Atmosphärische Störungen – die SPD-Mitgliederbefragung zur Großen Koalition hat begonnen

Keine Stimmen, miese Stimmung

Seit Dienstag läuft das SPD-Mitgliedervotum über die Koalition mit CDU und CSU. Bereits zuvor hatten Gegner und Befürworter mit ihren Kampagnen begonnen. Besonders im Ruhrgebiet zeigt sich, wie uneinig die Partei ist. In den Umfragen fällt sie immer weiter.

Der »Freischütz« ist eine Waldgaststätte an der Landstraße zwischen Schwerte und Dortmund, ganz im Osten des Ruhrgebiets. Der Name ist Programm. Die Gaststätte hat einen großen Festsaal. Alles ist ein wenig rustikal. Seit fast 30 Jahren feiert die SPD Schwerte hier ihren politischen Aschermittwoch. Eine kleine Veranstaltung ist das nicht, 600 Gäste kommen immer, manchmal auch ein paar mehr. Bundesprominenz ist auch fast in jedem Jahr zu Gast. Vor einem Jahr erlebte der »Freischütz« eine vollkommen euphorische SPD, die ihren »Mister 100 Prozent« Martin Schulz feierte.

In diesem Jahr war die Stimmung nicht ganz so gut. Mit Andrea Nahles war zwar die designierte Parteivorsitzende zu Gast, aber viele Mitglieder sind nur noch genervt von den Debatten der vergangenen Wochen. Schulz habe die Partei »kaputtgemacht«, sagt ein älterer Sozialdemokrat bei Brezel und Bier. Der derzeitige Streit über das Für und Wider einer Großen Koalition sei aber auch »Kokolores«. Der Koalitionsvertrag sei schlecht, weiterregieren werde nicht helfen. Aber Neuwahlen – »wer soll uns denn noch wählen und wer soll Wahlkampf machen?«

Weder die nordrhein-westfälischen SPD-Größen Michael Groschek (Landesvorsitzender) und Norbert Römer (Fraktionsvorsitzender) noch Nahles können an diesem Abend in Schwerte so richtig überzeugen. Römer hält eine bessere Landtagsrede, Groschek erzählt, dass er nach der nächsten Landtagswahl 2022 vor der Staatskanzlei stehen und dem derzeitigen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) »Ihr könnt nach Hause gehen!« entgegen singen möchte. Seine Sanges­einlage sorgt zwar für ein paar Lacher, wirkt aber auch nur gewollt witzig. Nahles ist am Aschermittwoch sichtlich angeschlagen und heiser. In ihrer Rede unterlässt sie Angriffe auf die politischen Gegner fast komplett, spricht nur über den Koalitionsvertrag und wirbt um Zustimmung für die Große Koalition. »Ihr habt es in der Hand«, appelliert sie fast flehentlich.

Eine der wenigen jungen Sozialdemokratinnen auf der Veranstaltung ist enttäuscht: »Für mich war es zu viel ›Groko‹-Tour und Beschönigung des Koalitionsvertrages«, sagt die junge Frau der Jungle World. Aus ihrer Sicht hätte es bessere Themen gegeben. Sie nennt die Schnittchenaffäre bei der AfD-Bundestagsfraktion und das Heimatministerium, das der CSU-Politiker Horst Seehofer bekommen soll. Auch mit dem Essen – neben Brezeln gibt es Mettbrötchen und Frikadellen – ist sie unzufrieden: »Als Vegetarierin hat man in der SPD irgendwie immer die Arschkarte gezogen.«

Ein paar Tage später, in der Dortmunder Innenstadt: Der SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow hat zur »offenen Wahlkreiskonferenz« in ein Begegnungszentrum der Arbeiterwohlfahrt geladen. Eigentlich richtet sich das Angebot des Hauses an ältere Menschen, doch das Publikum bei dieser Veranstaltung ist gemischt. Die Selbstbeschreibung des Zentrums passt trotzdem ganz gut zum Zustand der SPD: »Die Angebote des Hauses orientieren sich an den Wünschen der Besucherinnen und Besucher nach möglichst langem Erhalt von Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und ­Mobilität.« Zumindest empfinden viele in der nordrhein-westfälischen SPD die Neuauflage der Großen Koalition als Selbstentmündigung der Partei.

Bülow sitzt seit 2002 für die SPD im Bundestag. Seinen Dortmunder Wahlkreis hat er immer souverän gewonnen. Im Bundestag ist Bülow so etwas wie die innerparteiliche Opposition. Er stimmt immer mal wieder gegen den Rest der Fraktion und sagt er öffentlich, wenn er Entscheidungen falsch findet. An diesem Tag erläutert er, warum eine Neuauflage der Großen Koalition aus seiner Sicht verkehrt ist. An der Kluft zwischen Arm und Reich ändere sich nichts, das Rentenniveau bleibe weiter miserabel und auch bei der gesetzlichen Krankenversicherung habe man nichts erreicht. Die gut 50 Menschen, die gekommen sind, nicken bei Bülows Äußerungen oft.

Doch als die Diskussion beginnt, erntet der 46jährige erstaunlich viel Widerspruch. Peter Taschek etwa, ein älterer Herr, der »seit fast 40 Jahren in der SPD« ist, sagt, die Partei könne sich nicht auf die Rolle des Kritikers von außen zurückziehen und müsse »Verantwortung übernehmen«. Eine ältere Frau plädiert dafür, in die Große Koalition einzutreten und dann der Parteiführung »Pfeffer in den Hintern« zu blasen, damit sie sozialdemokratische Inhalte durchsetze.

Kontra gibt es eher von den jüngeren Leuten im Publikum. Ein Jungsozialist aus Schwerte kritisiert den gesamten letzten Bundestagswahlkampf. Das Thema Einkommensverteilung sei fast gar nicht vorgekommen.

Einem Mann, der sich als »Gast und Wähler« der SPD vorstellt, gefällt das gar nicht. »Dafür, dass ihr einen Wahlkampf mit schlechten Inhalten gemacht habt, können wir doch nichts, dass hättet ihr anders machen müssen«, sagt er. Das ist auch ein Vorwurf, der gegen Bülow hinter vorgehaltener Hand immer wieder erhoben wird. Bülow habe sich bequem in seiner Rolle als Kritiker eingerichtet, ihm fehle es aber an Ambitionen, wirklich etwas in der Partei zu ändern und dafür auch einmal nach vorne zu treten.

 

Das Gesicht der »NoGrokos«

 

Kevin Kühnert kann man diesen Vorwurf sicher nicht machen. Der Bundesvorsitzende der Jusos ist das Gesicht der innerparteilichen Gegner der Großen Koalition. In Duisburg füllt er eine Halle mit fast 500 Zuhörern. Neben sehr vielen Jusos sind auch ältere SPD-Anhänger da, darunter einzelne Landtagsabgeordnete. Kühnert beantwortet entspannt Reporterfragen und erfüllt Selfie-Wünsche von Juso-Mitgliedern. Ein Fan davon ist er nicht. »Personenkult und übertriebene Identifikationen sollte man sich sparen«, sagt er später am Abend mit Blick auf die Wahlkampagne des inzwischen geschassten SPD-Vorsitzenden Martin Schulz.

 

Die Strukturen in der SPD sind festgefahren, aber derzeit hoffen viele junge Parteimitglieder, sie verändern zu können.

 

In Duisburg diskutiert Kühnert mit dem Bundestagsabgeordneten Ulrich Kelber. Der ist für die Große Koalition. Sie bringe »konkrete ­Verbesserungen für Hunderttausende Menschen«. Kühnert sieht das anders. Er findet, die SPD beschränke sich selbst zu sehr in ihren Forderungen und Ideen. Inhaltlich sind Kelber und Kühnert oft nicht weit auseinander, nur ihre Bewertung ist unterschiedlich. Fast zwei Stunden diskutieren sie an diesem Abend mit­einander. Nach der Veranstaltung geht es für Kühnert noch mit einigen Jusos in eine Eckkneipe in der Duis­burger Innenstadt. Die Stimmung ist gut: 500 Menschen bei einer Juso-­Veranstaltung, das gibt es nur selten. Von vielen Parteimitgliedern bekommen die Jusos gerade enormen Zuspruch. Kühnert sagt: »Wenn wir den Job nicht machen, macht ihn ja sonst keiner.«

Die Strukturen in der SPD sind festgefahren, aber derzeit hoffen viele junge Parteimitglieder, sie verändern zu können. Kühnert ist sich sicher: »Egal was bei der Abstimmung rauskommt, wir haben ein paar Leute erreichen können, die wissen, was nötig ist, um die Partei zu verändern.« Nachts um ein Uhr wird der Juso-Vorsitzende zu seinem Hotel am Duisburger Hauptbahnhof gebracht. Viele Umarmungen und gute Wünsche begleiten ihn. Spätestens beim SPD-Bundesparteitag am 22. April in Wiesbaden will man sich wiedersehen. Dann soll Nahles zur neuen Vorsitzenden gewählt werden. Sollte Kühnert mit seiner »No Groko«-Kampagne gegen den Großteil der SPD-Bundesspitze überraschenderweise Erfolg haben, wäre allerdings völlig offen, was in zwei Monaten in Wiesbaden passiert.