Wie Beschäftigte im Pflegesektor ihre Arbeitsbedingungen wahrnehmen

Kaputtgepflegt

Dass sich im Pflegesektor etwas ändern müsse, sagen Politiker fast aller Parteien. Die »Jungle World« hat sich bei Menschen umgehört, die in dem Bereich arbeiten.

»In einem Sofortprogramm werden wir 8 000 neue Fachkraftstellen im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlungspflege in Pflegeeinrichtungen schaffen.« So steht es im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Das freilich dürfte längst nicht reichen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fehlten zuletzt etwa 36 000 Pflegepersonen bundesweit. Und dabei handelte es sich um eine optimistische Schätzung.

Doch wo sehen Leute, die in der Pflege arbeiten, die Probleme? Menschen, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen, ambulanten Diensten und Altenheimen schuften, tun das oft am Limit oder darüber hinaus. »Nach 18 Jahren im ­Bereich der Pflege und nach vier Bandscheibenvorfällen musste ich, ob ich wollte oder nicht, in den Verwaltungsbereich wechseln«, beschreibt Laura Müller im Gespräch mit der Jungle World ihre Arbeitsbiographie. Die 37jährige gelernte Altenpflegerin arbeitet seit etwa einem Monat als Qualitätsbeauftragte. Vorher hatte sie lange Zeit als Pflegerin sowie in der Wohnbereichsleitung ­gearbeitet. In dem Beruf weiterhin tätig zu sein, kann sie sich nicht mehr vorstellen. »Als ich anfing, hatte ich noch viel Zeit für den einzelnen Bewohner. Das ist heute undenkbar. Und der Aufwand für die Pflege ist immens gestiegen«, erzählt Müller. Neben den körperlichen Strapazen und der miserablen Bezahlung habe ihr auch der enorm gestiegene Aufwand für die Dokumen­tation den letzten Nerv geraubt.

Uwe Goldbach kennt das Problem: »Von einer normalen Achtstundenschicht gehen im Schnitt zwei Stunden für die Dokumentation drauf«, berichtet Goldbach von seinen Erfahrungen. Er arbeitet seit über 30 Jahren in der Pflege. Noch in der DDR ausgebildet, ging er nach dem Mauerfall in den Westen und von dort über einen Umweg in die Schweiz zurück nach Dresden. »Als ich nach Deutschland zurückkam, habe ich die volle Wucht der Fallpauschalen erlebt. Als Dialysefachkraft musste ich zehn Patienten auf einmal bei der Dialyse betreuen«, erzählt der 52jährige. Durch den unglaublichen Personalmangel, die ständig wechselnden Schichten und die schlechte Bezahlung erkrankte Goldbach vor drei Jahren am Burn-out-Syndrom, er konnte nicht mehr arbeiten.

Nach seiner Genesung begann er dann vor zwei Jahren, in einer Behinderteneinrichtung zu arbeiten. Doch Goldbachs befristeter Vertrag wurde nicht verlängert. Derzeit vermittelt ihn eine Leasing-Firma als Pfleger. »Leasing hat den Vorteil, dass ich nein ­sagen kann und Angebote auch mal ablehnen kann. In einem Heim wäre das undenkbar«, sagt Goldbach. Er versuche nun alles, um wieder in der Behindertenhilfe unterzukommen. Und das, obwohl er seine Arbeit eigentlich gern mache. »Ich würde gern bleiben, aber nur, wenn der Personalschlüssel und die Bezahlung stimmen und der Renditegedanke in der Pflege beschnitten wird«, so Goldbach.

Die schlechte Bezahlung treibt auch Jill Vogel in erster Linie um. Die 34jäh­rige arbeitet in Hamburg in der mobilen Kinderkrankenpflege. Um mit ihrem Gehalt über die Runden zu kommen, hat sie zwei Nebenjobs. »Ich kellnere an Wochenenden und arbeite nebenbei in Familien. Nur so ist das Leben in ­einer Großstadt überhaupt finanzierbar«, erzählt die gelernte Altenpflegerin.

Trotz ihrer Fortbildungen zur gerontopsychiatrischen Fachkraft und im Bereich der außerklinischen pädiatrischen Beatmung reiche die Bezahlung nicht, um mit einer Vollzeitstelle über die Runden zu kommen. Immerhin sei die Arbeitssituation in der mobilen Kinderkrankenpflege besser als in Pflegeheimen oder der ambulanten Pflege. »In der ambulanten Pflege hatte ich regelmäßig Doppelschichten. Gerade an Wochenenden habe ich häufig von sechs bis elf Uhr und dann wieder von 16 bis 20 Uhr gearbeitet.

Daneben noch Rufbereitschaften. Die Arbeit war immer präsent. Es war ein Leben für die Arbeit«, berichtet Vogel. Die Schichten seien streng getaktet gewesen. 25 Minuten für die Ganzwaschung – egal wie fit der Patient, ob er dement oder voll ansprechbar gewesen sei, ob er mitgeholfen habe oder nicht. Dazu fünf Minuten für die Vor- und zehn Minuten für die Nachbereitung. »Die Zeit reichte vorne und hinten nicht. Es war ein permanentes Arbeiten gegen die Uhr«, erzählt sie. Die Dokumentation empfand die 34jährige auch als erschlagend. »Egal wie und wie viel ein Mensch gewohnt war zu essen, es musste in der Dokumentation passen.

 

Also musste auch mal der Teller aufgegessen werden, obwohl der Bewohner nicht mehr konnte«, sagt Vogel. Der Body-Mass-Index (BMI) sei das Maß der Dinge gewesen. Im Pflegeheim und ambulanten Dienst sei die Arbeitsbelastung immer größer geworden, weil der Krankenstand so enorm hoch gewesen sei.

Die personellen Lücken im Pflegesektor lassen sich durch verstärktes Anwerben von Arbeitskräften im europäischen Ausland nicht auf die Schnelle schließen. »Und die kulturellen Brüche sind nicht zu unterschätzen. Viele Kräfte aus armen Ländern verstehen die ­Sorgen deutscher Rentner mitunter überhaupt nicht«, sagt Goldbach.

Die Ansprüche an die Betreuung und Pflege stiegen in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich, wie Lars Pepic berichtet, der zusammen mit seinem Mann einen ambulanten Pflegedienst in Berlin gegründet hat. »Vor 20 Jahren lagen die Bewohner alle zur gleichen Zeit im Bett. Und die in den zwanziger und dreißiger Jahren sozialisierten alten Menschen waren eventuell noch durch das gemeinsame Singen von Volksliedern zu begeistern. Heute sind die Menschen viel individueller und ­anspruchsvoller.« Pepic arbeitete lange in Heimen, war damit aber unglücklich. Erst durch die Spezialisierung auf betreute WGs stellte sich bei ihm wieder Zufriedenheit mit der Arbeit ein. »In den WGs leben sieben Bewohner, so dass wir permanent präsent sein ­können. Einzeln zu Menschen zu fahren, ist zermürbend und nicht erfüllend, da man den Klienten überhaupt nicht gerecht wird. So verbringen wir viel Zeit mit den Bewohnern, kochen frisch und erleben den Job als erfüllend«, erzählt Pepic. Das Sozialamt würdige das Engagement jedoch wenig. »Das Sozialamt übernimmt für meine Klienten nur drei gekochte Mahlzeiten in der Woche. Mit der Begründung: Es wird ja auch für andere gekocht und im Schnitt passt es dann«, so Pepic. Er kocht dennoch jeden Tag frisch – und beutet sich so selbst aus. »Eine Zeit lang kann man diese vielen freiwilligen Leistungen abdecken, aber irgendwann wird es unrentabel.«

Pepic macht sich vor allem Sorgen, weil er kein geeignetes Personal mehr findet. Unter seinen zehn Angestellten seien auch Menschen, die die Arbeit sehr lustlos ausführten. »Man muss sich mal vorstellen, dass es in Serbien nur ausgebildete Pfleger gibt. Pflegehelfer oder Betreuungsassistenten wie in Deutschland gibt es dort nicht, obwohl Serbien bedeutend ärmer als Deutschland ist. Hier reicht ein Basiskurs über 120 Stunden, um in dem Bereich der Pflege zu arbeiten. Das finde ich skandalös«, sagt der 41jährige.

Er schätzt den Bedarf in den kommenden Jahren auf etwa 120 000 zu besetzende Stellen. »Da muss man gute Leute finden und nicht nur versuchen, besonders schwache Schüler, Menschen ohne Schulabschluss oder wenig talentierte Leute in Crashkursen zu qualifizieren«, so Pepic.

Entsprechende Mitarbeiter zu finden, dürfte bei Bezügen, die 600 bis 1 000 Euro unter dem Gehalt eines Krankenpflegers liegen und zum ­Leben eigentlich nicht mehr reichen, einen riesige Herausforderung sein. Vielleicht würde ein Blick nach Skandinavien oder in die Niederlande helfen. Dort liegen die Löhne in diesem Bereich bis zu 1 000 Euro über denen in Deutschland.