Die Geschichte des Berliner Kurfürstendamm

Im Keller brennt noch Licht

Für Jahrzehnte war die Gegend um den Kurfürstendamm ein Residuum der Urbanität in Europas provinziellster Metropole. Doch je hipper Berlin wird, desto mehr verödet der alte Westen.

Als 1963 Hildegard Knefs Chanson »Heimweh nach dem Kurfürstendamm« herauskam, das seither zur Kennmelodie eines sentimentalen Berliner Lokalpatriotismus wurde, war der Interpretin längst klargeworden, dass sie sich an dem Ort, nach dem sie Heimweh hatte, nie mehr würde heimisch fühlen können. Knef, die mit Anfang zwanzig durch ihre Rolle in Wolfgang Staudtes Film »Die Mörder sind unter uns« bekannt geworden war und als Synchronsprecherin ­sowjetischer Filme für die DEFA gearbeitet hatte, war vor Gründung der beiden deutschen Staaten auf das Angebot des Hollywood-Produzenten David O. Selznick eingegangen, in die USA zu gehen. 1947 hatte sie in Deutschland Kurt Hirsch geheiratet, einen amerikanischen Offizier jüdisch-tschechischer Herkunft, der sie zurück in die Vereinigten Staaten begleitete, wo er fortan als Schauspiel­agent arbeitete, während sie mit Anatole Litvaks »Entscheidung vor Morgengrauen« und der Hemingway-Verfilmung »Schnee am Kilimandscharo« Erfolge feierte. 1950 erhielt Knef die amerikanische Staatsbürgerschaft, in den folgenden Jahrzehnten pendelte sie zwischen den USA und der Bundesrepublik, ohne an eine dauerhafte Rückkehr zu denken, obgleich ihre Aufenthalte in Deutschland seit den Siebzigern länger wurden. Ihr Grab befindet sich in Berlin-Schöneberg, wo die 2002 Verstorbene in den zwanziger Jahren zur Schule gegangen war. Das Heimweh, von dem sie 1963 sang, war Ausdruck der Sehnsucht nach einem Ort, der im Leben nie wieder zum Zuhause hatte werden können.

Der Kurfürstendamm, an dem das Heimweh sich entzündete, war im frühen 20. Jahrhundert Emblem der amerikanischen Zerstreuungskultur, als deren Vertreterin Knef, die Hollywood Berlin vorgezogen hatte, von ihren Landsleuten halb sehnsüchtig, halb despektierlich angesehen wurde. Während die Friedrichstraße mit der Kaisergalerie und der Lindenpassage, die Siegfried Kracauer 1930 in einem seiner Feuilletons melancholisch gewürdigt hatte, für eine Spur Pariser Flanerie im Zentrum Berlins stand, eignete dem Ku’damm ein entschieden sachlicher – eben ein amerikanischer Zug. Dass hier an der Ecke Joachimsthaler Straße zwischen 1898 und 1915 das Café des Westens, auch »Café Größenwahn« genannt, zu finden war, in dem sich Protagonisten der Berliner Moderne wie Paul Scheerbart und Else Lasker-Schüler, Herwarth Walden und Jakob van Hoddis trafen, war ebenso wenig Zufall wie die Eröffnung des Kaufhauses des Westens 1907 an der Tauentzienstraße, der Verlängerung des Kurfürstendamms östlich der Gedächtniskirche. Lange bevor das Viertel zwischen Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg und Tiergarten im Kalten Krieg zum Schaufenster des westlichen Blocks wurde, war die Referenz auf den Westen ihm ikonographisch eingeschrieben.

Im 19. Jahrhundert eine vornehme Wohnstraße, deren Umgebung man sich eher wie das heutige Zehlendorf vorzustellen hat, wurde der Ku’damm in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum Vergnügungszentrum mit Bars, Cafés und Revue-Theatern. An seinem westlichen Ende, in Halensee, eröffnete 1909 der Luna-Park, eine Mischung aus Rummel, Zirkus, Tier- und Biergarten, damals der größte Vergnügungspark Europas. Zehn Jahre später und ein Jahr vor dem Einzug des »Kabarett Größenwahn« in die Räume des Cafés des Westens, öffnete ebenfalls an der Ecke zur Joachimsthaler Straße die Kakadu-Bar, in der sich Angehörige der Berliner Halbwelt, Animierdamen und Geschäftsleute, Prostituierte und abgehalfterte Künstler trafen.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg blieb es ein wichtiges Ziel der Westberliner Stadtplanung, den Ku’damm und seine Umgebung sowohl gegen die realsozialistische Konkurrenz wie gegen deutschnationale Bedürfnisse als Emblem gelungener Verwestlichung zu präsentieren.

Während das Gebiet zwischen Friedrichstraße und Unter den Linden, Berlins repräsentative Mitte, nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten pompös herausgeputzt wurde, fielen viele Etablissements an der Vergnügungsmeile um den Ku’damm dem nationalsozial­istischen Kampf gegen Bodenlosigkeit und Amüsement zum Opfer. Der ­Luna-Park wurde 1935 im Rahmen von Baumaßnahmen zur Vorbereitung der Olympischen Sommerspiele abgerissen, schon zuvor hatte er der völkischen Bewegung als Symptom der Zersetzung durch die ameri­kanische Zivilisation gegolten. Die Kakadu-Bar, die ab 1936, um ihr Fortbestehen zu sichern, eine nationalsozialistische Betriebsleitung einstellte und sich in »Weinstube« umwidmete, wurde 1943 in eine Unterkunft des Reichsarbeitsdienstes umgewandelt. Im Gebäude des ­Cafés des Westens eröffnete das Café Kranzler, das seinen Hauptsitz an der Friedrichstraße hatte, 1932 unter dem Namen »Restaurant und Konditorei Kranzler« eine Filiale, die der volksgemeinschaftliche Nachfolger des »jüdischen« Bohème-Cafés wurde. Das Romanische Café, der 1916 an der Stelle des heutigen Europa-Centers eröffnete zweite Künstlertreffpunkt am Kurfürstendamm, war 1927 Ziel nazistischer Randale gewor­den  und hatte schon vor 1933 einen Großteil seiner jüdischen Kundschaft verloren; 1933 erhielten Mitglieder der Gestapo dort einen Stammtisch. Das Kaufhaus des Westens, dessen Inhaber Hermann Tietz jüdischen Glaubens war, blieb 1933 während eines Boykotts jüdischer Warenhäuser geschlossen und wurde ein Jahr später »arisiert«, wobei der Name des früheren Besitzers im mittlerweile verblichenen Namenszug »Hertie« verstümmelt erhalten blieb.

Während die nach der Wiedervereinigung betriebene Restauration von Berlins alter Mitte allein jenes östliche Zentrum betraf, dem die Nationalsozialisten vorrangige städtebauliche Pflege hatten angedeihen lassen, setzte das Desinteresse am alten Westen, in dessen Zuge der Bezirk Charlottenburg seit den neunziger Jahren seine Attraktivität bei Einheimischen wie Touristen immer mehr verlor, die Verachtung des Ku’damm während des »Dritten Reichs« fort. Diese Fortsetzung war zugleich eine Abkehr von der Bedeutung des Kurfürstendamms als Einheit von Amüsier- und Wohnquartier in der alten Bundesrepublik, als Berlins westliches Zentrum nach dessen kultureller Planierung durch die Nationalsozialisten zu neuem Leben erweckt wurde. Bis in die achtziger Jahre war der alte ­Berliner Westen in vieler Hinsicht ein antifaschistischer Gedächtnisort. Nachdem alliierte Luftangriffe die Bebauung um Kurfürstendamm und Tauentzienstraße stark beschädigt hatten, verfolgten die Westalliierten (die Briten waren für die zu Charlottenburg, Tiergarten und Wilmersdorf gehörenden Gebietsteile zuständig, die Amerikaner für Schöneberg) beim Wiederaufbau das Ziel, den Ku’damm zum Aushängeschild der freien Welt umzugestalten – nicht nur als Gegenbild zum sowjetischen Gesellschaftsmodell, sondern auch als Ausdruck der Westbindung der Bundesrepublik.

Die Entscheidung der Besatzungsmächte, die 1943 durch einen britischen Luftangriff zerstörte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz als Ruine zu erhalten, hatte keineswegs den Zweck, daraus ein Denkmal für das Leiden der Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg zu machen, wie die weinerliche-burschikose Bezeichnung »hohler Zahn«, die sich für das Gebäude einbürgerte, nahelegen könnte. Vielmehr verdankte sie sich der Skepsis gegen die Restauration des wilhelminischen Nationalismus und der Absicht, den »amerikanischen« Konsum- und Vergnügungsalltag, der sich rund um den Ku’damm entwickelte, auch ikonographisch als Folge des westalli­ierten Sieges zu kennzeichnen. In den folgenden Jahrzehnten blieb es ein wichtiges Ziel der Westberliner Stadtplanung, den Ku’damm und seine Umgebung sowohl gegen die realsozialistische Konkurrenz wie gegen deutschnationale Bedürfnisse als Emblem gelungener Verwestlichung zu präsentieren. Dazu gehörte die erneute Etablierung jüdischer Institutionen rund um das Vergnügungs- und Einkaufsviertel. Von der Jahrhundertwende bis in die zwanziger Jahre war der Kurfürstendamm ein lebendiger Ort des jüdischen Bürgertums gewesen, hier hatten jüdische Kaufleute und Künstler ihr Wohnstätte, jüdische Fotografinnen wie Lili Baruch oder Lotte und Ruth Jacobi bildeten eine eigene Szene in der Weimarer Republik. Das Theater am Kurfürstendamm, das 1921 in den Räumen der Berliner Sezession gegründet wurde und dessen Intendant ab 1927 Max Reinhardt war, brachte Stücke von Ferdinand Bruckner, Friedrich Hol­laender, Bertolt Brecht und Kurt Weill heraus. Jüdische Akademiker und Gelehrte, die bis 1933 zahlreich im Bayerischen Viertel in Schöneberg lebten – unter anderem ­Albert Einstein –, waren in den Restaurants, Cafés und Bühnen am Kurfürstendamm regelmäßige Gäste. Die Historikerin Sonja Miltenberger hat die jüdische Geschichte des Berliner Westens, die zur Zeit der Teilung präsenter als heute war, in ihrer 2011 erschienenen Studie »Jüdisches ­Leben am Kurfürstendamm« inklusive Adressenverzeichnis akribisch rekons­truiert.

 

An diese Geschichte, insbesondere an die Verbindung der jüdischen Bewohner mit der Unterhaltungs- und Alltagskultur der Weimarer Republik, wurde bei der Neugestaltung des Ku’damms in der alten Bundesrepublik angeknüpft. Dass 1959 an der Stelle der Ruine der Synagoge an der Fasanenstraße, die 1905 als erste Sy­nagoge im Westen Berlins gegründet und während der Novemberpogrome 1938 in Brand gesteckt worden war, das Jüdische Gemeindehaus ­errichtet wurde, in dessen Stahlbetonkonstruktion Fragmente des zerstörten alten Baus eingelassen sind, war symptomatisch für die gebrochene Weise, in der jüdische Traditionen des Viertels aufgegriffen wurden. Eine Wiederherstellung jüdischen Alltags, wie sie der Bau einer neuen Synagoge an alter Stelle symbolisiert hätte, war unmöglich, doch Verbindungen zwischen jüdischem und Berliner Alltag fragmentarisch zu evozieren, schien denkbar und entsprach dem Primat der Westernisierung. Das galt besonders für das Kulturleben. In die Räume des 1946 neu aufgebauten Theaters am Kurfürstendamm zog 1949 die Freie Volksbühne ein, die ehemaligen Emigranten wie Erwin Piscator, Giorgio Strehler, Tilla Du­rieux und Therese Giehse eine Bühne bot, um an Schauspieltraditionen der Weimarer Republik anzuknüpfen. An der Freien Volksbühne wurde auch – vor allem mit Wolfgang Neuss – ein neues, nicht partout auf Popularität schielendes Kabarett etabliert, von dem heute nicht einmal mehr Spuren übrig sind.
Dass Schauspieler wie Harald Juhnke, Günter Pfitzmann und Brigitte Mira, die dem Gegenwartsgeschmack als Vertreter eines provinziellen Berliner Volkstheaters gelten, am Ku’damm früher mit jüdischen Remigranten zusammengearbeitet haben, ist kaum mehr gegenwärtig. 1965 zog das von Neuss, Wolfgang Spier und anderen Akteuren aus dem Umfeld der Freien Volksbühne geprägte ­Kabarett »Die Stachelschweine«, das vorher in der Kneipe »Ewige Lampe« an der Rankestraße untergebracht war, in das neu eröffnete Europa-Center, das, obwohl sich auf ihm der Mercedes-Stern drehte, weniger als Gunstbeweis an die Volkswirtschaft denn als Zitat amerikanischer Hochhausarchitektur konzipiert worden war. Ganz in der Nähe, am Wittenbergplatz, veranstaltet die 1966 gegründete Deutsch-Israelische Gesellschaft heute noch immer ihren »Israeltag«, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kaufhaus des Westens, das 2015 mit seiner später zurückgenommenen Entscheidung, israelische Produkte aus dem Sortiment zu nehmen, wohl vor allem deshalb öffentliches Aufsehen erregte, weil es in der alten Bundesrepublik als Schaufenster der Politik der Westbindung und als dezidiert israelfreundlich galt.

1967, zwei Jahre nach der Eröffnung des Europa-Centers, gründete der Anfang der Fünfziger über Paris aus Israel nach Westberlin zurückgekehrte Rolf Eden in Nachfolge des Nachtclubs New Eden die Diskothek Big Eden am Kurfürstendamm. Eden, der als Jugendlicher im ersten arabisch-israelischen Krieg mit Yitzhak Rabin gekämpft und sich in Paris als Chauffeur und Kellner durchgeschlagen hatte, arbeitete in Berlin als Staubsaugervertreter, bevor er mit Nachtclubs und Disko­theken ein Vermögen machte. Ebenso wenig wie das Theater am Kurfürstendamm oder das Kaufhaus des Westens wurden Edens Etablissements als Teile der jüdischen Remigrationsgeschichte und des jüdischen Alltags im Berliner Westen wahrgenommen, obwohl sie es objektiv waren. Doch gerade, dass diese Orte weder als Bestandteil eines jüdischen Erbes der Stadt reklamiert noch erinnerungspolitisch instrumentalisiert wurden, dass der jüdische Aspekt ihrer Geschichte vielmehr sogar im Alltagsbewusstsein der jüdischen Bevölkerung längst verblasst war, verlieh dem in ihnen sedimentierten Gedächtnis in gewisser Weise mehr Lebendigkeit als offiziellen Erinnerungsorten. Zu­gute kam dieser Konstellation, dass es in den fünfziger Jahren gelungen war, rund um den Ku’damm ein Stadtviertel entstehen zu lassen, in dem Amüsement und Konsum, Wohnungen und Geschäfte ineinander übergingen, so dass Einheimische und Fremde, Touristen und Nachbarschaft sich häufiger und selbstverständ­licher begegneten als in anderen Bezirken.

In solchem Ineinander von Urbanität und Nachbarschaft lebte auch eine spezifisch Berlinerische Variante des Provinzialismus fort, die das Ku’damm-Viertel im Zuge der Aufnordung Berlins zur weltoffenen Hauptstadt nach dem Mauerfall als bieder und zurückgeblieben erschienen ließ. Die linke Jugend und die hippen Zuzügler umgingen schon in den neunziger Jahren mit weltgeistigem Instinkt die (deshalb noch heute lebenswerten) Bezirke Charlottenburg, Schöneberg und Tiergarten und setzten sich östlich des alten Westens, in Neukölln und Kreuzberg, fest. Während diese Quartiere dank der neuen Mischung linker, ökologischer und islamischer Milieus inzwischen für Juden teils lebensgefährlich sind, fiel der jüdische Alltag im alten Westen, den es (vor allem in Teilen von Schöneberg und Charlottenburg) immer noch gibt, zusammen mit dem Ku’damm dem Vergessen anheim. Während man mit der alten Mitte um Friedrichstraße und Unter den Linden genau jene Viertel weltstädtisch polierte, die den Nationalsozialisten als urbane Schaufenster des »Dritten Reichs« gedient hatten, wurde das von den Nazis verachtete westliche Zentrum erneut vernachlässigt. Damit wurde auch die Zivilisierungsgeschichte, die sich in der alten Bundesrepublik durch Aufwertung des Ku’damm-Viertels vollzogen hatte, zurückgenommen.

Dass nun seit einigen Jahren um den Breitscheidplatz neue Hochhäuser und elegante Locations entstehen, bedeutet keine Revision, sondern eine Radikalisierung dieser Vernachlässigung. Wenn das Theater und die Komödie am Kurfürstendamm, wie seit längerem geplant, erst wirklich unter die Erde verlegt worden sind, werden die letzten Lichtblicke urbaner Liberalität aus dem Alltag des alten Westens verschwunden sein. Stattdessen wird sich der Ku’damm architektonisch und infrastrukturell kaum von der Ödnis unterscheiden, die den Potsdamer Platz seit seiner Neugestaltung beherrscht: kalte, teure, hässliche Bars, überdimensionierte Malls und dazwischen leere, tote, unbewohnbare Fläche, die von Menschen allenfalls im Laufschritt durchquert, aber nicht belebt werden kann. Wer trotzdem eine Ahnung davon bekommen möchte, wie es früher um den Ku’damm herum aussah, wird auf die Seitenstraßen ausweichen müssen – etwa, um die Reste des ehemaligen Rotlichtviertels am Stuttgarter Platz aufzuspüren, die Piefigkeit der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße zu genießen, die wirkt, als hätten die Achtziger nie aufgehört, oder eines der asiatischen Restaurants entlang der Kantstraße zu besuchen, dem einzigen Ort Berlins, der wenigstens entfernt mit der internationalen Gastronomie von New York oder London konkurrieren kann. Der Fortschritt aber, den der Berliner Westen in der alten Bundesrepublik verkörperte, hat sich längst ebenso aus der Stadt verzogen wie die Spuren von Phantasie und Esprit aus den Köpfen ihrer pseudokosmopolitischen Bevölkerung.