber verhandelt, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um die Hintergründe des Attentats auf dem Berliner Weihnachtsmarkt zu ermitteln. Viele wichtige Fragen sind bisher noch ungeklärt. Welche Rolle spielte beispielsweise der V-Mann des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen in der Anschlagsplanung? Hatte Anis Amri Mittäter? Welche Pannen unterliefen den Ermittlungsbehörden während der lückenhaften Beschattung des Tunesiers? Doch die Aussichten, dass diese Fragen umfassend ­beantwortet werden, stehen eher schlecht. Derzeit streiten die Bundestagsfraktionen darüber, wie umfangreich ein solcher Untersuchungsausschuss ermitteln soll. Vor allem CDU und SPD wollen den Auftrag eng fassen. Die beiden Parteien stellten im zu ­untersuchenden Zeitraum auf Bundes- wie auf Landesebene die zuständigen Minister.