Leroy Sané darf nicht mit zur WM

Löws Entscheidung

Die finale WM-Auswahl wird wie immer hitzig diskutiert. Dabei war es folgerichtig, Leroy Sané nicht zu berücksichtigen.

Vier Spieler hat Bundestrainer Joachim Löw aus dem Kader gestrichen, einer beschäftigt das Internet. Leroy Sané muss zu Hause bleiben. Und das Netz wird wieder kreativ. »When you find out Leroy Sané isn’t going to the World Cup«, schrieb Kyle Walker, ein Mannschaftskollege Sanés bei Manchester City, und postete ein Foto, auf dem eine Person ungläubig Wasser ausspuckt. »No Sane? Not Sane«, wortwitzelte Gary Lineker. NBA-Star Dennis Schröder befand kurz und schmerzlos: »Löw is on that bullshit.« Michael Ballack begründete die deutsche Version der Sané-Wortspiele: »Jogi, dein Sane-Tag heute?« »So fehlt dem Spiel der Mannschaft das Sane-Häubchen«, führte ein User fort.

Der Hashtag #InSane bot sich an, und die BVG machte gewohnt gutes Marketing mit dem Bild eines von Regen überströmten U-Bahnfensters. Darunter stand: »Die U1 durch die Augen von Leroy Sané.« Sané selbst hielt sich zurück. Er wünschte der Mannschaft freundlich Erfolg und beschied seinem Kollegen Walker, dass dieser dann immerhin nicht gegen ihn spielen müsse. Glück für Walker.

Die Frage ist: Hätte er gegen ihn spielen sollen? Hätte Löw also Sané, den frisch gekürten Meister nach ­einer überragenden Saison mit Manchester City, 14fachen Torschützen und Nachwuchsspieler des Jahres in der Premier League, Marktwert 90 Millionen Euro, zur Weltmeisterschaft mitnehmen sollen? Wer für Sané argumentiert, zieht die Tore heran, die Torvorlagen, die Auszeichnung, die Wertschätzung Pep Guardiolas. Und die unbestrittene Tatsache, dass es der deutschen Nationalmannschaft an wendigen Tricksern fehlt. Ist also Löw insane geworden? Kaum. Die Entscheidung, Sané zu Hause zu lassen, fügt sich ein in die lange Historie des Löw’schen Eigensinns, der dem deutschen Team meist hilfreich war. Und er ist sinnig.

Seit Löw das Team mit Jürgen Klinsmann auf die WM 2006 in Deutschland vorbereitete, hat die Nationalelf einen von der Vereinspolitik unabhängigeren Weg beschritten. Löw behandelt die Mannschaft als fragiles System, als eigenen Verein mit individueller, freilich vom FC Bayern beeinflusster Spielweise. Er hat sich gelöst von der überholten Vorstellung, dass eine Nationalelf aus den Blöcken der besten Stammspieler der größten Vereine bestehen müsse. Ein erfolgreicher Stürmer beim FC Bayern ist nicht automatisch dabei, nur weil er erfolgreicher Stürmer beim FC Bayern ist; das hat zuletzt richtigerweise Sandro Wagner erfahren. Kleine, stille Helfer haben das Team flexibler gemacht und es befreit aus der Lähmung als Operette großer Einzelkönner. Scheinbare Außenseiter wie David Odonkor, Shkodran Mustafi und Jonas Hector konnten von der neuen Flexibilität profitieren. Nicht immer langfristig, aber in den Momenten, in denen sie für das Team nötig waren. Das ist die Priorität. Leroy Sané, bisher austauschbarer Ergänzungsspieler mit austauschbarer Leistung, drängt sich dazu nicht auf.

 

Der Bundestrainer hat also »Eier« (Oliver Kahn). Er laviert nicht diplomatisch zwischen öffentlichen Erwartungen und eigenen Vorstellungen; er wagt unpopuläre Entscheidungen. Manchmal offensichtlich auch mit der eigennützigen Motivation, seine Unabhängigkeit zu betonen. Sané zu streichen, war sportlich nicht zwingend. Er hätte ihn als Ergänzungsspieler mitnehmen und sich Ärger ersparen können. Löw aber hat nicht die bequeme Option gewählt, und das ist für die deutsche Mannschaft eine gute Nachricht. Das zeichnet kluge Trainer aus.

Vor der WM 2006 rief das Team Klinsmann/Löw einen Konkurrenzkampf zwischen Oliver Kahn und Jens Lehmann aus. Öffentlich gab es dafür scharfe Kritik; als letztlich Lehmann den Vorzug erhielt, löste das ein Beben aus. Es war nicht nur eine sportliche Entscheidung. Selbstverständlich wäre das Team mit Kahn im Tor ebenso gut bedient gewesen. Es war eine Entscheidung, die auf die Machtstruktur im Team zielte, und auch ein persönlicher Befreiungsschlag gegen das Bündnis aus FC Bayern, Torwarttrainer Sepp Maier und Boulevardpresse, das Kahn protegierte. Es war eine richtige Entscheidung für den am Ball stärkeren Keeper und eine kluge für die Neuordnung der Mannschaft. Populistische Forderungen fanden auch darüber hinaus selten Gehör. Am absurdesten war vielleicht die, zu Beginn der Klinsmann-Ära den zeitweiligen Torschützenkönig Aílton einzubürgern. Mittlerweile weiß man, dass es ein Desaster gewesen wäre, auf Aílton, der seine beste Zeit längst hinter sich hatte, zu setzen statt auf eigene Talente. Es kennzeichnet einen guten Bundestrainer, über den Moment hinausschauen zukönnen.

Sané hat in der Nationalelf bislang selten überzeugt. Als Stammspieler wäre er sowieso nicht in Frage gekommen, das war bei dem herausragend besetzten deutschen Mittelfeld mit den gesetzten Toni Kroos, Mesut Özil und Thomas Müller offensichtlich. Als Ergänzungsspieler hat er Schwierigkeiten, seine Rolle im Nationalteam zu finden. Er ist zu eigensinnig, zu verspielt, zu schwach in der Defensive. Taktik-Nerds haben in einigermaßen intelligenter Weise dargelegt, warum Sané sich spielerisch mit dem System des Bundestrainers schwer tut. Es mag bei Löws Entscheidung auch eine Rolle spielen, dass ein selbstbewusster, etwas eitler Bursche wie Sané auf der Ersatzbank mehr Unruhe stiften könnte, als hilfreich wäre; Mats Hummels machte zuletzt dahingehende Andeutungen. Es dürfte aber, anders als öffentlich vermutet, nicht der Hauptgrund sein. Und es gar als alleinigen Grund zu unterstellen, hieße, den zuletzt starken Julian Brandt sträflich zu unterschätzen.

Löws Nationalteam ist ein ganz ­eigenes Gebilde. Eines, das mal mehr, mal weniger Balance findet zwischen Schweigern und Exzentrikern, Platzhirschen und Wasserträgern. Und sich klugerweise dabei nicht an den Hierarchien bei Bayer Leverkusen, Borussia Dortmund und Manchester City orientiert. Dass Löw Spieler mit Teamgeist bevorzugt, ist bekannt. Mittlerweile ist es zu einer Mode geworden, dass jeder ehemalige Nationalspieler – selbst einer mit nur drei Länderspielen – seine Gedanken zum deutschen WM-Kader öffentlich äußert. Eigentlich ist das die wirklich seltsame Entwicklung. Keiner von ihnen hat das Training verfolgt. Keiner hat die Spieler täglich gesehen. Man zieht Statistiken heran. Statistiken aber sagen wenig über Sinn oder Unsinn einer Nominierung. Auch Aílton war Torschützenkönig. Wäre es so einfach, bräuchte die Nationalelf keinen Bundestrainer, sondern lediglich einen Computer, der alle Marktwerte von oben nach unten listet. Der würde sich immerhin nicht an verärgerten ehemaligen Profis stören.

Löw ist sich wahrscheinlich bewusst, dass ihm bei einem frühen Ausscheiden die Entscheidung gegen Sané zum Vorwurf gemacht werden dürfte. Er hat sie trotzdem getroffen. Nach einer WM lässt sich begründet kritisieren, vor einem Turnier kaum. Die wirklich kritische Personalie ist nicht Leroy Sané. Die bleibt Manuel Neuer. Einen Torwart fast ohne Spielerfahrung zur Nummer eins zu machen, ist das eigentliche Risiko. Sollte Deutschland nach einem Patzer von Neuer ausscheiden, hätte Löw ein großes Problem. Zumindest Neuer kann sich zurzeit freuen, dass die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wird.