Demokratie braucht Einwanderung

Die Obergrenze der Demokratie

Die soziale Frage wird auf dem Feld der Migration beantwortet. Wer Demokratie will, muss ja zur Einwanderung sagen.

»Die neuen postmigrantischen Allianzen entstehen, weil die Menschen eine ähnliche Vorstellung von der Gesellschaft haben, in der sie leben wollen«, sagt die Migrationsforscherin Naika Foroutan im Interview mit Günter Piening. Man kämpfe »nebeneinander, Hand in Hand für ein Gesellschaftsmodell, das sich auf das Versprechen der Gleichheit« stütze, das »schon in der Verfassung verankert« sei. In diesem Plädoyer für die postmigrantische ­Gesellschaft macht Foroutan nicht nur die demokratisierenden Effekte der Migration deutlich. Sie zeigt auch, dass Migration der gesellschaftliche Tarn­begriff ist, mit dem antidemokratische Kräfte versuchen, die soziale Ungleichheit zu verschärfen. Wenn etwa von Obergrenzen für Flüchtlinge gesprochen wird, so ist damit nicht gemeint, dass weniger Ausländer im Land sein, sondern dass sie weniger Rechte besitzen sollen. Die Abschiebephantasien, die sich in der gegenwärtigen rassistischen Konjunktur lautstark Bahn brechen, meinen keine Abschiebung über die Landesgrenzen hinweg, sondern raus aus dem demokratischen Gefüge – es ist ein direkter Aufruf zur Entrechtung von Migranten. Wenn Horst Seehofer 2011 ankündigte, dass die »Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme« abgewehrt werden müsse »bis zur letzten Patrone«, stellt sich die Frage, in welche Systeme denn die Menschen sonst einwandern sollen.

Die Konjunktur der Einwanderung im »Sommer der Migration« 2015 brachte einen gewaltigen Rück­gewinn von demokratischen Qualitäten mit sich.

Ein Blick in die deutsche Geschichte gibt eine Antwort darauf. Es arbeiteten nie mehr Ausländer in Deutschland als in der ersten Hälfte der vierziger Jahre – als Zwangs- und Sklavenarbeiter in den nationalsozialistsichen Lagern, aber auch als sogenannte Fremdarbeiter. Bis 1942 kamen italienische Arbeiter auf der Grundlage der zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistsichen Deutschland abgeschlossenen Vereinbarungen zunächst freiwillig in das Deutsche Reich. Erst nach dem italienischen »Verrat« von 1943 wurden Hunderttausende italienische Kriegsgefangene und Zivilisten gemeinsam mit Millionen Menschen aus den besetzten Ländern Europas zur Sklavenarbeit in Deutschland gezwungen. Auch wenn das damals bereits bis zur letzten Patrone verteidigte System der Zwangs- und Sklavenarbeit nicht unbedingt das ist, was Seehofer heute vor Augen hat, bleibt es das Menetekel dessen, was die brutale Parole »Ausländer raus« vor allem meint: neben der Möglichkeit der physischen Abschieben die Abschiebung in die Entrechtung.

Auch die Ära der Gastarbeit, in der Millionen von Migranten und Migrantinnen am Fließband, auf den Äckern, unter Tage oder auf den Baustellen dazu beitrugen, den Reichtum des Wirtschaftswunderdeutschland zu produzieren, war geprägt von umfangreicher Exklusion – Verweigerung von Deutschkursen, Internierung in Wohnbaracken, Verweigerung des Wahlrechts, Verweigerung von Bildungschancen, mieser Entlohnung und schlechter medizinischer Versorgung. Abschieben meint immer abschieben in die Rechtlosigkeit. Obergrenzen meint Obergrenzen für soziale Rechte.

Die Jahrzehnte währenden Kämpfe der ehemaligen Gastarbeiter um Teilhabe an bürgerlichen Rechten und am Versprechen von Gleichheit haben die rassistische Hierarchisierung dieser Gesellschaft frontal in Frage gestellt. Der wehmütige Traum heutiger So­zialdemokraten von einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums in den Koordinaten der Nation blendet jene aus, die für die guten Zeiten der sozialen Marktwirtschaft von den sechziger bis achtziger Jahren bitter bezahlt haben – die sich krumm gearbeitet haben, damit ein Teil der deutschen Arbeiterklasse in Angestelltenjobs wechseln konnte. Sozialdemokratie unter den Bedingungen des Kapitalismus bedeutet Demokratie für die einen auf der Basis von Entrechtung der anderen. Der Kampf um Rechte ist in der Migration angelegt, weil ihre Subjekte mit systematischer Ausgrenzung konfrontiert sind und diese aus ihren Lebensumständen heraus zu überwinden suchen. Er bedeutet hingegen eine permanente Ausweitung demokratischer Verhältnisse – egal ob die einzelnen Migranten nun besonders demokratisch gestimmt sind oder nicht. Davon hat dieses Land, ebenso wie die anderen Länder Europas, profitiert.

Während diese demokratischen Verhältnisse als selbstverständliche Qua­lität dieser Gesellschaft anerkannt und genossen werden, wird deren rassistische Konstitutionsbedingung unsichtbar gemacht und aus dem nationalen Narrativ getilgt. Mehr noch werden diese Errungenschaften als hausgemachte Liberalisierung gefeiert und gleichsam als Leitbild gegen Neuankommende, speziell gegen die Geflüchteten von 2015, als Werkzeug zur Verweigerung von Rechten gewendet. Integration nennt sich das.

 

Dieser Mechanismus lässt sich lehrbuchartig am NSU-Komplex begreifen. Die Kölner Keupstraße war eines jener heruntergekommenen innerstädtischen Arbeiterquartiere, die ehemalige migrantische Fabrikarbeiter bezogen und denen sie, ebenso wie Berlin Kreuzberg, dem Hamburger Schanzenviertel oder dem Münchner Westend, ein neues Erscheinungsbild gaben, das diese bis heute prägt. In der Wirtschaftskrise Anfang der siebziger Jahre sollten die aus den Fabriken gefeuerten Gastarbeiter das Land bis zur nächsten Wirtschaftskonjunktur wieder verlassen. Doch die Leute blieben, holten ihre Familien, kämpften für Kindergeld, Schulbildung, anständiges Wohnen, Gesundheitsversorgung, kommunales Wahlrecht und ökonomische Selbständigkeit – kurz, erkämpften sich die Einwanderung in die sozialen Systeme, die sie zuvor mit erwirtschaftet hatten. Und diese Emanzipation aus dem Dispositiv der Entrechtung zeigte ­Wirkung.

Als der NSU im Juni 2004 mit einer Nagelbombe ein Massaker auf der Keupstraße anrichtete, ging es um einen Angriff auf diesen demokratischen Impuls, der sich aus der Kanakisierung der hiesigen Verhältnisse entwickelt ­hatte. Und trotz entrüsteter Ablehnung dieser Gewalt wurde dieser Angriff auf die Pluralisierung der Gesellschaft institutionell und medial fortgeführt. Die Verletzten und Geschädigten des NSU-Terrors sowie die Familien der Ermordeten, die in diesem Land ihre Geschäfte betrieben, Kinder großzogen, die teilweise deutsche Staatsbürgerschaft besaßen und sogar hier geboren waren, wurden wieder zu Fremden gemacht.

Sie wurden in den Medien als integrationsunwillige Parallelgesellschaften diffamiert, von der Polizei jahrelang als mutmaßliche Täter gequält, von der Politik als Störenfriede gedemütigt, von den Geheimdiensten bespitzelt und belogen und von der Mehrheitsgesellschaft gemieden. So  konnte der NSU sein Werk fortsetzen, die etablierte Einwanderungsgesellschaft zu destabilisieren und die postmigrantischen Bewohner dieses Landes erneut zu entrechten.

Der NSU-Komplex kann als ein Resultat der Wiedervereinigung verstanden werden. Die kapitalistische Abwicklung der ostdeutschen Infrastruktur wurde mit dem heraufbeschworenen Bild einer homogenen Nation kompensiert. Die diskursive Integration der neuen Bundesbürger wurde auf dem Rücken der Migrantinnen und Migranten ermöglicht. Die Toten von Mölln, Solingen und Lübeck waren Teil eines umfassenden Versuchs, die migrantische Bevölkerung zu entrechten, was sich nicht nur in der Änderung der Verfassung und der massiven Einschränkung des Grundrechts auf Asyl zeigte.

Die Antwort auf die soziale Frage liegt in der postmigrantischen Gesellschaft. Die Konjunktur der Einwan­derung im »Sommer der Migration« 2015, als eine Million Menschen sich ihren Weg in die deutschen Sozialsysteme erkämpften, brachte einen ge­waltigen Rückgewinn von demokratischen Qualitäten mit sich.

Die Refugees machten vor, was Demokratie bedeutet, und ermöglichten es Millionen von Alteingesessenen, es ihnen gleichzutun. Die unzähligen solidarischen Netzwerke in den Kommunen und Vierteln setzten den Kampf um angemessenes Wohnen, Lernen und Arbeiten für alle sichtbar auf die Tagesordnung und ließen den europäischen Traum eines transnationalen Raums wahr werden; sie haben dem Begriff der Demokratie wieder eine herrschaftskritische Bedeutung  verliehen.

Die Rechten haben das verstanden und versuchen ihr Prinzip der Hierarchisierung und Entrechtung mit aller Gewalt durchzusetzen. Das Feld, auf dem sie dies tun, ist die Migration, und so sprechen diese Populisten von morgens bis abends von nichts anderem.

Migration ist in der Tat das Feld, auf der sich die Frage der Inklusion aller Menschen vor dem Horizont des Gleichheitsversprechens beantworten wird. Hier zeigt sich, ob es eine Obergrenze für Demokratie geben wird oder ob die Verhältnisse der menschlichen Unterdrückung in der permanenten ­Ausweitung individueller wie kollektiver Rechte überwunden werden ­können.