Mixalis Aivaliotis von der NGO »Stand by me Lesvos« im Gespräch über die Lage im Flüchtlingscamp Moria

»Es ist ein Plan, schlechte Bedingungen zu schaffen«

Immer wieder hört man die Kritik, die Flüchtlingslager auf Lesbos und anderen griechischen Inseln würden bewusst in desaströsem Zustand gehalten werden, um ein Signal an Flüchtlinge in der Türkei zu senden, die immer noch herkommen wollen. Mixalis Aivaliotis, Mitbegründer der Hilfsorganisation Stand by Me Lesvos, die täglich nahe des Flüchtlingslager Moria Geflüchtete mit warmen Mahlzeiten versorgt, hat mit der »Jungle World« über die Situation für Flüchtlinge auf der Insel gesprochen.

In jüngster Zeit gab es Medienberichte, die die Situation der Flüchtlinge hier auf Lesbos als katastrophal beschrieben. Wie sehen Sie die Lage?
Sie ist sogar noch schlimmer. Viele der Flüchtlinge müssen inzwischen in kleinen Zelten schlafen, Sommerzelten, die für den Winter nicht geeignet sind, da sie weder vor Regen noch Kälte schützen. Das Moria-Camp, ein altes Militärlager, war eigentlich für etwa 1 500 Soldaten angelegt, nun sind dort um die 7 000 Menschen untergebracht. Die Nahrungsmittelversorgung ist völlig unzureichend und von schlechter Qualität.

Das trifft auch auf die medizinische Versorgung zu. Viele Flüchtlinge müssen unter diesen Bedingungen hier Wochen zubringen, einige auch mehrere Monate. Sie werden dabei depressiv oder aggressiv. Es fehlt ihnen jedwede Perspektive. Nachdem sie ihre Asylanhörung hatten, müssen sie warten und warten. Man muss sich das vorstellen: Einige bleiben hier für ein Jahr! In dieser Situation! Viele verlieren schlicht alle Hoffnung. Andere haben Angst, zurück in die Türkei deportiert zu werden. Keiner weiß, was auf ihn zukommt. Also heißt es unter diesen Lebensbedingungen – ohne richtige Sanitäranlagen, ohne Arbeit und Abwechslung im Winter – nur warten, warten, und das jeden Tag.

Um das richtig zu verstehen: In Moria gibt es keine Schulen, keine Kindergärten, keine Spielplätze und Versammlungsräume?
Nichts dergleichen. Die Kinder haben keinen Raum für sich. Sie streunen nur den ganzen Tag herum, oftmals hungrig, krank, ohne warme Kleidung und geeignetes Schuhwerk. Einige haben seit Jahren jetzt keine Schule mehr von innen gesehen.

Offiziell ist für Moria die griechische Regierung zuständig?
Ja.

Warum ist die Situation dann so schlimm?
Zunächst einmal arbeitet einfach keiner ernsthaft daran, die Probleme wirklich anzugehen. Die EU tut dieser Tage alles, um sich weitere Flüchtlinge vom Hals zu halten. Sie sollen hier in Griechenland oder besser noch gleich in der Türkei bleiben.

Man hört immer wieder die Kritik, dass die Lager auf Lesbos und anderen griechischen Inseln bewusst in so desaströsem Zustand gehalten werden, um ein Signal an Flüchtlinge in der Türkei zu senden, die immer noch herkommen wollen.
Ja. Auch ich glaube, dass das eine Art Plan ist: diese schlechten Bedingungen zu schaffen, um eine Botschaft auf die andere Seite zu senden. Aber das wird, glaube ich, so nicht aufgehen. In der Türkei halten sich Millionen von Flüchtlingen auf und sehr viele sind verzweifelt; sie versuchen auch weiterhin Mittel und Wege zu finden, dort weg zu kommen. Sie werden niemals aufhören zu glauben, dass, wenn man erst Griechenland erreicht hat, man sich auf EU-Boden befindet und eine Zukunft hat. Die Menschen hier zahlen den Preis für diese Politik. Weil auch wir hier leben, müssen wir versuchen, die Situation zu verändern. Ich sehe nicht, dass das in nächster Zeit von allein geschieht. Die Flüchtlinge stecken hier fest.

Sie stehen in fast täglichem Kontakt zu den Bewohnern des Moria-Camps. Was bekommen Sie zu hören?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vergangenen Monat kam es zu mehreren heftigen Handgreiflichkeiten. Eines Nachts hat sich eine Gruppe einen Faustkampf geliefert und sich mit Steinen beworfen. Unbeteiligte, besonders Frauen und Kinder, waren deshalb sehr verängstigt. Eine Syrerin, die als Freiwillige bei uns arbeitet, erzählte mir, dass sogar Feuer gelegt wurde. Also ist sie zusammen mit anderen aus Angst den Berg über dem Lager hochgelaufen und hat dort mit ihren Kindern im Freien in der Kälte bis zum Sonnenaufgang gewartet. Solche Geschichten muss ich mir fast jeden Tag anhören.

Man hört viel über sexuelle Gewalt, steigende Kriminalität, Prostitution und Drogenmissbrauch …
Ja, das sind alles Probleme hier. Es kommt immer wieder zu sexuellen Übergriffen und sogar Vergewalti­gungen. Sehr viele Frauen haben Angst, sie verlassen ihre Zelte nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr. Und es wird schlimmer. Zusätzlich fällen die Menschen Olivenbäume, weil sie in ihren Zelten keine Heizung haben, und sie töten Tiere, weil die Essensrationen nicht ausreichen. Wären Sie und ich in einer solchen Situation, wir würden uns genauso verhalten. Wir als Erwachsene haben es schon schwer genug, Hunger auszuhalten. Aber was wären Sie bereit zu tun, wenn Ihr Kind ­Hunger hätte?

 

 

Sie rechnen also damit, dass ohne tiefgreifende Veränderungen die ­Situation sich weiter verschlimmern wird. Wie wird die ansässige griechische Bevölkerung darauf reagieren? Bislang galt Lesbos ja als eine Insel, deren Bevölkerung den Flüchtlingen gegenüber eher wohlwollend eingestellt ist.
Die Menschen hier kann man in drei Gruppen zu unterteilen. Ein gutes Drittel ist bereit zu helfen und will, dass sich die Situation für die Flüchtlinge auch verbessert. Ein weiteres Drittel ist strikt gegen die Flüchtlinge und dafür, dass diese schnellstmöglich wieder verschwinden, weil sie zu viele Probleme verursachten. Das übrige Drittel verhält sich, sagen wir, indifferent. Das ist der aktuelle Stand, aber es kann sich jederzeit ändern. In letzter Zeit wächst die Zahl derer, die überzeugt sind, dass es einfach zu viele Flüchtlinge auf Lesbos gibt. Sie denken, die EU und die Regierung in Athen sollten die Verantwortung für sie übernehmen, denn wegen der Flüchtlinge kämen immer weniger Touristen und so fehle eine wichtige Einnahmequelle. Außerdem stört sie, welche Schlagzeilen Lesbos in internationalen Medien macht. Wie man es dreht und wendet, die Zahl der Flüchtlinge ist zu hoch für eine Insel mit 80 000 Einwohnern.

Stimmt es denn, dass weniger ­Touristen kommen und die ökonomische Situation sich insgesamt verschlechtert?
Ja, das trifft zu. Dabei ist Lesbos eine große Insel und die Flüchtlinge befinden sich nur an wenigen Orten. Das wird in den Medien allerdings anders dargestellt und darum vermeiden es viele Menschen, hierher zu kommen.

2016 hat sogar noch der Bürgermeister an Touristen appelliert, aus Solidarität mit den Menschen hier, die die Flüchtlinge gut behandeln, den Urlaub in Lesbos zu verbringen. Ändert sich die Atmosphäre gerade?
Der Bürgermeister und die Politiker sind in erster Linie Politiker. Das heißt, sie reagieren auf Veränderungen der Einstellung der Wähler mit Veränderungen ihrer eigenen Programme. Ja, damals hat er so gesprochen und gab sich sehr flüchtlingsfreundlich. Jetzt rücken die Wahlen näher und er spricht anders. Ein neues griechisches Sprichwort lautet: Willst du eine Wahl gewinnen, mach’ Stimmung gegen Flücht­linge. Deshalb fordern der Bürgermeister und andere Politiker jetzt, dass sie aufs Festland oder in andere europäische Länder gebracht werden sollen. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn auch die Flüchtlinge wollen ja schnellstmöglich von hier weg. Aber seit es die politische Entscheidung gibt, dass sie hier auf den Inseln auf ihre Asylentscheidungen warten müssen, sind sie nun einmal hier. Da hilft ­keine Stimmungsmache.
Mit dieser Realität müssen wir uns abfinden und hier vor Ort etwas ändern. Denn auch wenn gerade einige besondere Härtefälle, vor allem Frauen und Kinder, nach Athen gebracht wurden, kommen doch ständig wieder Boote an. Für 100, die gehen, kommen 100 Neue aus der Türkei.

Was sollte denn nun geschehen?
Zuerst ist es wichtig zu verstehen, dass die Ursachen all dieser Probleme nicht hier liegen. Solange die Kriege in Syrien und im Irak, all die Unterdrückung, Folter, das Leid und der Hunger dort weitergehen, werden Menschen fliehen. Zugleich wissen wir, dass die griechische Regierung viel zu wenig tut. Sie schaut im Prinzip einfach zu, nimmt gerne das Geld der EU und wartet darauf, dass eines Tages irgendeine Lösung vom Himmel fällt.

Wir haben im Rahmen eines Erasmus-Austauschprogramms mit meiner Schule kürzlich Rimini in Süditalien besucht. In Italien gehen sie die Probleme an, bieten etwa Sprachkurse und Integrationsprogramme an, die darauf zielen, dass Menschen Arbeit und Auskommen finden. Das ist der richtige Weg. Die Flüchtlinge erhalten die Chance, auf eigenen Beinen zu stehen und sich selbst zu versorgen.

Hier gibt es nichts dergleichen, nur Herumsitzen und Warten. Wir müssen diese Programme kopieren und es den Italienern, die schließlich auch ein armes südeuropäisches Land sind, nachmachen. In Zukunft sollten diejenigen, die das Camp verlassen, hier etwas ­gelernt haben und bereit sein, woanders zu leben. Und solange sie hierbleiben müssen, sollen sie auch integriert werden. Aber es geschieht nichts, also müssen wir selbst aktiv werden.

Die einzige Möglichkeit, die Situation zu verbessern, ist also mittels privater Initiativen und der Arbeit von Hilfsorganisationen?
Im Augenblick leider ja. Die Lage ist dramatisch, alleine im vorigen Jahr sind drei Flüchtlinge im Winter hier erfroren. Wenn nicht die Bürger einspringen, weil die Regierung nicht genug tut, könnte es dieses Jahr noch schlimmer werden, da auch immer mehr internationale Hilfsorganisationen von hier abziehen.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Mercedes Nabert