Die Dokumentarfilme von Ruth Beckermann

Die Reisende

Ihr filmisches Werk beschäftigt sich mit Österreich, dem Judentum, mit Fragen nach individueller Herkunft und kollektiver Identität sowie deren Brüchen und Ambivalenzen. Das Arsenal zeigt in einer Werkschau die Dokumentarfilme von Ruth Beckermann.

Im Jahr 1986 begibt sich die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann von Wien aus auf eine ­filmische Reise, aus der das dokumentarisch-essayistische Werk »Die papierene Brücke« (1987) hervorgeht. Sie fährt in die Bukowina, in den Norden Rumäniens, nach Tel Aviv und Jugoslawien, mit stets offenem Blick, aber von einer drängenden Frage begleitet: »Wer sind wir, die Kinder der Überlebenden?« Beckermann will schauen, ob es »Bilder zu den Geschichten gibt, mit denen ich aufgewachsen bin«, wie sie mit ihrer markanten, wienerisch gefärbten Stimme aus dem Off erzählt. Die Spuren ihrer jüdischen Familiengeschichte bestimmen die Reiseroute, auch wenn sie manchen Ort auslässt und die Erinnerung unangetastet bewahrt. Rosa, ihre Großmutter, überlebte die Shoah, indem sie in Wien untertauchte, in Parkanlagen und öffentlichen Toiletten schlief und sich stumm stellte. In eben dieser so belasteten Stadt bauten sich die Eltern nach dem Krieg eine Existenz auf: Der Vater kam aus Czernowitz und hatte in der Roten Armee gekämpft, die Mutter, gebürtige Wienerin und mit der neuen Heimat Israel eng verbunden, kehrte nur widerwillig in das Land zurück, das ihre Familie verfolgt und ermordet hat.

In einer verstörenden Passage des Films ist Beckermann mit ihrer Kamerafrau Nurith Aviv in Jugoslawien bei einem Filmdreh zugegen. Eine US-amerikanische Fernsehgesellschaft reinszeniert das Ghetto Theresienstadt, Überlebende aus Wien agieren als Komparsen, Beckermann befragt sie nach den Motiven für ihr Mitwirken. »Erleben, was einem erspart wurde«, sagt einer der Statisten, ein anderer stellt fest, dass man ihn immer im scharfen Profil filme – »Was sich die Leute dabei denken, kann ich mir auch denken.«

Ähnlich wie im Werk Chantal Akermans wird jeder Film durch die Betrachtung seiner »Nachbarfilme« reicher, nebeneinander entfalten Beckermanns Arbeiten eine ganz besondere Dichte.

Zurück in Wien hat die sogenannte Waldheim-Affäre um den für das Amt des Bundespräsidenten kandidierenden ehemaligen UN-Generalsekretär ihren Höhepunkt erreicht. Die öffentliche Diskussion über Kurt Waldheim, der seine NS-Vergangenheit erst verleugnete und sich dann mit dem zu oft gehörten Argument der »Pflichterfüllung« herauszuwinden versuchte, brachte das verlo­gene Konstrukt, Österreich sei das erste Opfer der Nazis gewesen, plötzlich ins Wanken. Auf der Abschlusskundgebung des Präsidentschaftswahlkampfs am Stephansplatz bricht der Antisemitismus unter den Waldheim-Sympathisanten unverhohlen hervor. Beckermann, die in der Gruppe der Gegendemonstranten  läuft, hält die Szenen mit einer Videokamera fest.

Mehr als 30 Jahre später stößt die Regisseurin erneut auf das selbst­gedrehte Material. Der Film »Waldheims Walzer« (2018), für den sie in diesem Jahr mit dem Dokumentarfilmpreis der Berlinale ausgezeichnet wurde, rekonstruiert anhand von Fernsehmaterial des ORF, aber auch aus internationalen Archiven den Verlauf der Affäre und schreibt dabei zugleich ein Stück Mediengeschichte. Wie in allen Filmen von Beckermann ragt die Geschichte auch in »Waldheims Walzer« tief in die Jetztzeit hinein, Erinnerungs- und Gegenwartsgeschichte sind nicht voneinander zu trennen – und natürlich wird hier keine rein österreichische Situation beschrieben. »Vielleicht war der Waldheim-Wahlkampf postfaktische Avantgarde«, schreibt Beckermann in ihren »Notizen aus dem Schneideraum«.

 

Das Berliner Kino Arsenal widmet Ruth Beckermann nun eine Werkschau mit elf langen Dokumentarfilmen aus den Jahren 1983 bis 2018. Auch wenn jeder Film sehr gut für sich stehen kann, sind die Querverbindungen, Anschlüsse und »pa­pierenen Brücken« zwischen den Filmen offensichtlich. Ähnlich wie im Werk Chantal Akermans wird jeder Film durch die Betrachtung seiner »Nachbarfilme« reicher, nebeneinander entfalten Beckermanns Arbeiten eine ganz besondere Dichte.

Oftmals liegt den Werken der österreichischen Filmemacherin eine Reise zugrunde. Aber auch in jenen Filmen, die nicht von ständigen Ortswechseln geprägt sind – etwa in »Die Geträumten« (2016), der Ver­filmung des fast 20 Jahre währenden Briefwechsels zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann, gedreht im Wiener Funkhaus mit der Sängerin Anja Plaschg (Soap & Skin) und dem Schauspieler Laurence Rupp –, ist Bewegung stets die treibende Kraft. Unterwegssein, Flucht, Emigration, Fragen nach individueller Herkunft und kollektiver Identität und das ­Lebensgefühl der Unzugehörigkeit sind wiederkehrende Motive. »Un­zugehörig« ist auch der Titel eines so lesenswerten wie erschütternden Buchs, das Beckermann über die jüdische Nachkriegsgeneration in Österreich geschrieben hat.

Nach einem Studium der Publizistik und Kunstgeschichte in Wien und Tel Aviv, an das sich ein Fotografiestudium in New York anschließt, entsteht 1977 in Zusammenarbeit mit einer lokalen Videogruppe Beckermanns erster Film »Arena besetzt« über die Besetzung des ehemaligen Wiener Schlachthofs Arena. Nachdem Beckermann noch zwei kurze Dokumentationen zum Thema Arbeit und Streik in der Gruppe gedreht hatte, beginnt ihre künstlerische Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft – nicht zuletzt durch den Bruch mit jener Linken, deren Gleichsetzungen von israelischer  Politik und Nationalsozialismus für Beckermann nicht mehr erträglich waren.

»Wien retour« (1983), zusammen mit Josef Aichholzer realisiert, mit dem Franz Grafl und Beckermann einige Jahre den Filmverleih Filmladen betreiben, bildet den Auftakt zu einer Trilogie über individuelle und kollektive jüdische Identität (es folgen »Die papierene Brücke« und »Nach Jerusalem«). Der Film ist ein Porträt des Wieners Franz West, ein Zeitzeuge und Chronist des »Roten Wien« wie auch des Wiener Antisemitismus beziehungsweise des Austrofaschismus in den Zwischenkriegsjahren. West, der vor der Emigration Weintraub hieß, war 1924 aus Magdeburg in die lebendige jüdische Gemeinschaft der sogenannten Mazzesinsel gekommen, wie man das von Donau und Donaukanal umgebene Gebiet des 2. Bezirks nannte. Er engagierte sich in der Arbeiterbewegung, wurde 1934 verhaftet und flüchtete von der Gestapo verfolgt nach England.

»Wien Retour« öffnet einerseits einen Raum der direkten Rede – in Form von Wests »oral history« –, andererseits zieht sich eine archivarische Spur durch den Film, wenn Beckermann private Fotos und Sequenzen aus zeitgenössischen Propaganda- und Gebrauchsfilmen in die Erzählung montiert. Ganz am Ende spielt West den Filmemachern ein Tonband vor, auf dem er vom Schicksal seiner Familie erzählt – »es hat mich doch gedrängt, das nicht untergehen zu lassen«. Was folgt ist eine Aufzählung von Daten: Namen, Geburtsorte, Berufe, Routen der Flucht und der Vertreibung, Spuren, die sich verwischen, Todesorte.

Um die Erinnerung aus der Perspektive der Täter und Mitläufer geht es in der Dokumentation »Jenseits des Krieges« (1996). Über einen Zeitraum von fünf Wochen filmten Beckermann und ihr Kameramann Peter Roesler nahezu täglich in der Wehrmachtsausstellung, die nach vielen Stationen in Deutschland 1995 auch in Wien zu sehen war. Was die Ausstellung erstmals öffentlich zeigte – Dokumente und Fotografien über die von der Wehrmacht im Russland-Feldzug begangenen Kriegsverbrechen –, sieht man im Film ­jedoch nicht. Stattdessen konzentriert sich Beckermann auf die Protagonisten, zumeist Zeitzeugen, Kriegsveteranen von der Ostfront beziehungsweise ehemalige Wehrmachtsoldaten, die sie immer knapp und direkt nach dem befragt, was sie von den Verbrechen wussten. Dabei zeigt sich der Komplex der Erinnerung in all seinen Schattierungen: von den typischen Relativierungen (der Hinweis auf den Stalinismus), dem Herausreden und Verschieben (die Selbststilisierung als Opfer), dem Verdrängen, das im Nicht-gesehen-haben-Wollen zum Ausdruck kommt, über offenen Nazismus bis hin zu den eher raren Äußerungen aufrichtiger Erschütterung und Scham. In ihrem Drehtagebuch stellt Beckermann den Mangel an Empathie als »furchtbar verbindendes« Element unter den alten Männern fest. Auch das eine Beobachtung, die in die Gegenwart weist.

 

Werkschau Ruth Beckermann. Kino Arsenal Berlin. Bis 29. Apri