Im Irak wurde zum ersten Mal nach dem Sieg über den »Islamischen Staat« gewählt

Der Prediger und die Kommunisten

In einem Kopf-an-Kopf-Rennen setzte sich die Koalition des schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr und der Kommunisten bei den irakischen Präsidentschaftswahlen durch.

Der Irak hat am Samstag das erste Mal seit dem Sieg über die Terrormiliz ­»Islamischer Staat« (IS) ein neues Parlament gewählt. Insgesamt 6 990 Kandidaten aus 87 Parteien waren angetreten, um einen der 329 Sitze im Repräsentantenrat des Irak zu ergattern. Eine gemeinsame Liste des schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr, der Kommunisten und anderer säkularer Kräfte bekam dabei die meisten Stimmen. Das Bündnis unter dem proiranischen Milizenführer Hadi al-Amiri kam auf Platz zwei. Ministerpräsident Haider al-Abadi, landete auf dem dritten Rang.

Doch auch wenn al-Sadr als Sieger aus den Wahlen hervorgeht, so ist er auf eine Kooperation mit anderen Parteien angewiesen, um sich zum Ministerpräsidenten küren zu lassen. Beobachter gehen davon aus, dass es Wochen dauern wird, bis der Irak eine neue ­Regierung hat. Der Ausgang des zähen politischen Ringens ist ungewiss. Seit den ersten freien Wahlen im Irak im Jahr 2005 hat die stärkste Partei fast nie den Ministerpräsidenten gestellt. Doch die ersten Tage nach der Wahl machen bereits deutlich, welche politischen Konflikte den Irak in den nächsten Wochen prägen werden. Prominente sunnitische Politiker stellen aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung von nur 44,5 Prozent die Legitimität des Wahl­ergebnisses in Frage. In den kurdischen Provinzen gibt es Gerüchte über umfangreiche Wahlfälschungen der beiden dominanten kurdischen Parteien, der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Und das schiitische ­Lager, welches am Ende den Ministerpräsidenten stellen wird, steht vor ­einer politischen Zerreißprobe. Al-Sadr muss künftig die Interessen der beiden wichtigsten ausländischen Mächte im Land austarieren. Denn nirgendwo sonst fließen iranische und amerikanische Interessensphären ineinander wie im Büro des irakischen Ministerpräsidenten.

 

Auf der Asche des Kalifats

Eigentlich sollte bei dieser Parlamentswahl einiges besser laufen. Statt wie im Irak bei bisherigen Wahlen üblich, orientierten sich die Wahllisten nicht an Konfessionszugehörigkeiten. »Die konfessionelle Polarisierung im Land sich abgekühlt«, sagte der Irak-Experte Kirk Sowell dem US-amerikanischen Magazin The Atlantic. »Die Wahlen könnten die politische Landkarte des Irak neu zeichnen.« So bemühte sich beispielsweise der amtierende Ministerpräsident Haider al-Abadi, ein Schiit, auf seiner Liste auch Kurden und Sunniten zu platzieren, um Stimmen in ­jenen Gebieten zu erhalten, die dem schiitischen Machtzentrum in Bagdad feindlich gegenüberstehen.

Zugleich konkurrierte er mit den Listen von Hadi al-Amiri und von Nuri al-Maliki, die auch beide als Schiiten um das Amt des Ministerpräsidenten kämpften. »Die Präsenz von sunnitischen Kandidaten auf schiitischen Listen ist ein mutiger Schritt, um das Land von konfessionellen Quoten zu befreien, die die Politik des Landes seit 2003 dominiert haben«, sagte der Kandidat Badr al-Fahal dem Nachrichtenportal Al-Monitor.

Die konfessionelle Spaltung nach den Wahlen 2009/10 wird als einer der Gründe für den Aufstieg sunnitischer Extremisten gesehen.

Damals schickte der neue Ministerpräsident Nuri al-Maliki schiitische Todesschwadronen in die sunnitischen Provinzen und schuf so eine Grundlage für den rasanten Aufstieg des IS. Es scheint, als hätte Abadi aus den Fehlern seines Vorgängers gelernt. Sollten sich in den Reihen der künftigen irakischen Regierung auch die Sunniten repräsentiert fühlen, wäre den versprengten Überbleibseln des IS im Land die Möglichkeit genommen, sich als Verteidiger der Sunniten zu ­inszenieren. Die Chancen hierfür stehen nicht schlecht. Vor allem in den sunnitisch dominierten Provinzen Anbar und Niniveh sind die Greueltaten der islamistischen Terrorherrschaft noch immer präsent. Mehr als 70 000 Menschen kamen im Irak in den vergangenen vier Jahren ums Leben, die Zahl der Binnenflüchtlinge allein übersteigt eine Million. Letztlich waren es die schiitisch dominierten Volksmobilisierungskräfte (PMF), die die Schergen des IS vertrieben. Es ist ein Erfolg, den ­Abadi für sich verbuchen kann.

Dennoch untergräbt die niedrige Wahlbeteiligung von nur 44,5 Prozent (2014 und 2010 lag diese noch bei 62 Prozent) den Anspruch einer jeden Regierung, das irakische Volk als Ganzes zu repräsentieren. Viele mögen aus Angst vor Anschlägen den Wahllokalen ferngeblieben sein. Im letzten Newsletter des IS prangte auf Seite zwei eine brennende Wahlurne, die in einer Pfütze Blut aufgestellt war. Doch den Par­teien ist es auch nicht gelungen, glaubwürdige Lösungen für die irakischen Missstände zu vermitteln. »Dem Wahlkampf fehlte es an Substanz und ­Debatte«, analysiert Borzou Daragahi im The Atlantic. »Die politische Klasse im Irak ist weiterhin inkompetent und korrupt. Und auch viele der Sunniten auf den schiitischen Listen sind nichts weiter als lokale Warlords, denen es ­darum geht, ein Geschäft zu machen.«

Unter diesen Vorzeichen wundert es kaum, dass bereits am Tag nach der Abstimmung die »Heimatland-Koalition« (al-Wataniya) um den sunnitischen Parlamentssprecher Salim al-Jabouri eine Annullierung des Wahlergebnisses forderte.

 

Wahlfälschung in Kurdistan?

Auch in den kurdischen Gebieten des Nordirak dürfte das Wahlergebnis kaum zum Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die politischen Institu­tionen des Landes betragen. Erste Auszählungen deuteten auf einen klaren Erfolg der KDP in den Provinzen Dohuk und Erbil hin, während die PUK in ­Suleymaniah offiziell die meisten Stimmen erzielte. Das Ergebnis sorgte für Stirnrunzeln bei zahlreichen Be­obachtern. »Wahlen in Kurdistan sind ein bisschen wie in Ägypten unter Mubarak«, analysiert der Blogger Abdulla Hawez auf Twitter das Ergebnis. Die Machthaber gäben der Bevölkerung »etwas Hoffnung, aber sie holen sich ihre Sitze, wann immer sie sie brauchen«.

Sowohl die KDP als auch die PUK wurden in Kurdistan zuletzt heftig kritisiert. Noch im September hatte der KDP-Vorsitzende Massoud Barzani per Referendum für eine Unabhängigkeit der kurdischen Gebiete getrommelt und kurz darauf einen Rückschlag erlebt: Innerhalb nur weniger Tage ver­loren die kurdischen Peschmerga weite Landstriche an die vorrückende irakische Armee.
Die KDP wird zudem wegen korrupter Praktiken, Vetternwirtschaft und zurückgehaltener Beamtengehälter kritisiert. Seit Dezember protestierten Zehntausende in Erbil und Suleymaniah ­gegen die KDP – mindestens sechs Menschen kamen durch Sicherheitskräfte ums Leben. Dass die KDP in ­diesem politischen Klima einen deutlichen Sieg er­ringen würde, bezeichnet ein Kurde, der nicht namentlich ­genannt werden möchte, als »unwahrscheinlich«. Ein ähnliches Mysterium ist der Wahlerfolg der PUK in Suleymaniah.

Durch einen Deal mit dem Iran im Oktober soll ihr Führer Bafel Talabani die Landnahme der irakischen ­Armee in den Kurdengebieten erst ermöglicht haben. Die Nähe der PUK zu den Mullahs aus Teheran ist in den Kurdengebieten des Nordirak ein offenes Geheimnis.

Der Gouverneur von Suleymaniah, Haval Abubakir von der Gorran-Bewegung, prangerte am Tag nach der Wahl Wahlfälschungen durch die PUK an und forderte die Wahlkommission auf »alle Zweifel am Wahlergebnis ernst zunehmen«. Kurz darauf umstellten bewaffnete Peschmerga der PUK das Hauptquartier der Gorran-Bewegung. Auch in anderen Landesteilen wurden Vorwürfe der Wahlfälschung bekannt. In Kirkuk belagerte die Schiiten-Miliz Hashd al-Shaabi das Gebäude der Wahlkommission.

 

Zwischen Washington und Teheran

Wie kaum einem anderen gelang es dem bisherigen Ministerpräsidenten Haider al-Abadi, zwischen den Interessen des Iran und der USA im Land zu vermitteln. Dieses Kunststück wird nach dem gekündigten Atomabkommen mit dem Iran schwieriger. Abadi will die US-Truppen im Land behalten, ist aber zugleich auf ein gutes Verhältnis zum Iran angewiesen. Denn die Islamische Republik kontrolliert maßgeblich die rund 150 000 Milizionäre der Volksmobilisierungseinheiten. Es ist unklar, ob sie in die irakischen Sicherheitskräfte integriert werden können oder ­ihren autonomen Status beibehalten.

Noch im Wahlkampf mühten sich ­deren Kommandeure, die in den letzten Jahren zu mächtigen Warlords aufgestiegen sind, die Verbindungen ins Nachbarland kleinzureden. Auch ihnen war offenbar bewusst, dass den irakischen Wählern der wachsende iranische Einfluss im Land missfällt. »Einige glauben, dass die irakischen Schiiten loyal ­gegenüber dem Iran sind. Das ist jedoch falsch«, sagte Scheich Qais al-Khazali, Führer der PMF-Miliz Asaib Ahl al-Haq, im Gespräch mit dem britischen Guardian. »Was mit den PMF passiert, entscheiden die Iraker, nicht der Iran.« Die Einsicht kam jedoch zu spät. Denn mit Haidar al-Abadis Nasr-Allianz und Muqtada al-Sadrs Sayirun errangen zwei Wahllisten die meisten Sitze, die für eine Eindämmung des iranischen Einflusses im Irak stehen. Während Abadi nie einen Hehl daraus machte, weiter mit den Amerikanern kooperieren zu wollen, stellte sich der populäre Schiitenprediger al-Sadr im Wahlkampf offen gegen die Glaubensbrüder in Teheran. Er setzte sich im Wahlkampf auf eine Liste mit Säkularen und Kommunisten und propagierte eine nationalistische Agenda. Offenbar mit Erfolg. Denn es scheint, dass eine Mehrheit jener Iraker, die am Samstag den Weg ins Wahllokal wagten, die Nase voll hat von den Mullahs.