Israel ist einer der Vorreiter beim medizinischen Einsatz von Cannabis

Koscher kiffen

Von Tal Leder

Seit einigen Wochen verkaufen ausgesuchte Apotheken in Israel verschreibungspflichtige Cannabisprodukte. Israel ist weltweit führend beim medizinischen Einsatz von Cannabis.

Lior ist auf dem Weg nach Tel Aviv. »Ich brauche wieder Nachschub«, sagt er ­lächelnd, während er in sein Auto steigt. »Für diesen Monat habe ich schon fast mein gesamtes medizinisches Cannabis verbraucht.« Der 26jährige lebt in Herzliya und leidet seit dem Gaza-Krieg 2014 an posttraumatischen Störungen. Als Offizier bei einem kleinen Bataillon der Fallschirmjäger war er in mehrere schwere Kämpfe gegen Terroristen der Hamas verwickelt und musste mit ­ansehen, wie sein bester Freund nach einem Kopfschuss in seinen Armen starb und ein weiterer Freund bei einer Explosion die Beine verlor. »Meine Albträume und Schlaflosigkeit waren so schlimm, dass ich nicht mehr weiter wusste. Wegen Panikzuständen und ­sogenannter Flashbacks wollte ich mir sogar das Leben nehmen. Ständig sah ich die Bilder vor mir«, erzählt Lior bedrückt.

Als die Abteilung für Rehabilitierung des israelischen Verteidigungsministeriums Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) bei ihm diagnos­tizierte, bekam er Cannabis verschrieben. »Seit ich das medizinische Mari­huana rauche, kann ich wieder schlafen«, sagt Lior. »Diese wunderbare Pflanze hilft mir sehr. Mein Lebensmut und meine Fröhlichkeit waren plötzlich wieder da.«

Marihuanakonsum ohne Rezept wird auch in Israel kriminalisiert, doch für medizinische Zwecke wurde er vor rund zehn Jahren genehmigt und sogar ­gefördert. Bereits Anfang der neunziger Jahre wurde die Cannabistherapie an Krebspatienten mit großem Erfolg getestet, später auch bei Krankheiten wie Parkinson, Multipler Sklerose, Morbus Crohn und anderweitig verur­sachten chronischen Schmerzen sowie psychischen Störungen angewandt.

Das erste medizinische Cannabis-Unternehmen in Israel, das immer noch zu den führenden weltweit gehört, ist Tikun Olam, hebräisch für »Repa­ratur der Welt« oder »Weltverbesserung«. 230 verschiedene Sorten der Hanfpflanze wachsen auf der größten Plantage ihrer Art im Norden Israels. Mit seinem Vertriebszentrum in Tel Aviv versorgt das Unternehmen die Mehrheit der Patienten des Landes. Zugang zur Therapie bekommt man nur mit einer Verschreibung eines staatlich anerkannten Mediziners.

»Das Cannabis ist auf dem Weg, den Weltmarkt zu revolutionieren.« Ma’yan Weisberg, Sprecherin von Tikun Olam

»Wir versorgen knapp 20 000 Patienten mit medizinischem Cannabis; ­davon sind ungefähr 25 unter drei Jahre alt«, sagt Ma’yan Weisberg, die Sprecherin von Tikun Olam. Sie ist seit über zehn Jahren im Unternehmen tätig und von der Heilkraft der Pflanze überzeugt: »Wir verabreichen unseren ­Patienten Kraut aus unseren eigenen Treibhäusern und wir haben mindestens 18 unterschiedliche Arten, die den Menschen guttun. Man kann erkennen, dass die Menschen sehr dankbar sind.« Obwohl in Israel die Forschung vergleichsweise sehr weit vorgeschritten ist, glaubt sie, die Entwicklung stehe erst am Anfang: »Cannabis ist auf dem Weg, den Weltmarkt zu revolutionieren.«

»Es ist sehr praktisch, hierherzu­kommen«, sagt der Rentner Shlomo in perfektem Deutsch. Der gebürtige ­Kölner lebt seit der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 in Tel Aviv. Er ist fast 90 Jahre alt und besucht Tikun Olam mehrmals im Monat für die Schmerzbehandlung seiner an Krebs erkrankten Ehefrau. »Auf Rezept bekomme ich hier die passende Medizin. Seit meine Liebste die Cannabistropfen zu sich nimmt und das Marihuana auch raucht, leidt sie deutlich weniger.«

Lange bevor Unternehmen kom­merziell medizinisches Cannabis anbauten, wurde es im Kibbuz Na’am in der Nähe von Rehovot zur Behandlung von Patienten im dortigen Altersheim eingesetzt, bei Arthritis oder Parkinson. Es wird dort geraucht oder mit Joghurt vermischt. Auch Holocaust-Überlebende nutzen dort seit längerem die heilende Kraft des Cannabis, bei vielen gingen Albträume und Angstzustände zurück.

»Israel ist mit seinem milden Klima perfekt für den Anbau von Cannabis«, sagt Eyal Assado, der stellvertretende Leiter von Pharmocann. Gemeinsam mit seinem Bruder Shai gründete er das Unternehmen im Jahr 2008. »Die himmlische Pflanze genießt im Gelobten Land über 300 Sonnentage und hat dazu noch optimale Luftfeuchtigkeit«, so der 48jährige Pharmazeut. »Jedes Unternehmen hat sein eigenes Geheimrezept und produziert so eine ­eigene, perfekt konzentrierte Mischung.« Pharmocann ist eine von acht Firmen in Israel, die vom Gesundheitsministerium die Lizenz bekommen haben, ­Cannabis als Heilpflanze anzubauen und zu vermarkten.

 

Bis zu 30 000 Patienten werden derzeit in Israel mit medizinischem Cannabis versorgt. Seit Produktion und Vertrieb von therapeutischem Marihuana vor über einer Dekade von der israelischen Regierung genehmigt wurde, nimmt die Produktion ständig zu. Der Staat hat Dutzende Millionen US-­Dollar in die Forschung investiert und Israel gehört heute in dieser Branche weltweit zu den Spitzenreitern. In Fachkreisen wird Israel sogar als »das ­Mekka der medizinischen Marihuanaforschung« betrachtet.

Seit den frühen sechziger Jahren hat die israelische Regierung die Cannabisforschung gefördert. Alles begann an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Damals war es der israelische ­Wissenschaftler Dr. Raphael Mechoulam, der konfisziertes libanesisches ­Haschisch verwendete, das er von der Polizei erhalten hatte. Er war einer der ersten Forscher, der 1963 aus den rund 1 000 Substanzen der Pflanze das ­medizinisch wichtige Cannabidiol (CBD) identifizierte und isolierte. CBD wirkt unter anderem entzündungshemmend und angstlösend und ist dabei kaum psychoaktiv. Kurz danach isolierte er Tetrahydrocannabinol (THC), das ­bewusstseinsverändernd wirkt. Mechoulam überzeugte das israelische Gesundheitsministerium, ein medizinisches Cannabisprogramm zu etablieren, das schließlich 1992 genehmigt wurde. ­Daraufhin entwickelte er die heute in Israel angewandte medizinische ­Marihuanabehandlung.

Im Rahmen eines Testprogramms entschied die israelische Regierung 2017 einstimmig, dass Patienten seit dem 20. April dieses Jahres in 25 israelischen Apotheken medizinisches Can­nabis auf Rezept kaufen können. Dort ist das Medikament in Blätterform in einem Beutel erhältlich oder der Wirkstoff wird aufgelöst in Öl, Salben oder Tabletten verkauft.

Das Gesundheitsministerium hat einheitliche Standards für die Bestand­teile, die Verwendung und den Verkauf von medizinischem Cannabis fest­gelegt. Die Apotheken müssen eine Genehmigung des Gesundheitsminis­teriums beantragen, sich zu strikten Aufbewahrungs- und Sicherheitsverfahren verpflichten und die Pharmazeuten entsprechend ausbilden. Das erste Unternehmen, das das Good-Manufacturing-Practice-Zertifikat (GMP) des Gesundheitsministeriums erhalten hat, ist die israelische Cannabisfirma Panaxia. Sie darf nun medizinisches Marihuana an Apotheken verkaufen. Andere Unternehmen befinden sich in verschiedenen Phasen der Zertifizierung.

Der Apothekerverband Israels hatte in der Vergangenheit bereits darauf beharrt, dass Apotheken der richtige Ort seien, an dem medizinisches Marihuana sowie andere Rauschmittel erhältlich sein sollten. Die Apotheker sehen Cannabis auch als ein Mittel, um ihre Umsätze zu erhöhen, und schätzen, dass in ein paar Jahren über 100 000 Genehmigungen für dessen Verteilung beantragt sein werden.

Da es unter den Marihuanapatienten in Israel natürlich auch einige religiöse Juden gibt, mussten die Unternehmen präzise darauf achten, dass auch in ­dieser Branche alles den Gesetzen der Halacha folgt. Da man am Sabbat kein Feuer anzünden darf und es auch verboten ist zu rauchen, wurde der Wirkstoff auch in Form von Tabletten, Öl oder Salben ausgegeben. Bereits früh gab es in Israel eine kontroverse Debatte darüber, ob Cannabis und Judentum überhaupt zusammenpassen. Efraim Zalmonovich, ein orthodoxer jüdischer Rabbiner, erklärte im Jahr 2013 medizinisches Cannabis für koscher. Zur Entspannung sei Marihuana nicht erlaubt, als Medizin aber schon, erklärt er: »In der Thora gibt es ein Gesetz, das besagt, dass der Mensch nicht leiden und traurig sein soll. Es muss einem wohl ergehen, und wenn den Einzelnen nichts anderes hilft als Cannabis, um glücklich zu sein, selbst wenn es sie davon abhängig macht, dann soll es so sein.« Zalmonovich sprach aus eigener Erfahrung. Bei seiner Mutter und später auch seiner Schwester wurde Krebs diagnostiziert und sie litten lange unter schrecklichen Schmerzen.

Auf der Cannatech 2018 in Tel Aviv, ­einer jährlich stattfindenden internationalen medizinischen Cannabis­konferenz, trafen sich im März mehr als 800 Branchenvertreter aus verschiedenen Ländern, um die Zukunft dieses aufstrebenden Zweigs der Pharmaindustrie zu diskutieren. Der Leiter dieser Veranstaltung, Saul Kaye, ein Apotheker und Geschäftsführer von Ican, einem israelischen-Cannabis-Risikofonds, sieht in Israel so etwas wie das Gelobte Land des Cannabis und sagt, es sei bei Inno­vationen in der Cannabisindustrie den anderen Nationen bis zu zehn Jahre voraus. Israel stehe wegen seines gut entwickelten Netz von ­Cannabisforschern, Landwirten, Unternehmern, Pharmaindustrie und Regierungspolitik so weit vorne: »In unserem Land wird das alles weniger stigmatisiert als anderswo.«

Auch Lior, der sich dank des medizinischen Marihuanas langsam aber ­sicher von seinen posttraumatischen Belastungsstörungen erholt, will in den Markt investieren. Nach dem Gaza-Krieg 2014 wurde er von Psychologen der israelischen Streitkräfte als vorübergehend erwerbsunfähig eingestuft und bekommt jeden Monat eine Art Rente ausbezahlt. »In den letzten vier Jahren habe ich mir einiges zusammengespart und werde mein Geld in medizinischem Cannabis anlegen«, sagt er und lacht dabei: »Koscher kiffen kann bestimmt noch lukrativ werden.«