Der Journalist Giuliano Santoro erklärt im Gespräch, warum die Fünf-Sterne-Bewegung nicht links ist

»Querfront an der Macht«

Interview Von Federica Matteoni

In den internationalen Medien wird die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) häufig als »linkspopulistisch«, manchmal sogar als »linksradikal« bezeichnet. Der Journalist Giuliano Santoro, der bereits zwei Bücher über die Partei geschrieben hat, erklärt im Gespräch, warum nichts an ihr links ist. Bereits vor fünf Jahren sprach er mit der »Jungle World« über den Erfolg des M5S. Diese Woche spricht er darüber, was von der neuen Regierungskoalition zu erwarten ist.

Fast zwei Monate herrschte nach der Parlamentswahl Stillstand, innerhalb einer Woche folgte dann ein Paukenschlag dem anderen und jetzt haben die Wahlsieger doch die Regierung gebildet. War das alles viel Lärm um nichts?
Die Frage, um was es wirklich ging, beantworten die Protagonisten unterschiedlich. Der Konflikt um Paolo Savona als Wirtschafts- und Finanzminister wurde in der italienischen öffentlichen Debatte zunächst als eine Art Putsch interpretiert. Von Lega und M5S war diese Interpretation zu erwarten, der M5S setzte mit der absurden Forderung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Statspräsidenten Sergio Mattarella noch einen drauf und heizte die Stimmung in einer ohnehin bereits außer Kontrolle geratenen Debatte weiter an. Das Vorgehen des Staatspräsidenten wurde als Eingriff in den demokratischen Prozess kritisiert, mehr oder weniger offen wurde Mattarella aufgrund dieser Entscheidung als Handlanger der Finanzmärkte, des EU-Establishments und der Deutschen wahrgenommen und beschimpft, in den sozialen Medien kursierten sogar Morddrohungen. Wenn man genau hinsieht, hat Mattarella nur seine Arbeit gemacht, und er hat die Kontrahenten genau ­dahin gebracht, wo er wollte.

Sie meinen, das war von Anfang an Mattarellas Plan? Es sah eher so aus, als wolle er dieser Regierung ihre Grenzen zeigen.
Mir ist bewusst, dass die Ereignisse der vergangenen Woche den italienischen Staatspräsidenten wie eine Art König aussehen ließen, der sich die Minister nach eigenem Gusto aussucht. Mattarellas Vorgehen war jedoch absolut verfassungskonform, der Staatspräsident hat die Befugnis, die Ministerliste ­abzusegnen oder eben nicht. Das passierte auch 1994, als der damalige Staatspräsident Scalfaro Silvio Berlusconi daran hinderte, seinen Anwalt zum Justizminister zu ernennen. Berlusconi akzeptierte dieses Veto. Giuseppe Conte tat das nicht, sonst hätte er sofort einen anderen Namen vorschlagen können, statt auf das Mandat zu verzichten. Aber er hatte nicht die politische Legitimation dafür. Er hat weder eine politische Rolle noch ein politisches Profil. Er beschränkte sich darauf, das umzusetzen, was seine Auftraggeber (von Lega und M5S, Anm. d. Red.) vorhatten. Das wird auch in Zukunft so bleiben.

Luigi Di Maio und Matteo Salvini wollten also den Konflikt so eskalieren lassen, dass Mattarellas Weigerung wie ein Veto im Auftrag des EU-Establishments aussieht?
Das ist das Komplott-Narrativ, das für die Lega, aber vor allem für den M5S essentiell ist, denn es gehört zur Natur dieser Partei, hinter politischen Prozessen Verschwörungen wahrzunehmen. In der vergangenen Wochen hat man gemerkt, wie stark dieses Narrativ die Medien und die politische Debatte beeinflusst hat. Für einige Tage herrschte auf so gut wie allen Seiten wenn nicht die Überzeugung, so doch zumindest das diffuse Gefühl, dass es nicht um die Personalie Paolo Savona gehe, sondern dass Europa – was auch immer hier in diesen Namen hineininterpretiert wird – diese Regierung als solche verhindern und damit die italienische Politik aktiv lenken wolle. Ein Gefühl, das die Aussagen Günther Oettingers natürlich verstärkt haben, obwohl er nichts an­deres als den Status quo im neoliberalen Kapitalismus beschrieben hat.

Vergessen wir nicht, dass in der vergangenen Woche für zwei, drei Tage Neuwahlen als die einzige Option erschienen, um diese Krise zu lösen. Mit solchen Äußerungen in die Debatte einzugreifen, heizt die ohnehin schon angespannte Stimmung weiter an und spielt den sogenannten Euroskeptikern und Souveränisten in die ­Hände – nicht nur den italienischen.

Am Ende hat es aber gereicht, Savona in ein anderes Ministerium zu versetzen, und fertig war die Regierung, die Europa angeblich verhindern wollte. Die ganze antieuropäische Hetze hat sich als Propaganda entlarvt. Ist das nicht ein erstes Glaubwürdigkeitsproblem für Lega und M5S in den Augen der eigenen Wählern?
Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Das ganze Spektakel hat sie eher in ihrer Selbstinszenierung als authentische Stimme der demokratischen Mehrheit bestärkt. Fakten spielen für sie ohnehin eine untergeordnete Rolle. Die Wählerinnen und Wähler der beiden Parteien können es kaum erwarten, ihre »Regierung des Wandels« in Aktion zu sehen, sie sehen diese Machtübernahme als eine Art Mission, da gibt es keinen Platz für Widersprüche, ­geschweige denn für interne Debatten.

Salvini wird als Sieger in diesem Konflikt wahrgenommen. Sehen Sie das auch so?
Was zunächst wie ein Konflikt mit dem Staatspräsidenten und mit Europa ­aussah, war auch ein Kräftemessen innerhalb der neuen Regierungskoali­tion. Salvini hat gezeigt, dass die Lega, mit ihren 17 Prozent der Wählerstimmen, die tragende Kraft dieser Regierungskoalition ist. Er, der ein sehr ­erfahrener Politiker ist und das dem M5S verhasste Parteiensystem sehr gut kennt, hat es geschafft, den M5S, der bei den Wahlen fast das doppelt so viele Stimmen bekommen hat, auf seine Linie zu bringen. Das wurde bereits während der Verhandlungen über den Regierungsvertrag deutlich.

»Der Kompromiss zwischen Lega und M5S ist die gefährlichste politische Entwicklung, die man sich vorstellen konnte.«

Spiegelt sich diese Asymmetrie auch in der Zusammensetzung der »Regierung des Wandels« wider?
Neu ist sie in der Tat, als am weitesten rechts stehende Koalition der Repu­blik Italien. Der Kompromiss zwischen Lega und M5S ist die gefährlichste ­politische Entwicklung, die man sich vorstellen konnte. Auch wenn ich seit Jahren davon überzeugt bin, dass der M5S keine progressive Kraft ist, hätte ich nie gedacht, dass er sich so schnell mit einer rechtsextremen Partei einigen könnte, ohne dass kritische Stimmen in der Partei laut würden.

Die Vereinbarung, die jetzt zum ­Regierungsprogramm geworden ist, wurde von den Anhängern des M5S mit über 90 Prozent in einer Online-Abstimmung abgesegnet. Der wesent­liche Inhalt dieses Vertrags besteht im Versprechen neuer Formen von sozialer Grundsicherung und in einer Verschärfung der Sicherheitspolitik mit autoritären Zügen. Konkreteres kann man im Moment nicht sagen.

Der zuvor unbekannte Professor Giuseppe Conte verfügt über so gut wie keine politische Macht gemessen an seinen beiden Stellvertretern. Der eine, Matteo Salvini, ist nun Innen­minister und wird sich vor allem auf dem Gebiet der inneren Sicherheit ­profilieren – dazu gehören die Liberalisierung der Waffengesetze, mehr ­Befugnisse für die Polizei in der Kriminalitätsbekämpfung sowie Inhaftierungen und Abschiebungen von Migranten. Der andere, Luigi Di Maio, wird als Arbeitsminister versuchen, mit viel zu wenig Geld ein Bürgereinkommmen einzuführen.

Für wie realistisch halten Sie es, dass diese Regierung erreichen wird, was die Parteien versprochen haben?
Im Bezug auf die finanzielle Lage werden sie kaum etwas erreichen. Allein die ursprüngliche Vorstellung, mit Paolo Savona einen Wirtschaftsminister zu haben, der die EU mit der Drohung eines Austritts Italiens aus der Euro-Zone ­erpresst, wenn die Verträge nicht neu verhandelt werden, war von Anfang an ziemlich absurd. Trotzdem haben viele dieses Szenario für möglich ­gehalten und damit einen Austritt Italiens aus der Euro-Zone – der im Koali­tionsvertrag gar nicht erwähnt ist – realistisch aussehen lassen. Jetzt hat sich Mattarellas Linie durchgesetzt. Sowohl der Außen- als auch der Wirtschafts­minister gehören zum Establishment, das soll Signalwirkung haben und Zweifel bezüglich der Loyalität Italiens zur EU beseitigen. Auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Finanzen wird es Kontinuität geben. Was dieser Regierung bleibt, ist die Profilierung auf dem Gebiet der inneren Sicherheit.

Sie wird auf diesem Gebiet mehr Handlungsspielraum haben. Wie schnell wird sich hier etwas ändern?
Der neue Innenminister will das Migrationsgesetz verschärfen, das von seiner Partei stammt und schon jetzt sehr ­repressiv ist. Es trägt noch die Namen des ehemaligen Lega-Führer ­Umberto Bossi und von Gianfranco Fini, dem ehemaligen Vorsitzenden der postfaschis­tischen Alleanza Nazionale. In der politischen Debatte ­wurde das »Bossi-­Fini-Gesetz«, das unter anderem den Straftatbestand des »illegalen Grenzübertritts« enthält, nie in Frage gestellt. Auch nicht von der Mitte-links-Koali­tion, die die letzten fünf Jahre regiert hat. Aber auch hier gilt: Salvini wird die ankommenden Flüchtlinge allein nicht aufhalten können, weil die Migrationspolitik, ähnlich wie der Euro, eine europäische Angelegenheit ist. Der einzige Unterschied ist, dass beim Thema Euro ganz Europa besorgt auf Italien blickt. Beim Thema Einwanderung wird das vermutlich nicht passieren. Salvini wird ähnlich wie sein Vorgänger von der Demokratischen Partei agieren und versuchen, die Migranten in Libyen zu belassen. Sein Versprechen, 500000 Migranten abzuschieben und mehr Abschiebegefängnisse für die »Illegalen« einzurichten, ist bedrohlich. Doch ­Massenabschiebungen kann er auch nicht im Alleingang anordnen, ganz zu schweigen von den Kosten. Auch für den Bau von Gefängnissen in jeder ­Region, von dem im Wahlkampf die Rede war, fehlt schlicht das Geld.

Gefährlich sind diese Ideen vor allem als Propaganda. Salvini wird ver­suchen, sich als Minister für Recht und Ordnung zu profilieren und die Schwächsten, die anderen, die nicht »zu uns gehören«, zu »Schuldigen« für die soziale Krise machen. Es stehen uns dunkle Zeiten bevor.

 

Wie ist es möglich, dass die Basis des M5S die Allianz mit der Lega einfach so hinnimmt? Der M5S soll auch Stimmen von linken Wählerinnen und Wählern bekommen haben, wie können sie damit leben?
Der M5S ist seit fünf Jahren eine Partei. Ich finde, das ist genug Zeit, um zu ­sagen, dass es keine enttäuschten Linkswähler mehr gibt. Der Erfolg des M5S kann nicht mit sozialen Konflikten oder Klassenzugehörigkeit erklärt werden. Es gibt keine Klassendefinition für die Wählerinnen und Wähler, die sich ­abgehängt fühlen, die in der urbanen Peripherie leben oder im Süden des Landes mit seinen strukturellen Problemen, die von der Wirtschafts- und Finanzkrise verschärft wurden. Das, was diese Wählerschaft eint, ist die Wut; Inhalte sind verhandelbar. Die einzelnen politischen Themen spielen eine untergeordnete Rolle. An erster Stelle steht für den M5S die Botschaft: Wählt uns, um sie, das Establishment, weg­zuschicken.

Daher rührt die ganze Rhetorik des Wandels und der »dritten Republik«. Sie sind wirklich überzeugt, das Neue zu sein. In gewissem Sinne sind sie es auch: Sie waren erfolgreich beim Branding dieses Neuen als Revolte. Sie haben damit eine Marke aufgebaut und erfolgreich die Botschaft platziert, dass politische Inhalte und vor allem Debatten über Inhalte nutzlos seien, weil sie ideologisch seien. Das hat dazu geführt, dass sie auch Antirassismus und Antifaschismus für Ideologien halten, mit denen sie nichts anfangen können. Das ist das Gegenteil einer politischen Kultur, die von Meinungsvielfalt lebt. Es ist eine bemerkenswerte Verschiebung in der politischen Kultur, sie ist für eine Demokratie gefährlich.

Es wird immer wieder versucht, den Populismus des M5S durch vor­handene Kategorien zu charakterisieren. Mittlerweile hat man sich, zumindest in ausländischen Medien, auf »linkspopulistisch« geeinigt. Haben Sie einen besseren Vorschlag?
Ich weigere mich, eine Partei, die eine Koalition mit Rechtsextremen bildet, als links zu bezeichnen. Und ich frage mich, warum darauf beharrt wird, ­diese Bewegung mit rechts oder links zu definieren, in Italien spielt diese Frage mittlerweile kaum eine Rolle. Es stimmt, dass der M5S weder rechts noch links ist. Aus diesem »weder rechts noch links« haben sie sogar eine postideologische Identität gebildet, die sehr gefährlich ist, weil die Flanke nach rechts offen steht. Nach links gibt es weniger Anknüpfungspunkte.
Ich würde sagen, dass sich in der Allianz zwischen M5S und Lega eine Form von Querfront institutionalisiert hat, die im Souveränismus ihr ver­binden­des Element findet.

Kann man von einer Faschisierung der italienischen Gesellschaft reden?
Leider ist das kaum zu bestreiten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Wahlen im März eine Partei an die Macht ­gebracht haben, die auf lokaler Ebene beste Beziehungen zu offen neofaschistischen Organisationen unterhält. Die bekannteste ist Casa Pound, die sich bereits zufrieden mit der neuen Regierungskoalition erklärt hat. Einer der Lega-Minister wurde mehrmals auf ­Demonstrationen der Neofaschisten von Forza Nuova gesehen. Salvini, der sich explizit am französischen Front National orientiert, hat der Lega durch seine nationalistische, völkische Wende ein deutliches rechtsextremes Profil gegeben. Er hat nicht trotzdem, sondern deswegen Stimmen gewonnen. So einfach das klingen mag, das ist Faschisierung. Verantwortlich für den Rechtsruck ist auch der Umstand, dass in ­einer Phase, in der linke Bewegungen und Debatten de facto kaum existent waren, eine Bewegung wie der M5S Themen der Linken – Ökologie, Prekarisierung, Partizipation – politisch ­besetzt und rekontextualisiert hat.