Thüringer Politikerinnen fordern eine Prüfung der Zahl der Todesopfer rechter Gewalt

Der Staat zählt weniger Tote

Wie viele Todesopfer rechte Gewalt seit 1990 in der Bundesrepublik gefordert hat, ist umstritten. Neue Erkenntnisse legen nahe, dass die offiziellen Angaben viel zu niedrig sind.

Nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 zeigten sich manche Behörden einsichtig: Sie überprüften manche unaufgeklärten Todesfälle sowie von nichtstaatlichen Stellen erfassten Todesfälle rechter Gewalt. Die beispielsweise vom Bundeskriminalamt (BKA) auf Bundesebene vorgenommene Revision betraf 745 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte zwischen 1990 und 2011. Das Ergebnis: Kein einziges Tötungsdelikte wurde nach der ersten Revisionsrunde nachträglich als rechtsextrem motiviert eingestuft.

Dass diese Zahl zu niedrig ausgefallen sein dürfte, zeigen kürzlich veröffentlichte Untersuchungsergebnisse von Mitarbeitern des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität Berlin. Die Wissenschaftler hatten im Auftrag des Berliner Landeskriminalamts mehrere Fälle untersucht, die unabhängige Fachleute und Journalisten im Gegensatz zu den staatlichen Behörden als Todesopfer rechter Gewalt in Berlin eingeordnet hatten. Anfang Mai stufte auch das BKA wegen der Ergebnisse der Wissenschaftler des ZfA sechs Gewaltverbrechen mit insgesamt sieben Toten nachträglich als rechts motiviert ein.

Das Land Brandenburg hatte im Jahr 2013 eine wissenschaftliche Überprüfung der Statistiken in Auftrag gegeben. Das mit der Untersuchung beauftragte Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum (MMZ) hatte insgesamt neun weitere, zuvor nicht als rechts motivierte registrierte Tötungsdelikte ermittelt. In dem Bundesland starben demnach seit dem Beitritt zur Bundesrepublik 18 Menschen durch rechtsextreme Gewalt. Nach der Veröffentlichung des Abschlussberichtes 2015 hatte die Bundestagsabgeordnete Monika Lazar (Grüne) eine umgehende »bundesweite unabhängige Neuprüfung aller Altfälle« gefordert. Doch eine solche blieb bislang aus.

Die drei thüringischen Landtagsabgeordneten Katharina König-Preuss (»Die Linke«), Diana Lehmann (SPD) und Madeleine Henfling (Grüne) wollen zumindest in ihrem Bundesland eine unabhängige Überprüfung der amtlichen Statistiken erwirken. »Die Überprüfung der durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Presse aufgelisteten Todesfälle rechter Gewalt in Thüringen seitens einer unabhängigen und wissenschaftlichen Stelle ist angesichts der Ergebnisse aus Brandenburg und Berlin dringend erforderlich«, schrieben die drei Abgeordneten vor zwei Wochen in einer Pressemitteilung. Die Politikerinnen wollen unverzüglich mit den zuständigen Ministerien erörtern, in welcher Form die erneute Überprüfung schnellstmöglich stattfinden könne. Bisher wurde in dem Bundesland seit 1990 offiziell nur ein Todesopfer rechter Gewalt registriert. Dabei handelt es sich um den Parkwächter Karl Sidon, der 1993 in Arnstadt von Naziskinheads zusammengeschlagen, auf eine Straße geschleift und schließlich von mehreren Autos überrollt wurde.

Sich mit dem Thema befassende Initiativen gehen gegenwärtig von acht Todesopfern rechter Gewalt in Thüringen seit 1990 aus. Äußerst umstritten ist zum Beispiel der Fall der 14jährigen Jana Georgi aus Saalfeld. Sie wurde im März 1998 auf dem Weg zu einem alternativen Jugendzentrum von einer Gruppe rechter Jugendlicher aufgehalten. Es entwickelte sich ein Streitgespräch, in dessen Verlauf ein damals 15jähriger ein Messer zückte und mehrfach auf die Jugendliche einstach. Georgi verstarb noch am Tatort. Der Täter gab später bei der Polizei zu Protokoll, er habe sich rächen wollen, weil Jana Georgi ihn als »Scheißfascho« bezeichnet habe. Das Landgericht Gera verurteilte ihn wegen Totschlags zu fünfeinhalb Jahren Jugendstrafe. In der Urteilsbegründung wurde die Beziehung zwischen Opfer und Täter in den Mittelpunkt gerückt: Der Jugendliche habe sich abgelehnt und gekränkt gefühlt, was ihn zur Tat motiviert habe. Noch vor sechs Jahren bekräftigte die thüringische Landesregierung, es habe sich um eine unpolitische Tat gehandelt.

Franz Zobel von Ezra, der Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, kritisierte im Gespräch mit der Jungle World, die Perspektive der Opfer und Betroffenen fehle in der offiziellen Darstellung. Das größte Problem aber sei, dass »nur solche Taten als rechtsmotiviert eingestuft werden, in denen ein politisches Motiv als tatauslösend oder tatbestimmend nachgewiesen werden kann«. In der Statistik sollten auch Taten erfasst werden, bei denen eine sozialdarwinistische, rassistische, antisemitische oder andere rechte Einstellung tatbegleitend oder tateskalierend eine Rolle spielten. Dazu wäre es Zobel zufolge notwendig, Polizisten besser zu schulen. Bisher würden »Beweise am Anfang nicht aufgenommen, da den ermittelnden Beamten der Blick dafür fehlt«. Dies führe dazu, dass Tatmotive insbesondere dann nicht erkannt würden, wenn die Täter keine organisierten Neonazis seien oder wenn Betroffene nicht zu den üblichen Opfergruppen gehörten, so der Ezra-Mitarbeiter.

Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) fordert, die »Anerkennungslücke bei der töd­lichen Dimension rechter und rassistischer Gewalt« endlich bundesweit zu schließen. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien des ZfA und des Moses-Mendelssohn-Zentrums hätten zur Anerkennung von 16 weiteren Todesopfern rechter und rassistischer Gewalt in Berlin und Brandenburg durch die Strafverfolgungsbehörden geführt. Nun sei es notwendig, »unab­hängige wissenschaftliche Überprü­fungen der Tötungsdelikte seit 1990 auch in den 14 Bundesländern, in ­denen dies bislang nicht geschehen ist«, zu beginnen. Die Diskrepanz zwischen den staatlicherseits anerkannten 83 Todesopfern rechter Gewalt und den mindestens 174 Todesopfern, die Presse und private Organisationen registriert haben, zeige, dass »die offiziellen Zahlen die Realität noch nicht einmal annähernd widerspiegeln«.