Kann »integrativer Nationalismus« die Krise der Demokratie lösen?

Antiautoritär bleiben

»Integrativer Nationalismus« heißt das neue Rezept gegen den Niedergang der liberalen Demokratie. Doch das Konzept ist weder neu noch eine Wunderwaffe.

Ein politisches Konzept ist derzeit in aller Munde: der »integrative Nationalismus«. Multiethnisch und liberal begegnet er der entfesselten Angstlust rabiater Ethnonationalisten mit einer Botschaft der Hoffnung. Inmitten der populistischen Kältewelle mit ihrer unverkennbaren sibirischen Note umgibt ihn ein Hauch von deutschem Sommermärchen, ein Anflug von Obama-Euphorie. Die Idee mutet an wie eine Flaschenpost aus einer Zeit, als die Welt zwar nicht in Ordnung, aber wenigstens nicht ganz so aus den Fugen war wie heute. Und doch wirkt der Begriff zeitgemäß provokant.

Wie das Konzept auf Deutschland angewandt werden kann, demonstrierte am 22. Februar Cem Özdemir (Die Grünen). Die AfD hatte im Bundestag den Antrag gestellt, zwei von Deniz Yücels Texten aus der Taz als »deutschland­feind­liche Äußerungen« zu rügen. In einer wütenden Erwiderung warf Özdemir den Mitgliedern der AfD-Fraktion vor, die wahren Deutschlandhasser zu sein – Agenten und Handlanger feindlich gesinnter Mächte, sprich Erdoğans und Putins, Verächter der Demokratie und Rassisten sowieso.

 

Mitunter wird es unkonventionelle Bündnisse geben müssen, die von der libertären Linken bis ins liberale bürgerliche Lager reichen.

 

Die Emotionalität von Özdemirs Antwort erklärt sich eigentlich erst aus dem erweiterten Kontext politischer Ereignisse: Mit einem Shitstorm diffamierender Äußerungen hatte eine ganze Troll­armee mutmaßlich aus dem Umfeld von AfD und Identitärer Bewegung auf die Freilassung Yücels im Februar reagiert. Die AfD-Politikerin Alice Weidel behauptete auf Twitter, Yücel sei »weder Journalist noch Deutscher«. Am Tag vor der Freilassung Yücels hatte der AfD-Vorsitzende Sachsen-Anhalts, André Poggenburg, in einer Rede Türkeistämmige mit doppelter Staatsbürgerschaft noch als »Kameltreiber« bezeichnet, die wieder nach jenseits des Bosporus »zurück« sollten – das Publikum skandierte daraufhin »abschieben, abschieben«. Wenige Tage später wurden Özdemir auf der Münchner Sicherheitskonferenz Personenschützer zugewiesen, da die türkische Delegation sich bei der Polizei darüber beschwert hatte, mit einem »Terroristen« – gemeint war Özdemir – in einem Hotel untergebracht worden zu sein. Die stille Kumpanei zwischen den Feinden der liberalen Demokratie, ihre offene Verachtung für alles, was nach heutigen Maßstäben eine einigermaßen freie und offene Gesellschaft ausmacht, und die Notwendigkeit, ihrer Dreistigkeit etwas entgegenzusetzen – all das war in jenen Tagen deutlich spürbar.

Was Özdemir in seiner Rede als Deutschsein skizzierte, entsprach in vieler Hinsicht genau dem Selbstbild ­einer Nation, die sich des aggressiven Nationalismus der Vergangenheit ent­ledigt hat. Dieses Image war dem Rest der Welt bereits während der Fußballweltmeisterschaft 2006 recht erfolgreich vermittelt worden. Antinationale Linke kritisierten dieses Deutschlandbild in jener Zeit vehement. Dabei übersahen sie häufig, dass gerade in der migrantischen Bevölkerung das Angebot, endlich – etwa ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Nachkriegs­mig­ration – als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt zu werden, mit Begeisterung angenommen wurde. Kaum irgendwo hingen in jener Zeit mehr Deutschlandfahnen aus Häusern als in der migrantisch ­geprägten Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Auch Deniz Yücels Texte aus der Jungle World spiegeln diese Begeisterung wieder.

Aber dieses neue Deutschlandbild gab damals schon nur einen Teil der Wirklichkeit wieder. Von dem »faulen Holz«, aus dem, so Özdemir im Bundestag, neben Erdoğan auch die AfD geschnitzt sei, steckt noch immer ei­niges in der bundesrepublikanischen Realität, trotz Weltoffenheit und Doppelpass. Gerade deutsche Behörden zeigen eine beharrliche Resilienz – was auch dazu geführt haben dürfte, dass parallel zum deutschen Sommermärchen, von der breiten Öffentlichkeit ­ignoriert, der NSU-Terror weiter unaufgeklärt blieb.

Jener also im Grunde gar nicht so neuen Idee hat der Politologe Yascha Mounk nun den Namen »integrativer Nationalismus« verpasst. Derzeit reist der Harvard-Dozent und freie Publizist von Vortrag zu Interviewtermin durch Deutschland und die Vereinigten Staaten. Sein neues Buch »Der Zerfall der Demokratie« wird eifrig in den Feuilletons rezensiert und diskutiert.

 

Fusion von Demokratie und Liberalismus retten

 

Mounks Kernthese ist, dass das seit der Nachkriegszeit in den USA und Westeuropa dominante Modell des demokratischen Rechtsstaats durch den Populismus existentiell bedroht ist. Das Modell selbst sei im Begriff, sich in seine Einzelkomponenten zu zerlegen – als undemokratischer Liberalismus einerseits und als illiberale Demokratie ­andererseits. Neu ist diese Vorstellung nicht: Der autoritäre Staatsrechtler Carl Schmitt machte eine ähnliche Beobachtung bereits während der Weimarer ­Republik. Der spätere Unterstützer der Nazidiktatur ergriff damals Partei für eine von allen liberalen Einflüssen bereinigte Herrschaft eines »wahren«, als homogen postulierten Volkswillens. Dass Schmitts Schriften sich auch bei den Neurechten von heute großer Beliebtheit erfreuen, ist nicht verwunderlich.

Mounk hingegen geht es darum, genau jene historische Fusion von Demokratie und Liberalismus zu retten. Nicht zuletzt, weil er davon ausgeht, dass eine Demokratie ohne Liberalismus langfristig keine mehr sein kann, sondern sich unweigerlich in einen ­autoritären Staat verwandelt. Von völkischer Homogenität hält Mounk nichts, er beklagt vielmehr die »misslungene Transformation« monoethnischer Gesellschaften in multiethnische in Europa und den USA.

Das Auseinanderbrechen von Liberalismus und Demokratie führt er überzeugend auf die Aufkündigung des sozialen Elements zurück, das in der Nachkriegszeit der liberalen Demokratie ihren Fortbestand sicherte: die Aussicht breiter Bevölkerungsschichten auf einen besseren Lebensstandard als jenen der Elterngeneration und darauf, dass es die Kinder einmal noch besser haben sollten. Seit Jahrzehnten stagnieren in den westlichen Demokratien die Löhne, Sozialstaatssysteme wurden demontiert oder in Kontrollsysteme transformiert, die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums funktioniert nur noch nach oben. Auch diese Beobachtung ist nicht neu. In seinem Buch »What’s the Matter with Kansas« zeigte der US-Amerikaner Thomas Frank 2004 den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg eines extrem rechten ­Populismus und der Preisgabe der arbeitenden Bevölkerung durch ihre ­ehemaligen politischen Repräsentanten – in dem Fall die Partei der Demokraten – auf.

Der überwiegende Teil der nun von Mounk angeführten Lösungsvorschläge ist ein Potpourri links-grün-sozialdemokratischer Allround-Wunschträume: Klima retten, Löhne erhöhen, Mieten senken, Umverteilen, in Bildung und Digitalisierung investieren. Da der Autor den Anspruch erhebt, Lösungskonzepte für alle bedrohten liberalen Demokratien zu bieten, bleiben die Vorschläge einigermaßen vage. In einem Punkt ist sein Konzept des »integrativen Nationalismus« jedoch weit besser als die linke Volkstümelei, die seit der Wahl Donald Trumps, dem Erscheinen von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« und dem Aufstieg der AfD in Deutschland immer wieder diskutiert wird. Während Sahra Wagenknecht für nationale Abschottung plädiert, ist der »integrative Nationalismus« explizit mit dem Ziel einer multi­ethnischen Gesellschaft verbunden. Er orientiert sich gewissermaßen am Motto des Großen Siegels der Vereinigten Staaten, e pluribus unum (Aus vielen eines).

Der eigentliche Coup ist Mounk aber auf der Ebene der politischen Begriffsbildung gelungen. Politische Begriffe in ihrer jeweiligen Zeit zu prägen, gehört zur hohen Kunst politischer Auseinandersetzungen, und in dieser Hinsicht kann man Mounk nur ein anerkennendes touché zurufen. Der positive Bezug auf Nationalismus, ein Konzept, das in Deutschland noch mehr als irgendwo sonst als desavouiert gelten muss, ist eine Provokation gegen den linken wie den liberaldemokratischen common sense  (siehe Disko-Seite 18). Damit ist dem Begriff des Nationalismus gerade in der heutigen Situation maximale Aufmerksamkeit garantiert. Davon profitieren bislang ausschließlich die rechten Populisten, die mit der Selbstbezeichnung als Nationalisten eine beträchtliche Schockwirkung erzielen können. Eine Gegenposition, die sich ebenfalls auf die Nation beruft, und zwar in ihrem ursprünglichen staatsbürgerlich-republikanischen Sinne, könnte ihre Anti-Establishment-Pose beschädigen.

Zumindest in Deutschland besteht jedoch ein größeres Problem darin, dass sich Mounks Lösungsvorschläge in der Parteipolitik derzeit kaum widerspiegeln. Stattdessen liebäugeln Teile der CDU/CSU bereits mit einer Zusammenarbeit mit der AfD, obwohl diese immer offener den Schulterschluss mit Pegida, der Identitären Bewegung und anderen extrem rechten Gruppen sucht. Die von Mounk skizzierten Lösungen sind allesamt staatliche Großprojekte, die langfristig den autoritären Populismus schwächen könnten. Mit dem Tempo, in dem sich die Verfallserscheinungen der liberalen Demokratie derzeit vollziehen, kann die Verwirklichung solcher Großprojekte aber kaum mithalten.

Mitunter wird es unkonventionelle Bündnisse geben müssen, die von der antiautoritären Linken bis ins liberale bürgerliche Lager reichen. Die Free-Deniz-Kampagne kann hier als Vorbild dienen. Sie hat die Freilassung Yücels zur Sache von Angehörigen sämtlicher politischer Schattierungen von der CDU bis zu den Autonomen gemacht. Aber eine kosmopolitische und radi­kale Linke muss sich die Ideen ihrer Bündnispartner nicht zu eigen machen. Auch der multiethnische Staat ist ein Wettbewerbsstaat, der sich nicht zuletzt über die Konkurrenz zu anderen Nationalstaaten definiert; das setzt ein gemeinsames Interesse von Lohnabhängigen und Kapital voraus, welches im Widerspruch zu transnationaler Solidarität steht. Zudem ist die ­nationalstaatliche Konkurrenz ein kaum zu überwindendes Hindernis etwa in der Klimapolitik. Man muss die Nation nicht den Rechten überlassen – sollen sich die Liberalen darum kümmern.