Die Grünen wollen sich ein neues Grundsatzprogramm geben

Irgendwas mit Menschen

Die Grünen wollen sich ein neues Grundsatzprogramm geben. Und weil die Partei inzwischen erkannt hat, dass es auch jenseits ihrer Stammklientel Menschen gibt, soll ihr gleich die »gesamte Gesell­schaft« bei der Selbstfindung helfen.

Manches Satirikerherz dürfte derzeit höher schlagen. Denn nicht nur soll es 2020, zum 40. Geburtstag der Grünen, ein neues Grundsatzprogramm geben. Schon die Ankündigung für den »Startkonvent zum Grundsatzprogramm«, der diesen Freitag und Samstag in Berlin stattfinden soll, hat es in sich. Bereits dem Titel der Veranstaltung »Neue Zeiten. Neue Antworten.« haftet etwas Dräuendes an. Spontan möchte man fragen, zur Begründung welcher neuerlichen inhaltlichen Volten die Behauptung von der Neuartigkeit der Zeiten dienen soll. Doch darauf erhielte man wohl keine Antwort, denn »am Anfang stehen Fragen, keine Antworten«. Zur Erarbeitung der Fragen hingegen sind alle, und zwar wirklich alle eingeladen: »Grüne Politik will das Leben der Menschen, und zwar aller Menschen, besser machen. Deshalb laden wir die gesamte Gesellschaft ein, sich an der Erarbeitung unseres neuen Grundsatzprogramms zu beteiligen.«

 

Eine schwarz-grüne Regierung oder die »Jamaika-Option«, mit der die grüne Parteiführung 2017 liebäugelte, wird ohne vollständige Selbstaufgabe mit keinem der um die Nachfolge Angela Merkels buhlenden Kehrtwendenkonservativen vom Schlag eines Jens Spahn machbar sein. Was somit bleibt, ist der hilflos-pastorale Appell an »den Menschen«.

 

Ist das nur Liquid-Democracy-Lyrik für untote Anhänger der Piratenpartei, oder bereitet sich da gar die nächste große Sammlungsbewegung vor, noch breiter angelegt als die von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht erträumte Vollversammlung des volksdeutschen Proletariats? Ja, vollumfänglicher sogar als die AfD, die stets für das gesamte »deutsche Volk« sprechen will? Die Kapitelüberschriften in der Einladung zum »Startkonvent« könnte man als Indiz dafür werten: Unter dem Titel »Der Mensch und die Maschine oder der Mensch als Maschine« möchten sich die Grünen über Digitalisierung unterhalten, unter »Der Mensch und das Leben« soll es um »Bioethik« gehen und unter »Der Mensch in einer Welt der Unordnung« wird zur außenpolitischen Kehrwoche gerufen.

Aber – insofern Entwarnung – zur Bildung einer echten Sammlungsbewegung taugt das alles nicht und soll es wohl auch nicht taugen. Eher drückt sich hier die Erkenntnis der nunmehr kleinsten Oppositionspartei im Bundestag aus, dass sie sich irgendwohin wird bewegen müssen, will sie jemals wieder einer Regierung angehören. Das Bündnis Rot-Rot-Grün, auf das man bei der Bundestagswahl 2013 zielte, ist sowohl rechnerisch als auch personell so fern wie nie. Eine schwarz-grüne Regierung oder die »Jamaika-Option«, mit der die grüne Parteiführung 2017 liebäugelte, wird ohne vollständige Selbstaufgabe mit keinem der um die Nachfolge Angela Merkels buhlenden Kehrtwendenkonservativen vom Schlag eines Jens Spahn machbar sein. Was somit bleibt, ist der hilflos-pastorale Appell an »den Menschen«. Und so heißt das All in one-Kapitel zu Einwanderung, Integration, innerer Sicherheit und Rechtsextremismus dann auch: »Der Mensch und der Mensch und der Mensch«. Spätestens hier geistert einem unweigerlich der »Ein Mensch«-Dichter Eugen Roth durch den Kopf: »Ein Mensch meint, gläubig wie ein Kind,/Dass alle Menschen Menschen sind.«

Im Jahr 1980 kam der erste Satz im ersten Bundesprogramm der frisch gegründeten Partei »Die Grünen« ohne Erwähnung des »Menschen« aus: »Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien.« Und genau so sahen sie aus, die Überbleibsel der Revolte von 1968, zu denen sich während ihres »Marsches durch die Institutionen« in den siebziger Jahren und zur Partei­gründung allerlei »Mutter Erde«-Kryptofaschisten, »wertkonservative« Landwirte und bizarre maoistische Sektierer gesellt hatten: strickende Zottelbärte, Frauen mit Blumenkränzen im Haar, Latzhosenfreaks und ein einzelner Schlipsträger, der später zur SPD wechseln sollte. Zweifellos schon optisch eine echte Alternative zur grauen Bonner Herrenriege mit ihren sozialdemokratischen Sekundärtugenden und konservativen Wendeträumen. Die zahlreichen Skurrilitäten und Widersprüche im damaligen Bundesprogramm spielten für viele Wähler erst einmal nur eine untergeordnete Rolle – sie erschienen ja irgendwie auch erfrischend menschlich. Die damalige Punkröhre und spätere grüne Wahlkampfsirene Nina Hagen dichtete 1983, im Jahr des Bundestagseinzugs der Partei: »Mensch, au Backe, so ’ne Kacke/Jeder hat ’ne and’re Macke/und ich sage euch die Wahrheit/Endlich heute voller Klarheit/Wir müssen uns verändern/in allen irdischen Ländern.«

 

Was folgte, war die jahrzehntelange gesellschaftsprägende Verbreitung »grüner« Themen in den Bereichen Bildung, Ökologie, Energiewirtschaft, Verbraucher- und Datenschutz, Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Die Partei selbst allerdings konnte davon nicht immer profitieren und flog mit der Wahl 1990 kurzzeitig sogar aus dem Bundestag. Der Mensch als Wähler ist halt unzuverlässig. Dennoch gab es zur Wiedergeburt als Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1993 ein neues politisches Grundsatzpapier, in dem es abermals tapfer menschelte: »Unser Handeln wird bestimmt von einer politischen Ethik, die von der Verantwortung für den Menschen als Individuum, für die Gemeinschaft der Menschen und das Leben im umfassenden Sinn ausgeht.«

Was daraus – nur fünf Jahre später – bei der bislang einzigen Regierungs­beteiligung auf Bundesebene von 1998 bis 2005 wurde, ist bekannt: der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg, der stufenweise Abbau der altgedienten sozialen Sicherungssysteme und die Privatisierung von Staatsbetrieben. Und mittendrin in diesem – nüchtern betrachtet – nicht allzu menschen-, jedoch überaus kapitalfreundlichen Umbau der Repu­blik erfolgte auch die Verabschiedung eines neuen und bis auf Weiteres gül­tigen Grundsatzprogramms, aus dessen Präambel es unter Missachtung der Auswirkungen des eigenen Regierungshandelns tönt: »Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit seiner Würde und seiner Freiheit. Die Un­antastbarkeit der menschlichen Würde ist unser Ausgangspunkt. Sie ist der Kern unserer Vision von Selbstbestimmung und Parteinahme für die Schwächsten.«

Nun kann man eine Kritik der Grünen unter Verweis auf das Kabinett Schröder/Fischer inzwischen durchaus wohlfeil finden. Auch gibt es in den verschiedenen Landesverbänden der Partei weiterhin engagierte Mitglieder, die insbesondere in Ostdeutschland gute Antifa-Politik betreiben und sinnvolle politische Bildungsprojekte fördern.

Allerdings wirkt die Ära Fischer in den Grünen weiter. Das bemerkt, wer sich nicht allzu sehr von den Überschriften ablenken lässt, die sich die Grünen für die Einladung zum »Startkonvent« ausgedacht haben. Unter ­jeder von ihnen findet sich nämlich ein recht unterhaltsam zwischen Sekundarstufenklausur und anthroposophischer Besinnlichkeit oszillierender Fragenkanon. Unter »Der Mensch als Kapital oder das Kapital für die Menschen« werden etwa »neue Fragen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik« ­versammelt, die einen Hauch Selbstkritik aufblitzen lassen: »Ist unser mehrdimensionaler grüner Gerechtigkeitsbegriff noch zeitgemäß?« Ja, da­rüber könnten die Grünen nachdenken. Allerdings würde eine andere Frage eher an den Kern des Problems ­heranführen: War »unser mehrdimensionaler Gerechtigkeitsbegriff« nicht eine brillante Hohlfloskel, die die Grünen gebetsmühlenartig aufsagten, während sie Lohnabhängige und Erwerbslose kräftig übers Ohr hauten?

Aber gut, vielleicht kommen solche Erkenntnisse ja noch. Schließlich steht die Partei erst am Anfang jenes zweijährigen Prozesses, der das neue Grundsatzprogramm hervorbringen soll. Was dabei am Ende herauskommen wird? Prognose: irgendwas mit Menschen.