Ein Nachruf auf den Theoretiker Moishe Postone

Revolutionär der Antisemitismuskritik

Er war einer der radikalsten und höflichsten Theoretiker der Linken. Zum Tod von Moishe Postone, dem diese Zeitung viel zu verdanken hat.

Ohne Moishe Postone, der am 19. März im Alter von 75 Jahren in Chicago gestorben ist, gäbe es diese Zeitung vermutlich nicht – zumindest nicht mit der Ausrichtung, wie wir sie heute kennen. Die Spaltung in der Redak­tion der Jungen Welt, aus der die Jungle World 1997 hervorgegangen ist, war auch ein Resultat eines Prozesses, der bereits vor der Wiedervereinigung begonnen hat: Ende der achtziger Jahre kursierte Postones Text »Nationalsozialismus und Antisemitismus« als Geheimtipp in jenen Zirkeln, die gerade versuchten, ihren eigenen Marxismus mittels einer Relektüre von Marx’ »Kritik der politischen Ökonomie« sowie mit der Auseinandersetzung mit der klassischen Kritischen Theorie und einer intensiveren Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus neu zu justieren. Der ursprünglich für eine US-amerikanische Publikation verfasste Beitrag löste nach seinen deutschen Erstveröffentlichungen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre zunächst keine großen Diskussionen aus. 1991 druckte die Freiburger Ini­tiative Sozialistisches Forum um den Publizisten Joachim Bruhn ihn in ­ihrer Zeitschrift Kritik & Krise erneut ab, 2005 erschien er in Postones Aufsatzsammlung »Deutschland, die Linke und der Holocaust« im Freiburger Verlag Ça ira, und heute gehört er zur Pflichtlektüre eines jeden an materialistischer Gesellschaftskritik Interessierten. Die Herausgeber von »Deutschland, die Linke und der Holocaust« konstatierten: »Postones Texte beeinflussten bei einem relevanten Teil der radikalen Linken die Aneignung einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die den selbstkritischen Umgang mit der nationalso­zialistischen Vergangenheit zum Ausgangspunkt nimmt.« Damit beförderten sie auch die Entstehung dieser Zeitung, in der alle paar Jahre Interviews mit Postone erschienen sind und in der er mehrere Dossiers publiziert hat.

Joachim Bruhn hat Postones Thesen zum Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Jahrzehnte vorherrschenden marxistisch-leninistischen Verharmlosung des Antisemitismus zu Recht als »Revolutionierung der materialistischen Betrachtung des Antisemitismus« bezeichnet. Seine von den Grundkategorien in Marx’ »Kapital« ausgehende Dechiffrierung des modernen Antisemitismus als Hass auf das Abstrakte, seine deutliche Unterscheidung von Antisemitismus und Rassismus und seine Analyse der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis als Bruch mit der kapitalistischen Verwertungslogik und Herrschaftsrationalität haben ebenso Maßstäbe gesetzt wie seine Kritik an der deutschen Linken und einem sich progressiv wähnenden fetischistischen Antikapitalismus.

 

Postone bewahrte sich eine sympathische Skepsis gegenüber all jenen, die mit Bezug auf ihn und bewaffnet mit mittlerweile weitgehend zu Worthülsen verkommenen Begriffen wie »struktureller Antisemitismus« und »verkürzte Kapitalismuskritik« gegen jeglichen Sozialprotest mobilisierten.

 

In der Rezeption von Postones Antisemitismus-Thesen machte sich mitunter eine Tendenz zur theore­tisierend-rationalisierenden Abwehr von Geschichte bemerkbar, die ihm selbst allerdings kaum vorzuwerfen ist. Für Postone bildeten die jüdische Erfahrung von Gewalt und Vernichtung und das Entsetzen angesichts des Antisemitismus in der deutschen Linken den Ausgangspunkt der kri­tischen Anstrengung. Sein Vater, ein Rabbiner aus Litauen, konnte im August 1939, nur eine Woche vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, nach Kanada ausreisen. Dort lernte er seine in der Sowjetunion in der Zeit des stalinistischen Terrors aufgewachsene Frau kennen und 1942 wurde Moishe Postone geboren. Die gesamte Familie des Vaters und große Teile der mütterlichen Verwandtschaft wurden in der Shoah ermordet.

Postone besuchte die jüdische Grundschule in Edmonton im westlichen Kanada, anschließend die jüdische High School zunächst in Los Angeles und dann in Chicago. An der University of Chicago studierte er zunächst Biochemie, doch schon bald Intellectual History, unter anderem bei Hannah Arendt, die laut Postone damals die einzige Lehrende an der Universität war, die sich in ihren ­Seminaren mit Marx und Hegel beschäftigte.

Postone lernte in München Deutsch, bevor er Anfang der Siebziger an die Universität in Frankfurt kam, wo er bei Iring Fetscher promovierte und sich intensiv an den Diskussionen der Neuen Linken beteiligte. In New York hat er in den Siebzigern am Brooklyn College und am Richmond College unterrichtet. Seit 1987 lehrte er European Intellectual History und kritische Sozialtheorie an der University of Chicago, zuletzt als Professor am Department of History.

Bereits 1985 hatte Postone anlässlich des Besuchs von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg einen offenen Brief an die westdeutsche Linke geschrieben, dessen Inhalt von großen Teilen jener Linken bis heute ignoriert wird. Den proamerikanischen Atlantizismus der damaligen deutschen Konservativen charakterisierte Postone als eine bequeme Form, die BRD als normale Demokratie erscheinen zu lassen, ohne sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Den Antiimperialismus der Linken dechiffrierte er angesichts dessen, dass »Hunderttausende bereit sind, gegen den amerikanischen Imperialismus zu demonstrieren, und nur ein paar Hundert gegen die Rehabilitation der Nazi-Vergangenheit«, als plumpen Antiamerikanismus und alternative Form der Schuldabwehr. Der Brief wurde Anfang der neunziger Jahre auf Initiative des Publizisten Matthias Küntzel in der Zeitschrift Bahamas wiederveröffentlicht – und er ist bis heute eine der lesenswertesten Kritiken der postnazistischen deutschen Gesellschaft und ihrer Linken.

Postones Buch zu Marx, »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft«, erschien 1993, basierend auf seiner Frankfurter Dissertation von 1983, bei Cambridge University Press und wurde mit dem renommierten Preis der American Sociological Association ausgezeichnet. Als es zehn Jahren später bei Ça ira auf Deutsch erschien, gab es in der Jungle World nicht nur eine ausführliche Besprechung, sondern eine ganze »Disko«-Reihe zu Postones »neuer Interpre­tation der kritischen Theorie von Marx«.

Seine Studie ist ein Einspruch gegen jenen wert-, geld- und preisidealistischen Mathematikersozialismus, der stets nur Verteilungsprobleme sieht und in der Regel meint, sie durch alternative Steuerpolitik lösen zu können, aber nie die Wertförmigkeit der Arbeitsprodukte thematisiert. Postone wendet sich gleichermaßen gegen den Traditionsmarxismus mit seiner überhistorischen Vorstellung vom Proletariat als Subjekt der all­gemeinen Emanzipation und gegen poststrukturalistische Theorien mit ihrer schlichten Leugnung einer durch den Wert vermittelten Totalität. An die Stelle der traditionsmarxis­tischen Vorstellung eines Grundwiderspruchs von Kapital und Arbeit setzt er ganz im Sinne der Kritischen Theorie die Diskrepanz zwischen Bestehendem und Möglichem. Den entscheidenden Antagonismus des krisenhaften Kapitalismus ortet er, inspiriert von einem zentralen Gedanken in Marx’ »Grundrissen« und ähnlich wie die Wertkritiker um Robert Kurz, mit denen er zeitweise in regem Kontakt stand, in einem wachsenden Widerspruch zwischen Wert und stofflichem Reichtum.

 

 

 

Gegen Ende seines Lebens hielt Postone nochmals fest, dass das meiste, was unter dem Titel »Marxismus« fungiert, viel eher ein »Engels­ismus« sei, und Engels in vielen Punkten »wirklich nicht verstanden hat, worum es bei Marx geht«. Im Gespräch mit dem ORF-Korrespondenten Raimund Löw erklärte Pos­tone auf dem Wiener Humanities Festival dem erstaunt dreinblickenden ehemaligen Trotzkisten im ­November 2017, dass »Marx keine Kritik der Gesellschaft vom ›Standpunkt der Arbeit‹, sondern eine Kritik der Arbeit« formuliert hat: »Es ging ihm um die Abschaffung der proletarischen Arbeit, nicht um ihre Verwirklichung oder ihre Glorifi­zierung.«

 

Die »neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt« zur Zeit der Zweiten Intifada und den antisemitischen Islamismus verstand Postone in Fortführung seiner Überlegungen zum Nationalsozialismus als »fetischisierte, zutiefst reaktionäre Form von Antikapitalismus«.

 

Postone bewahrte sich eine sympathische Skepsis gegenüber all jenen, die mit Bezug auf ihn und bewaffnet mit mittlerweile weitgehend zu Worthülsen verkommenen Begriffen wie »struktureller Antisemitismus« und »verkürzte Kapitalismuskritik« gegen jeglichen Sozialprotest mobilisierten. Bei allen Einwänden gegen die Bewegungslinken betonte Postone stets die Notwendigkeit der Kritik an der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Seine scharfe Kritik eines fetischistischen Antikapitalismus schlug nie um in Verachtung für die materiellen Bedürfnisse der abhängigen und der abgehängten Massen: »Man kann nicht verlangen, dass, wer protestiert, alle drei Bände des ›Kapitals‹ gelesen haben muss.«

Die »neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt« zur Zeit der Zweiten Intifada und den antisemitischen Islamismus verstand Postone in Fortführung seiner Überlegungen zum Nationalsozialismus als »fetischisierte, zutiefst reaktionäre Form von Antikapitalismus«. Und es wäre zu hoffen, dass Postones Antisemitismuskritik in Zukunft dazu dienen kann, die dringend notwendige Solidarität mit Israel wieder ein wenig aus jener theorielosen Selbstbezüglichkeit herauszuführen, in der sich einige in den letzten Jahren eingerichtet haben, und sie wieder stärker auf eine ideologiekritische Grundlage zu stellen, die den Zionismus als jene prekäre Notwehrmaßnahme gegen die antisemitische Raserei versteht, die er in allererster Linie ist.

Postones eigenes Verhältnis zu den diversen Ausprägungen des Zionismus blieb ambivalent. Selbst noch wenn es um die dezidiert antisemitischen Spielarten des Antizionismus ging, wie beispielsweise bei der Muslimbruderschaft, konnte er sich nicht ganz von korrespondenztheoretischen Erklärungsmodellen lösen, die nahezu zwangsläufig ein Moment einer entschuldigenden Rationalisierung implizieren. Seine Kritik des manichäischen Antiimperialismus vieler Linker ging bei Postone mitunter mit Rettungsversuchen für einen historischen, universalistisch argumentierenden Antizionismus einher.

Doch auch zur kommunistischen Tradition des Antizionismus aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus, in der seine eigenen antizionistischen Positionen der siebziger Jahre stehen, äußerte er sich später kritisch. 2010 erklärte er zwar, diese »Spielart des Antizionismus« sei »nicht notwendigerweise antisemitisch«, kritisierte aber, dass sie von einem »abstrakten Universalismus« geprägt sei, der die spezifische jüdische Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung zum Verschwinden bringt.

In den letzten Jahren äußerte Postone sich immer wieder auch zu Fragen der internationalen Politik: Die Syrien- und Irak-Politik Barack Obamas hielt er für einen »Fehler«; die vom US-Präsidenten »erhoffte große Veränderung, insbesondere mit dem Iran-Deal« sei, »Ausdruck von Naivität«. Postone kritisierte das Ausblenden der antisemitischen Motive islamistischer Angriffe in Europa, wandte sich entschieden gegen das Gerede von der »Islamo­phobie« als neuem Antisemitismus und echauffierte sich über Judith Butler: »Einige renommierte Akademiker in den Vereinigten Staaten haben kein Problem damit, die Hizbollah und die Hamas zur globalen Linken zu zählen. Das ist wahnsinnig.«

Doch wenn es nicht gerade um ausgewiesene Nazis, Islamisten oder ihre Unterstützer in der westlichen Linken ging, wollte Postone mit seiner Kritik einen Gegenstand treffen, nicht seinen Gegner vernichten. Auf Einwände und Angriffe, die es reichlich gab, reagierte er in aller Regel nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit einer insistierenden Freundlichkeit, die Schule machen sollte: Postone war einer der höflichsten Gesellschaftskritiker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Zeitlebens blieb er ein empathischer Lehrer und ein zu lebendiger Erfahrung fähiger eingreifender Intellektueller, der nie zu einem interesselosen akademischen Sachbearbeiter mutierte.

In den letzten Jahren verbrachte Postone wieder viel Zeit in Deutschland und Österreich. In Berlin forschte er an der Amerikanischen Akademie, in Wien war er Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen, und er hatte noch einiges vor: Er wollte eine Leseanleitung zum »Kapital« veröffentlichen, und im Anschluss an »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« wollte er die Kritische Theorie »von ihrem Kapitalbegriff und ihrer Kapitalismuskritik aus darstellen« und sich dabei sehr viel stärker als bisher auf Adorno beziehen, zu dem er 1999 erklärt hatte, er habe ihn in »Time, Labor and Social Domination« »elegant umgangen«.

Kürzlich hatte er zugesagt, auf der internationalen Konferenz mit dem reichlich überambitionierten Titel »An End to Antisemitism« Ende Februar an der Wiener Universität seine Überlegungen zum Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaft und Antisemitismus einem alles andere als linksradikalen Publikum zu präsentieren. Aufgrund seiner schweren Erkrankung konnte er diese Gelegenheit nicht mehr wahrnehmen.

Die Trauerfeier für Moishe Postone fand letzte Woche in der Congregation Rodfei Zedek in Chicago statt. Am 20. März wurde er auf dem Friedhof Oak Woods beigesetzt.