Die Sozialdemokratie ist mitverantwortlich für den Rechtspopulismus

Sozial total entsichert

Desintegration kann die Demokratie gefährden. Dazu tragen die von der Sozialdemokratie mitzuverantwortenden Abstiegsängste bei.

Die Basis der repräsentativen und damit bürgerlichen Demokratie war stets der soziale Frieden. »Hatte der altliberale Staat in den Anfängen der kapitalistischen Expansion den Widerspruch der Gesellschaft einfach geleugnet, indem er die sich zu Wort meldenden Massen ignorierte; hatte der faschistische Staat die große Mehrheit der Bevölkerung aus dem Entscheidungsprozess mit terroristischen Mitteln ausschließen und den Widerspruch gewaltsam lösen wollen«, schrieb der marxistische Kritiker Johannes Agnoli in seinem 1967 erschienenen Werk »Die Transformation der Demokratie« über die weniger verhüllten Methoden bürgerlicher Herrschaft, müsse sich »die parlamentarische Demokratie in ihrer Struktur und Funktion so weit wandeln, dass sie den Widerspruch erfolgreich glätten und durch staatliche Regelung sozial ausgleichen kann«. Dieser erfolgreichen Glättung des Klassenantagonismus in den untersuchten europäischen Nachkriegsgesellschaften stellte Agnoli die »politische und gesellschaftliche Emanzipation« der Unterdrückten gegenüber, für die er den nunmehr weniger offensichtlichen »Herrschafts- und Repressionscharakter der Gesellschaft« offenzu­legen trachtete.

Trotz der düsteren Prognose der in der Revolte um 1968 breit rezipierten Schrift, dass der Übergang zum »Oligopolkapitalismus« den Verfassungsstaat fast zwangsläufig in immer autoritäreres Fahrwasser führen werde, ging Agnoli, wie fast alle Marxisten vor ihm, davon aus, dass Krisen die Chancen für Revolten erhöhten. Wie schon 1929 und in den Folgejahren haben die Proletarisierten diese Hoffnung auch in späteren Krisen nicht erfüllt. Als richtig erweist sich aber Agnolis Annahme, dass eine stabile Demokratie ohne die soziale Integration der eigentums­losen Klassen nicht zu haben ist. Davon legen nicht nur die autoritären Wenden in vielen Staaten der Erde seit dem Beginn der weltweiten Depression vor zehn Jahren Zeugnis ab, sondern auch die sich mehrenden Desintegrationserscheinungen gerade in den ­alten ­Demokratien des Westens, die unter Begriffen wie Politik- oder Parteien­verdrossenheit die Schlagzeilen prägen. Offensichtlich schlägt sich das auch derzeit wieder kaum in einem Aufbruch zur Aufhebung der Klassengesellschaft, sondern eher in einem Aufschwung von Nationalismus und Anti­humanismus nieder. Zumindest in den progressiveren Teilen des Establishments zeigt man sich darüber beunruhigt.

Sigrid Betzelt, Soziologieprofessorin in Berlin, und Ingo Bode, Professor für Sozialpolitik in Kassel, gehen in ihrer Studie »Angst im Sozialstaat – Hintergründe und Konsequenzen« (Friedrich-Ebert-Stiftung, Wiso direkt 38/2017) dem Zusammenhang zwischen politisch verursachten Ängsten, der Krise der Demokratie und dem Aufstieg der extremen Rechten in der Bundesrepublik nach. Sie äußern sich kritisch über die Reformpolitik der vergangenen beiden Jahrzehnte, an der die Sozialdemokratie entscheidend beteiligt war: »Diejenigen, die die Reformen verantwortet haben, müssten eingestehen, dass die entsichernde Individualisierung von großen sozialen Risiken ein Irrweg war«, heißt es bezüglich der »Agenda 2010«. Durch die soziale Entsicherung seien in ganz verschiedenen Teilen der Gesellschaft Ohnmachts­gefühle entstanden, die nicht nur die Bezieher von Arbeitslosengeld II, sondern auch große Teile der Mittelschicht beträfen, die ihre eigene Existenz immer öfter »als brüchig« empfänden. »Der reformierte Sozialstaat wurde so zum Angsttreiber«, folgern sie.

Angeleitet von Kampagnen aus Politik und Medien hätten sich die meisten Menschen den neuen Anforderungen angepasst. Als Effekt dieser »Angstmobilisierung« sei jeder vermehrt auf sich selbst gestellt und es schwinde der gesellschaftliche Zusammenhalt, heißt es in der Studie. Betzelt und Bode verweisen darauf, dass diese stärker individualisierte Konkurrenzsituation Entsolidarisierung, Rassismus und ­Nationalismus vorantreibe.

Überraschend sind diese Ergebnisse nicht. Analysen faschistischer Massenbewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre haben immer wieder darauf verwiesen, wie die Abstiegsgefahr große Teile insbesondere des Kleinbürgertums, aber auch der Arbeiterschaft ins Lager der Reaktion geführt haben. Gleiches galt, wie Manfred Berg zuletzt in seiner Studie über die »Lynchjustiz in den USA« ausführte, auch für die Motivation des white trash in den Südstaaten, gemeinsam mit der Oberschicht auf barbarische Weise die weiße Vorherrschaft zu verteidigen.

Gegen diese »Angstmobilisierung« schlägt das Autorenduo die Rückkehr zum klassischen Sozialstaat rheinischer Prägung vor. »Erst wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass es unveräußerliche Prinzipien sozialer Sicherheit gibt, stehen auch kleine Schritte in diese Richtung für eine Marschroute weg von der Angst« und zurück zu einer demokratischen Ge­sinnung an, schreiben sie. Dass dies in der SPD Gehör finden könnte, ist allerdings unwahrscheinlich. Zudem vernachlässigt diese Empfehlung, dass die sozialen Angriffe nicht zuletzt das Ergebnis der Desintegrationserscheinungen der Weltökonomie sind, deren Kosten im Kapitalismus systematisch auf die Subalternen abgewälzt werden – mit den skizzierten Folgen. Sollten die Subalternen aber – das kann man aus der Geschichte bürgerlicher Herrschaft und den Schriften Agnolis lernen – statt des Hauens und Stechens untereinander die Solidarität miteinander entdecken, könnte es mit der Demokratie noch schneller bergab gehen; dann aber wegen einer Reaktion der Eliten selbst. So oder so: Die Angst vor der eigenen Politik, die sich in dem ­Papier niederschlägt, ist mit Sicherheit begründet.