Thorsten Heise und das Nazimilieu in Südniedersachsen und Nordthüringen

Flucht in die Gewalt

In Südniedersachsen und Nordthüringen entsteht eine gefährliche Mischung aus NPD-Kadern und Kameradschaftsnazis mit Kontakten ins AfD-Milieu.

Idyllisch liegt das Gutshaus Hanstein im Dorf Fretterode. Der rund 200 Einwohner zählende Ort befindet sich etwa 30 Kilometer südlich der niedersächsischen Stadt Göttingen, kurz hinter der Grenze zum thüringischen Landkreis Eichsfeld. Doch hinter den Mauern des Anwesens spukt es seit fast 20 Jahren. Zur Jahrtausendwende kaufte der derzeitige stellvertretende Bundesvorsitzende der NPD, Thorsten Heise, das Haus und veranstaltete seither zahlreiche Szenetreffen auf seinem Gelände.

Am vorvergangenen Sonntag schien es einmal mehr so weit zu sein. Zu Recherchezwecken fanden sich auch zwei Göttinger Journalisten in Fretterode ein. Aus einem Auto heraus wollten sie die Ereignisse auf dem Anwesen Heises beobachten. Zu ihrem Unglück wurden sie dabei aber am Nachmittag von Gästen auf Heises Grundstück entdeckt, woraufhin wenig später zwei vermummte Personen ihre Verfolgung aufgenommen haben sollen. Auf einem Foto ist einer der Angreifer zu sehen, der mit einem etwa 50 Zentimeter langen Schraubenschlüssel in der Hand durch Fretterode rennt. Vor dem Gesicht trägt er einen Schal mit dem Aufdruck »Sicherheitsdienst Arische Bruderschaft«. In der Vorwoche waren T-Shirts mit diesem Aufdruck beim ebenfalls von Thorsten Heise veranstalteten »Schild & Schwert«-Festival im sächsischen Ostritz wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen polizeilich beschlagnahmt worden – das Logo, zwei gekreuzte Stabhandgranten, ist fast identisch ist mit dem des berüchtigten SS-Sonderkommandos Dirlewanger. Heise bot die Shirts bis vor kurzem in einem seiner Webshops zum Verkauf an.

Die Neonazis, inzwischen selbst in einem Auto unterwegs, sollen die Journalisten über die Ortsgrenze hinaus verfolgt haben. Auf einer Landstraße einige Kilometer entfernt holten sie die Flüchtenden ein und gingen zum Angriff über. Ein Autoinsasse soll mit dem Schraubenschlüssel geschlagen, dem anderen mit einem Messer ins Bein gestochen worden sein. Beide kamen zwar mit verhältnismäßig geringen Verletzungen davon, ihr Auto aber wurde zerstört und ihre Fotoausrüstung nahezu vollständig entwendet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt deshalb wegen »schweren Raubs«. Der Anwalt der Betroffenen spricht angesichts der Schwere der Tat von versuchter Tötung.

Die Polizei teilte mit, dass beide Tatverdächtige der rechtsextremen Szene zuzuordnen seien. Einer der Angreifer soll Gianluca B. sein. Das berichte die Thüringer Allgemeine. Das ist wenig überraschend: B. kandidierte für die NPD in Northeim bei Göttingen und gilt als politischer Ziehsohn von Thorsten Heise. Seine Gewalttätigkeit hat er längst unter Beweis gestellt. Antifaschistischen Rechercheseiten zufolge soll er vor zwei Jahren mit anderen extrem Rechten beim sogenannten »Angriff auf Connewitz« in Leipzig randaliert haben. Der zweite Tatverdäch­tige steht in einer noch engeren Beziehung zu Heise. Es soll sich nach Angaben der Thüringer Allgemeinen um seinen Sohn handeln.

Der Vorfall ist in gewisser Hinsicht symptomatisch für den gegenwärtigen Stand neonazistischer Aktivitäten in der Region um das südniedersächsische Göttingen. Die Stadt kann auf eine lange Geschichte linker und antifaschistischer Praxis zurückblicken, so dass extrem rechte Gruppen hier traditionell kaum ein Bein auf den Boden bekommen. Mithin verlagert sich ihr Aktionsradius in andere Regionen wie eben ins benachbarte Thüringen. Zudem scheint das Vorgehen der örtlichen Neonazis immer mehr von Gewalt und Kopflosigkeit geprägt zu sein.

Auch die selbsternannte »Volksbewegung Niedersachsen« hat sich beinahe komplett aus Göttingen zurückgezogen. Ihr Anführer Jens Wilke bezeichnete die Stadt unlängst als »verloren«. Dabei war die »Volksbewegung« im Herbst 2015 angetreten, um das »rote Göttingen« zurückzuerobern. Daraus wurde nichts: Antifaschistische Proteste und Gegenwehr begleiteten die Gruppe bei sämtlichen Besuchen in der Stadt. Wiederholte Gewaltausbrüche der frustrierten Neonazis und daraus resultierende Strafverfahren – unter anderem wurden Mitglieder der »Volksbewegung« wegen des Verdachts der Bildung einer bewaffneten Gruppe sowie der gefährlichen Körperverletzung angeklagt – zermürbten die Gruppe zusehends, so dass Wilke seinen aussichtslosen Kampf mittlerweile fast alleine bestreitet. Jüngste Gerichtstermine in Göttingen nahm er ohne oder nur mit spärlicher Begleitung wahr.

Auch seine vorerst letzte Hoffnung, in Göttingen aufzumarschieren, hat sich kürzlich zerschlagen. Für den 25. April hatte der Kreisverband Süd-Ost-Niedersachsen der nazistischen Kleinpartei »Die Rechte« eine Demonstration angemeldet. Wilke wähnte sich seinem großen Ziel nahe, doch seine Kameraden ließen ihn im Stich. Am Vortag sagte »Die Rechte« die Demonstration kurzerhand wieder ab.

Seither ergeht sich der kümmerliche Rest der vermeintlichen »Volksbewegung« in Gewaltdrohungen und Vernichtungsphantasien im Internet – teils mit reichlich expliziten KZ-Andeutungen – und driftet dabei immer mehr in verschwörungstheoretische und antisemitische Wahnvorstellungen ab. Zudem intensivierte auch Wilke seine Kontakte nach Thüringen. Seit Beginn der »Volksbewegung«, die damals noch unter dem Namen »Freundeskreis Thüringen/Niedersachsen« firmierte, pflegt er beste Beziehungen ins extrem rechte »Thügida«-Milieu. Deren Protagonisten Alexander Kurth und David Köckert sind inzwischen zu Wilkes engsten Mitstreitern geworden. Beide sind einschlägig vorbestraft, waren bereits in der NPD aktiv und sind fest im thüringisch-sächsischen Neonazimilieu vernetzt. Gemeinsam mit Wilke wollen sie demnächst eine eigene Partei gründen. Wilke war 2016 bei Kommunalwahlen noch auf der Liste der NPD angetreten.

Ebenso wie Wilke und Kurth nahm am 21. April ein weiterer südniedersächsischer extrem rechter Funktionär  an einer Demonstration der AfD in Salzgitter teil. Dabei hatte Lars Steinke in der Vergangenheit eher die Distanz zum Personenkreis der »Volksbewegung« gesucht, die er vor zweieinhalb Jahren noch mitbegründet hatte. Als aufstrebender AfD-Nachwuchspolitiker schickt es sich für den Vorsitzenden der AfD-Jugendorganisation »Junge Alternative« in Niedersachsen und Mit­arbeiter der AfD-Landtagsfraktion nicht, sich mit dem neonazistischen Straßenpöbel zu zeigen. Lieber verkehrt Steinke im Umfeld der »Identitären ­Bewegung« – trotz Unvereinbarkeitsbeschluss der AfD. Seine Gewaltaffinität offenbarte Steinke Ende vorigen Jahres, als er auf seinem Instagram-Profil mit einer Armbrust posierte und dazu die Hashtags »Defend Europe«, »kampf­bereit« und »Waffenliebhaber« platzierte. Als er im März in Göttingen von Linken angegangen worden sein soll, behauptete er, die Angreifer in die Flucht geschlagen zu haben. »Wir müssen Widerstand leisten, denn die Po­litik ist hierzu nicht mehr in der Lage«, fabulierte er anschließend.