Israel hat sich seit seiner Gründung zum High-Tech-Land entwickelt

Vom Kibbuz zum Start-up

Von einem demokratisch-sozialistischen Modellstaat hat sich Israel zu einer Hightech-Nation entwickelt, die Investorengelder und Forschungs­einrichtungen aus der ganzen Welt anzieht. Möglich wurde die Erfolgs­geschichte durch Abenteuersinn und eine weitgehende Liberalisierung der Wirtschaft.

Als der Staat Israel vor 70 Jahren gegründet wurde, sollte mit ihm das Experiment glücken, eine sozialistische und demokratische Gesellschaft aufzubauen. Schon lange vor der Staatsgründung war in Kibbuzen versucht worden, ohne privates Eigentum gleichberechtigt zusammenzuleben. Jeder Kibbuz war auch eine kleine Republik, zutiefst demokratisch und zugleich ­sozialistisch. Ideale, die in gewissem Maß auch Israel prägten.

Bis Mitte der achtziger Jahre waren zahlreiche Betriebe in der Hand des Staates. Zu den Staatsunternehmen gesellten sich Unternehmen in der Hand der Gewerkschaft wie Wohnungsbaukonzerne und Versicherungen. Nach einer schweren Bankenkrise und angesichts einer Inflation von bis zu 450 Prozent kam es mit der Einführung des Neuen israelische Schekels (NIS) 1985 zu einem Währungsschnitt, dem eine Liberalisierung der Wirtschaft folgte. Zahlreiche Staatsunternehmen wurden privatisiert. Israel folgte damit dem wirtschaftspolitischen Kurs nahezu ­aller westlicher Staaten, stand aber durch den Zusammenbruch des Ostblocks vor besonderen Herausforderungen.

In den 20 Jahren zwischen dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Jahr 2010 wanderten über eine Million Menschen allein aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Israel ein. Viele von ihnen waren hochqualifiziert, was ihnen bei der Jobsuche anfangs nicht viel nutzte. »Es gab Mathematikprofessoren, die als Straßenfeger arbeiteten. Wir wollten diese Menschen in Israel halten, aber es war klar, dass sie weiterziehen würden, wenn sie hier keine Chance bekommen würden«, sagt Grisha Alroi-Arloser, Geschäftsführer der Deutsch-Israelischen Industrie- und Handelskammer in Tel Aviv. Als Reaktion auf das Problem entstand 1991 das staatliche Inkubatorenprogramm. Sein Ziel war es, möglichst schnell viele neue und leistungsfähige Unternehmen zu gründen, um so Arbeitsplätze für die gut qualifizierten Neubürger zu schaffen. Wer eine erfolgsversprechende Idee für ein Technologieunternehmen hatte, bekam zwei Jahre lang 85 Prozent des für die Gründung benötigten Kapitals als Darlehen vom Staat. Ging eine Firma pleite, musste das Darlehen nicht zurückgezahlt werden. »Die anderen 15 Prozent des Kapitals«, sagt Alroi-Arloser, »kamen von den drei Fs: Fools, Friends und Family – von Irren, Freunden und der Familie.« Über zwei Dutzend solcher Zentren wurden im Laufe der Jahre gegründet.

Distanz zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gibt es in Israel nicht.

Je zehn Unternehmen versuchen in jedem Zentrum mit ihren Ideen Erfolg zu haben. Die Zeiten, in denen der Staat sie finanzierte, sind allerdings vorbei, sagt Alroi-Arloser: »Heute vergibt der Staat Lizenzen für solche Inkubatoren und die Unternehmen stehen Schlange, um eine Lizenz zu erhalten.« Israel ist ein Land der Forscher und Entwickler. Und das längst nicht nur in den Inkubatoren, den Geburtsstätten für junge Unternehmen: Von Apple bis Facebook, von Siemens bis zur Telekom, von Merck bis IBM – Hunderte westlicher Technologieunternehmen haben Forschungseinrichtungen in ­Israel gegründet. Oft arbeiten sie eng mit den Universitäten zusammen, die zum Teil lange vor der Gründung des Staates Israel bereits einen hervorragenden Ruf hatten.

Im ersten Verwaltungsrat der 1918 gegründeten Hebrew University of Jerusalem saßen mit Albert Einstein, Sigmund Freud und Martin Buber drei der bekanntesten Wissenschaftler ihrer Zeit. Distanz zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gibt es in Israel nicht. Die Universitäten arbeiten eng mit forschenden Unternehmen zusammen und unterstützen ihrerseits die Ausgründung von Unternehmen. Auch die Forschung selbst ist frei. Ob Genetik, Künstliche Intelligenz oder Robotik – der Staat reglementiert die Arbeit der Wissenschaftler kaum. Ein Vorteil, so Alroi-Arloser, sei auch, dass die Gründer oft mehrsprachig und international gut vernetzt seien.

 

So würden sich auch Start-ups schnell am Weltmarkt orientieren. Alroi-Arloser: »Wenn an der TU Aachen acht Studenten ein Unternehmen gründen, ist die Chance hoch, das bei allen die Muttersprache Deutsch ist und sie aus Deutschland, wahrscheinlich sogar aus Nordrhein-Westfalen, kommen. Gründen acht Studenten am Israel Institute of Technology in Haifa ein Unternehmen, kommen vier wahrscheinlich aus England, den USA, Russland oder Frankreich und die vier, die in Israel geboren wurden, haben Wurzeln in Europa oder Nordafrika. Sie sprechen mehrere Sprachen und haben Kontakte in verschiedene Länder.«

Israel ist ein Paradies für Programmierer, Ingenieure und Gründer – und der Staat und die Privatwirtschaft tun alles dafür, dass es so bleibt. Kein Land auf der Welt steckt einen größeren Teil seines Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung als Israel: 4,25 Prozent waren es im Jahr 2017. Die Staaten der Europäischen Union kommen zusammen nach Angaben von Eurostat gerade einmal auf knapp über zwei Prozent, Deutschland immerhin auf 2,9 Prozent. Und kein Land zieht mehr privates Risikokapital an als Israel. Nach Angaben der Deutsch-Israelischen Industrie- und Handelskammer entfallen auf jeden Israeli statistisch 548 Dollar Risikokapital, in den USA sind es 230 Dollar pro Person, in China und Indien gut drei Dollar. In Deutschland ist die Summe so gering, dass sie in den Statistiken nicht aufgeführt wird.

Tausende Unternehmen entstehen so jedes Jahr, die meisten scheitern, einige werden, wie Mobileye, das führende Unternehmen für Assistenzsysteme in Autos, aufgekauft. 15,3 Milliarden Dollar zahlte Intel für das 1999 gegründete Unternehmen (Jungle World 16/2017). Diese Unternehmen entwickeln Produkte und Technologien in einer Menge, die für ein so kleines Land wie Israel mit weniger als neun Millionen Einwohnern erstaunlich ist. Neben der Tropfenbewässerung, dem Epiliergerät und der Kirschtomate wurden der USB-Stick, das Solarfenster, Mini-Kameras für medizinische Untersuchungen, 3D-Drucker, die GPS-Navigationssoftware Waze oder WeZu, ein Programm, mit dessen Hilfe potentielle Terroristen erkannt werden können, in Israel entwickelt.

Allerdings hatte Israel auch keine Alternative, als auf eigene technische Entwicklungen zu setzen, und die Gründe waren nicht nur wirtschaftlicher Natur. Es ging schlicht ums Über­leben. Um in der Wüste und im Ödland Landwirtschaft betreiben zu wollen, waren die jüdischen Bauern darauf angewiesen, klug mit dem wenigen Wasser zu haushalten. So entwickelten sie die besten Techniken der Welt, um mit jedem Liter Wasser möglichst viele Lebensmittel herzustellen. Die Not machte die Wüstenbauern erfinderisch.

Doch auch die Gefahren, die von der seit dem ersten Tag bestehenden militärischen Bedrohung ausgehen, haben dazu beigetragen, Israel zu einem Hightech-Standort werden zu lassen: »Wir sind ein kleines Land mit wenigen Menschen und müssen einfach unseren Gegnern technisch immer mehrere Schritte voraus sein«, sagt Arye Shalicar, Direktor für Auswärtige Angelegenheiten im Geheimdienst­ministerium im Büro des israelischen Ministerpräsidenten. In allen Teilen der Armee und der Geheimdienste habe es immer Abteilungen gegeben, die sich der technischen Entwicklung gewidmet hätten.

Das führte auch zum Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie, auch um sich vor Boykotten zu schützen. Dazu gehören staatliche Unternehmen wie Rafael, das unter anderem das Raketenabwehrsystem Iron Dome herstellt, und private wie Elbit Systems, das das Feuerleitsystem für den Panzer Merkava pro­duziert.

Für Shalicar hat die ständige Bedrohung die Menschen in Israel geprägt. Es falle ihnen nicht sehr schwer, es als Unternehmer zu versuchen und das Risiko des Scheiterns einzugehen: »Wer in Israel lebt, ist es gewohnt, mit außergewöhnlichen Situationen klarzukommen. Israelis sind Abenteurer. Das passt gut zur Mentalität, die man braucht, um ein Start-up zu gründen.« Und die Armee sei hilfreich dabei, die richtigen Kontakte zu finden: »Menschen, die gemeinsam bei der Armee waren und auch Gefahren durchgestanden haben, vertrauen einander. Wenn die nach der Armeezeit ein Unternehmen gründen, haben sie enge persönliche Bindungen, die auch halten, wenn man unter Druck gerät.«