Die AfD propagiert Politik gegen Behinderte

Exklusion um jeden Preis

Bislang war in der Behindertenpolitik nicht viel von der AfD zu hören. In den vergangenen Wochen offenbarte die Partei jedoch, was ihr in dem Bereich vorschwebt.

Die AfD-Bundestagsfraktion lehnte sich Ende März sehr weit aus dem Fenster. In einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung zu »Schwerbehinderten in Deutschland« erkundigte sie sich nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem leichten Anstieg der Zahl der Menschen mit Schwerbehindertenausweis und Eheschließungen innerhalb der Familie sowie dem Migrationshintergrund. So fragte die AfD-Fraktion in Punkt 4 der Anfrage: »Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der Behinderten seit 2012 entwickelt, insbesondere die durch Heirat innerhalb der Familie entstandenen (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?« In Punkt 5 schrieb sie: »Wie viele Fälle aus Frage 4 haben einen Migrationshintergrund?« Abschließend wollten die Abgeordneten wissen: »Wie viele der in der Bundes­republik Deutschland lebenden Schwerbehinderten (bitte hier alle Arten von Behinderungen zusammenfassen) besitzen keine deutsche Staatsbürgerschaft (bitte nach Jahren seit 2012 aufschlüsseln)?«

Die größte Oppositionspartei im Bundestag wollte also wissen, ob es mehr Kinder mit Behinderung gebe, weil Menschen, die der hinlänglich bekannten Ansicht der AfD zufolge wegen ihrer »Abstammung« und »Kultur« nicht zu Deutschland gehören, nahe Verwandte heirateten und Kinder mit Behinderungen bekämen. Wie zu erwarten, lautet die Antwort: Nein. Die Bundesregierung führte ihre Antwort Mitte April etwas weiter aus. »Daten zum ­Familienstand der Eltern von Kindern mit Behinderungen werden in der ­Statistik der Schwerbehinderten nicht erhoben«, schrieb sie. Bei mehr als 94 Prozent der schwerbehinderten Menschen handele es sich um deutsche Staatsbürger. Zudem sei die Zahl der Menschen mit angeborenen Behinderungen im angegebenen Zeitraum rückläufig gewesen. Das hätten die AfD-Abgeordneten dank bereits veröffentlichter Statistiken zwar längst wissen können. Aber das Ziel der Anfrage war wohl eher die öffentliche Aufmerksamkeit als das Interesse an der »Sachstandsinformation«.

Bei der Vermengung der Themen Behinderung, Migration, Sex und Bevölkerungspolitik gingen die Autoren und Autorinnen der AfD-Anfrage allerdings recht geschickt vor: Sie verwendeten den abwertenden Begriff »Inzucht« für reproduktiven Sex zwischen eng miteinander verwandten Menschen nicht selbst, sondern zogen einen Artikel der Taz heran, in dem er benutzt wird und der von einer Autorin verfasst wurde, die einen türkischen Nachnamen trägt. Mit der Verwendung eines Textes aus einer linksliberalen Zeitung, geschrieben von einer deutsch-türkischen Autorin, die einen Bruder mit Trisomie 21 hat, sollte die Anfrage wohl gegen Vorwürfe des Rassismus und der Behindertenfeindlichkeit immunisiert werden.

Das hat allerdings nicht geklappt: Unter dem Titel »Wachsam sein für Menschlichkeit« protestierten 18 Sozialverbände und Behindertenorgani­sationen Ende April mit einer Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gegen die »unerträgliche Menschen- und Lebensfeindlichkeit«, die ihrer Meinung nach aus der Anfrage spreche. In der Anzeige, die unter anderem die »Bundesvereinigung Lebenshilfe«, die »Interessenvertretung Selbstbestimmt leben« und die »Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland« unterzeichnet haben, wird kritisiert, die AfD-Anfrage vermittele »die Grundhaltung, Behinderung sei ein zu vermeidendes Übel«, weshalb man sich »an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte« erinnert fühle.

Sich nach einer behinderten­feindlichen Anfrage im Bundestag als Vertreterin von Menschen mit Behinderung zu empfehlen – auch das gehört zum Kalkül der AfD.

Die Formulierungen sind allerdings nicht ganz treffend. Dass Behinderung ein vermeidbares Übel sei, vermittelt nicht nur die AfD, sondern beispielsweise auch das in Frauenarztpraxen ausliegende Informationsmaterial für die Bluttests und die Nackenfaltenmessung, mit denen unter anderem Trisomien festgestellt werden können. Angeborene Behinderungen um jeden Preis vermeiden zu wollen, zeugt von einer Behindertenfeindlichkeit, die keine exklusive Eigenschaft der AfD ist. Die Partei mit Verweis auf »dunkelste Zeiten«, also mit einer Anspielung auf die nationalsozialistische »Euthanasie« zu kritisieren, geht zudem an ihren Aussagen vorbei. Behinderungen verhindern zu wollen, ist qualitativ etwas anderes, als Menschen mit Behinderung zu vernichten.

Bemerkenswert ist, dass die Verbände erstmals gezielt und deutlich Kritik an der AfD übten. Bislang hatten sie sich damit zurückgehalten. Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, sagte der Taz dazu: »Wir haben lange zu menschenverachtenden Sprüchen geschwiegen, um die AfD nicht aufzu­werten. Aber leider ist es ja so: Die AfD wird auch stärker, wenn man nicht ­reagiert.«

 

Die sogenannte Lebensschutzbewegung, die sich sonst gerne und lautstark als Fürsprecher von Menschen mit Behinderungen darstellt, hat hingegen bislang nicht reagiert: nichts von der sonst so kommentarfreudigen »Aktion Lebensrecht für alle«, nichts von der Dachorganisation »Bundesverband Lebensrecht« (BVL), und auch die evangelikale Medienagentur Idea schweigt. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Bewegung der »Lebensschützer« und die organisierten rechten Christen ihr Verhältnis zu der Partei noch nicht geklärt haben und sich weiterhin alle Möglichkeiten offenhalten wollen. In der katholischen Wochenzeitung Die Tagespost darf der kirchenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Volker Münz, jedoch den Antrag verteidigen und die Kritik als »grob unwahr« und »absurd« zurückweisen. Die Redaktion scheint sich entschieden zu haben.

Das Thema bewegt nicht nur die Bundestagsfraktion der AfD. Im saarlän­dischen Landtag sprach sich der AfD-Fraktionsvorsitzende Josef Dörr Mitte April in einer Debatte zu Förderschulen gegen den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung aus. Seine Begründung war vielsagend: Er verglich die Beschulung behinderter Kinder mit dem Umgang von Krankenhäusern mit Patienten mit infektiösen Erkrankungen. »Was aber unter keinen Umständen geht, ist, dass in dem gleichen Krankenhaus oder der gleichen Abteilung dann auch Menschen sind mit übertragbaren Krankheiten, schweren ansteckenden Krankheiten. Das ist ein Bild. Aber in der Schule haben wir die gleiche Situation«, sagte Dörr. An Inklusionsschulen würden Kinder mit Down-Syndrom mit »anderen Kindern, die ganz normal, gesund sind«, unterrichtet. Sozial­verbände, Behindertenorganisationen und die anderen Parteien wiesen auch diese Äußerung scharf zurück.
Was die AfD in der Behindertenpo­litik vorhat, zeichnet sich nach den jüngsten Äußerungen ab. Bisher hatte sie sich in diesem Politikfeld kaum ­geäußert. So ist die Ablehnung von »Inklusion um jeden Preis« die einzige behindertenpolitische Position im 2016 beschlossenen Grundsatzprogramm der Partei. Dass Dörr seinen Kranken­haus­vergleich als »Bild« bezeichnete und damit gegen Kri­tik abzuschirmen versuchte, zeigt – ebenso wie das Zitieren einer deutsch-türkischen Autorin einer links­liberalen Zeitung in der Kleinen Anfrage –, wie kalkuliert die AfD die Grenze des Sagbaren weiter nach rechts rückt.

Die Kritik der Sozial- und Behindertenverbände ließ die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst nicht unbeantwortet: Sie forderte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29. April, die Vergabe von Bundesmitteln an die Sozialverbände zu überprüfen, da diese »ihre Mitglieder« beziehungsweise die »Interessen der Behinderten« nicht »ordentlich« verträten, sondern »Lobbyarbeit für die Regierungsparteien« betrieben. Sich nach einer behindertenfeindlichen und rassistischen Kleinen Anfrage als Vertreterin der Interessen von Menschen mit Behinderung zu empfehlen – auch das gehört zum Kalkül der AfD.