Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ist für die mittleren Lohngruppen enttäuschend

Die Zahlen trügen

Die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes war begleitet von großen Warnstreiks. Das Ergebnis verdeutlicht einmal mehr, dass die Zeit einfach zu erfassender Tarifabschlüsse angesichts einer komplexer werdenden Arbeitswelt vorbei ist.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wollte seinem Ruf als Macher gerecht werden. Dennoch dauerten die Verhandlungen drei Tage. So lange rangen die Arbeitgeber von Bund und Kommunen und die Tarifgemeinschaft der Gewerkschaften unter der Führung von Verdi in der vergangenen Woche um einen neuen Tarifvertrag für die 2,3 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Zum ersten Mal nahm Seehofer als Verhandlungsführer des Bundes an den Gesprächen teil. Die Einigung in der dritten Verhandlungsrunde hatte sich zuvor bereits angedeutet.

Schon vor Beginn hatte der Bundesinnenminister angekündigt, ein Angebot zu unterbreiten und noch in dieser Verhandlungsrunde den Tarifstreit beenden zu wollen. Dazu hatte er sich für die Forderungen der Gewerkschaften wesentlich offener gezeigt als seine Amtsvorgänger. So sagte Seehofer, die Gewerkschaften forderten mit Recht, dass die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst an der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben sollten. »Denn diese Beschäftigten erbringen für unser Land einen ganz wichtigen Dienst«, so der Innenminster.

Dass die Gewerkschaften bei Seehofer auf offenere Ohren gestoßen sind als bei seinem Vorgänger Thomas de Maizière (CDU), ist wenig überraschend. Der CSU-Politiker war Vorsitzender der »Christsozialen Arbeitnehmerschaft« und Landesvorsitzender des Sozialverbandes VdK und galt deshalb vor seiner Zeit als bayerischer Ministerpräsident als einer der profiliertesten Sozialpolitiker der Union. Zudem hatten die Gewerkschaften vor der Verhandlungsrunde den Druck noch einmal erhöht. Allein in der Woche vor den Verhandlungen beteiligten sich 150 000 Beschäftigte an den größten Warnstreiks der vergangenen zehn Jahre und brachten so vielerorts den öffentlichen Dienst zeitweise zum Erliegen – auch in Bayern, wo im Oktober ein neuer Landtag gewählt werden soll. Dort legten wenige Tage vor den Verhandlungen mehr als 17 000 Beschäftigte die Arbeit nieder. In den Medien äußerte sich Seehofer »beeindruckt« von den Warnstreiks und insbesondere dem Rückhalt für die Forderungen der Streikenden in der Bevölkerung.

Gerade die für Verdi besonders wichtigen mittleren Lohngruppen schneiden im neuen Tarifvertrag häufig schlecht ab.

Die Voraussetzungen für eine Einigung waren also gut. Dass die Verhandlungen trotzdem so lange gedauert haben, ist vor allem auf die Weigerung der Kommunen zurückzuführen, ein Kernanliegen der Gewerkschaften zu erfüllen. Diese koppelten ihre Forderung nach einer Erhöhung der Gehälter um sechs Prozent an die Forderung nach einer Mindesterhöhung von 200 Euro, von der insbesondere die unteren und mittleren Lohngruppen, also die Kern­klientel der Gewerkschaften, profitieren sollten. Die Kommunen waren zwar bereit, die Gehälter der Beschäftigten anzuheben, jedoch mit Vorzügen für die höheren Lohngruppen, um so den öffentlichen Dienst für Höherqualifizierte attraktiv zu machen und den gestiegenen Bedarf an Fachkräften zu decken.

Das Ergebnis dieser gegensätzlichen Interessen ist ein komplexes Vertragswerk. Zahlreiche Medien berichten zwar von einer Erhöhung in drei Schritten, bei der die Gehälter rückwirkend zum 1. März um 3,19 Prozent, zum 1. April 2019 um 3,09 Prozent und zum 1. März 2020 um weitere 1,06 Prozent steigen sollen, wobei die lange Laufzeit von 30 Monaten sehr ungewöhnlich ist. Unterschlagen wird dabei jedoch oft, dass diese Erhöhung mit Ausnahme des Pflegebereichs und des Sozial- und Erziehungsdienstes nicht für alle Beschäftigten gleich ausfällt. In allen anderen Bereichen wird die Entgelttabelle grundlegend verändert, in der die Höhe der Gehälter detailliert aufgeschlüsselt ist. Die Prozentzahlen geben so zwar die durchschnittliche Lohnsteigerung wieder; während jedoch einige Lohngruppen in Zukunft deutlich mehr erhalten als die durchschnittliche Erhöhung, liegen die Steigerungen bei anderen unter dem Durchschnitt. Gerade die für Verdi besonders wichtigen mittleren Lohngruppen schneiden häufig schlechter ab. Die unteren Einkommensgruppen wurden statt mit einer Mindesterhöhung von monatlich 200 Euro mit einem einmaligen Festbetrag von 250 Euro abgespeist.

 

Wie viel Geld die Beschäftigten mehr im Portemonnaie haben, ist wegen der komplexen Entgeltstruktur und der Mischung aus Festbetrag und prozentualer Lohnerhöhung fallabhängig. Zudem gilt es hier, auch weitere getrof­fene Vereinbarungen wie die Erhöhung der Nachtarbeitszuschläge im Krankenhausbereich, die Erhöhung der Anzahl der Urlaubstage für Beschäftigte in Wechselschicht oder die Angleichung der Jahressonderzahlungen in Ost und West zu berücksichtigen. Der schwer zu überblickende Abschluss reiht sich so ein in die Tarifverein­barungen der jüngeren Zeit, mit denen die verhandelnden Parteien versuchten, der komplexer werdenden Arbeitswelt gerecht zu werden. Auch die zuletzt abgeschlossenen Verträge in der Metallbranche und bei der Telekom bieten Regelungen, die auf ganz unterschiedliche Beschäftigtengruppen ­zugeschnitten wurden.

Obwohl der Abschluss prozentual weitaus höher liegt als in den vergangenen Tarifrunden, bleibt er hinter den Erwartungen vieler Streikender zurück. Auch wenn die Gewerkschaften ihn als Erfolg feiern – so spricht der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske vom »besten Tarifergebnis seit vielen Jahren« –, konnten sich die Arbeitgeber in wesentlichen Punkten durchsetzen. Insbesondere das erklärte Ziel der Gewerkschaften, die unteren Einkommensgruppen besserzustellen, wurde verfehlt. Durch die überdurchschnittliche prozentuale Erhöhung in vielen oberen Lohngruppen wird der Unterschied zwischen unteren und oberen Einkommen teils noch größer. Wie stark der Unmut an der Basis angesichts des verfehlten zentralen Streikziels ist, dürfte sich erst in der Mitgliederbefragung über die Annahme des Tarifvertrags zeigen.

Eine deutliche Verbesserung gelang hingegen für junge Beschäftigte. So ­erhöhen sich nicht nur die Ausbildungsvergütungen in zwei Stufen um 100 Euro, die Gewerkschaften konnten außerdem einen weiteren Urlaubstag für Auszubildende und Praktikanten und die tarifliche Eingliederung weiterer Ausbildungsberufe im Pflege- und Erziehungsbereich durchsetzen. Auszubildende, die bisher teils ohne Ausbildungsvergütung auskommen mussten, werden künftig nach dem Tarifvertrag für Auszubildende des öffentlichen Dienstes (TVAöD) bezahlt und erhalten etwa 1 000 Euro im Monat. Zudem wurde die erste Einstiegslohnstufe faktisch abgeschafft. Neueingestellte können sich so in der 30monatigen Laufzeit über eine Erhöhung ihres Einstiegsgehalts um zehn bis 13 Prozent freuen. Auch dies ist ein Schritt der öffentlichen Arbeitgeber, um in der Konkurrenz um qualifizierte Nachwuchskräfte nicht länger das Nachsehen zu haben.

Vom Tarifabschluss profitiert damit eine Gruppe, die die diesjährigen Streiks prägte. Es waren vor allem junge Menschen insbesondere aus den sozialen Berufen, die in den vergangenen Wochen für bessere Arbeits- und Lohnbedingungen auf die Straße gingen und mit einem medienwirksamen Vorgehen auf ihre Forderungen aufmerksam machten. Vielerorts ist es vor allem der Gewerkschaftsjugend zu verdanken, dass die Streikbeteiligung weitaus ­höher lag als von den Gewerkschaften erwartet und dass Seehofer sich so ­gezwungen sah, einen schnellen Abschluss zu forcieren.

Damit setzt sich eine Entwicklung der vergangenen zehn Jahre fort. Durch die wachsende gewerkschaftliche Einbindung der sozialen Berufe, die vor allem durch die Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst 2015 nochmals angestiegen ist, beteiligen sich mehr junge und weibliche Beschäftigte an Streiks im öffentlichen Dienst. Damit einher gehen auch Veränderungen im Arbeitskampf. Statt des lange Zeit üblichen Wechselspiels zwischen kurzzeitigen Warnstreiks und anschließenden Verhandlungen treten Beschäftigte selbstbewusst und nötigenfalls auch in Konfrontation mit den eigenen gewerkschaftlichen Verhandlungsführern für ihre Interessen ein.