Graffiti und Gang-Gewalt im Viertel »Comuna 13« von Medellín

Schöner leben mit Graffiti

Die kolumbianische Metropole Medellín galt lange Zeit als Hochburg der organisierten Drogenkriminalität. Auch das Viertel Comuna 13 war von Gewalt geprägt, doch einige Bewohner organisierten sich und nutzten Kunstformen wie Graffiti und Rap, um die Zustände im Viertel zu verbessern.

Regen plätschert in den schmalen Gassen der Comuna 13 in Medellín. Kreuz und quer schlängeln sich die Wege und Straßen den Berg in dem Stadtteil am Rande der kolumbianischen Millionenmetropole hinauf, besonders steile Stellen werden durch Treppen verbunden. Die Wege sind an einigen Stellen so schmal, dass man mit ausgestreckten Armen die Hausmauern auf beiden Seiten zugleich berühren kann. Kabelkonstruktionen und kleine Straßenstände säumen die Straßen. Vieles ist improvisiert, fast alles von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst aufgebaut. Diese suchen nun Schutz vor dem Wolkenbruch. Wer kann, drängt sich unter hervorstehende Häuser­dächer oder die Schirme der Straßenhändler. In einer kleinen Apotheke quetschen sich die Menschen zusammen und warten auf das Ende des ­Regens. Die Straßen sind leergefegt, nur ein paar ­Eilige huschen schnell vorbei und weichen den Wasserfluten aus, die entlang der Wege bergab ­schießen.

Eine Gruppe scheint der Regen nicht zu schrecken: Ein Haufen blonder ­Touristen in bunten Shorts und Flipflops steht mitten auf der Straße und schaut auf eine Wand voll bunter Zeichnungen. Ihr Führer gestikuliert und schreit in schepperndem Englisch gegen den Regen an. »Verrückte Ausländer«, sagt Ana Lucia, die in der Apotheke steht und lacht. Die Bewohner der Comuna 13 sind zwar langsam an Touristen gewöhnt, aber immer noch häufig ­irritiert von deren Verhalten.

Ein paar Schritte den Weg hinunter ist ein Graffito zu sehen, das im ganzen Viertel bekannt ist. Es zeigt zwei Jungen, schwarze Linien auf blauem Grund. Die beiden schauen schelmisch auf die Betrachter, auf ihren Schultern sitzen bunte Vögel. »Sie stehen oft vor dem mural (Wandbild), wenn die Touristen kommen«, erzählt Ana Lucia, »und ­machen dann Selfies mit den Gringos.« Nur heute scheint der Regen selbst ­Selfie-begeisterte Jugendliche abzuschrecken.

 

Gangs und Gewalt

Dass heutzutage Touristen durch die Comuna 13 schlendern, ist nicht selbstverständlich. Bis vor wenigen Jahren galt das Viertel als eines der gefährlichsten der Welt – Guerillagruppen, para­militärische Vereinigungen, Drogengangs und der Staat kämpften hier jahrzehntelang um die Vorherrschaft. Noch immer gilt die Comuna 13 als ­eines der Problemviertel der Wirtschaftsmetropole Medellín. Im April forderte ein Konflikt zwischen verschiedenen kriminellen Gangs, den sogenannten combos, mehrere Todes­opfer.

Den Tourismus erleichtert haben hingegen die elektrischen Rolltreppen, die besonders steile Stellen im Viertel verbinden und dabei das wohl längste Rolltreppennetz der Welt bilden. Vor ­allem kommen die Touristen aber wegen Menschen wie Jhon Ferley Ciro, den hier alle nur »Ciro« nennen. Im südlichen Teil der »13«, wie die Comuna 13 kurz genannt wird, wo die Wege noch nicht ganz so steil sind und die Häuser mit kleinen Vorgärten einen bescheidenden Wohlstand erahnen lassen, befindet sich die Casa Kolacho. Ciro sitzt hier in einem Zimmer inmitten von Sprühdosen, Turnschuhen und Caps. Aus dem Nachbarraum ist Rap zu hören, dort befindet sich ein gemeinsames Tonstudio.

Gemeinsam mit seinen Mitstreitern verwandelte Ciro die »13« in den vergangenen Jahren in ein kleines, buntes Graffiti-Kunstwerk. Die Casa Kolacho, die einst als kulturelles Zentrum gedacht war, ist längst ein fluktuierendes Sozialunternehmen mit eigenem Laden – und der »Comuna 13 Graffiti Tour«. Die Tour zieht die meisten Touristen ins Viertel. Abseits der sechsstündigen Route, die täglich auf fast immer den ­gleichen Wegen durch das Viertel führt, verirren sich nur wenige Touristen hierher. Zu schlecht ist nach wie vor der Ruf des Viertels, zu schnell können sich Ortsfremde im wirren Geflecht der wild gewachsenen Straßen verirren. Die »Comuna 13 Graffiti Tour« ist längst die beliebteste Attraktion Medel­líns. Mittlerweile besuchen mehr ­Touristen die Comuna 13 als das Grab von Drogenbaron Pablo Escobar. Das Grauen ist in Medellín längst Touristenattraktion.

»Die Comuna 13, die in den Neunzigern als ›No-go-Area‹ bekannt wurde, ist heute ein international anerkanntes Beispiel für eine basisdemokratische Transformation.« Jhon Ferley Ciro, Nachbarschaftsaktivist

Während Touristen bei der Escobar-Tour Stationen des Lebens des wohl ­bekanntesten Drogenbosses der Welt besuchen, ist es in der Comuna 13 die sogenannte Operación Orión, die Besucher anlockt – und der Umgang der ­Anwohner mit den Folgen einer der wohl brutalsten Militäraktionen der ­kolumbianischen Geschichte. In den neunziger Jahren war die Comuna 13 fest in der Hand von Guerillagruppen. Urbane Milizen der Guerillaorganisa­tionen Farc und ELN nutzten die verwinkelten Gassen der damals noch illegalen Siedlungsgebiete abwechselnd als Rückzugsorte. Die einen kamen, die anderen gingen, alle brachten Drogenkriminalität und Gewalt mit sich. Bis der damals frisch gewählte Präsident Álvaro Uribe Vélez ein Exempel statu­ieren wollte: Im Oktober 2002 ließ er die Comuna 13 mit gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern attackieren. Offiziell, um das Gebiet zurückzuerobern. Die Comuna 13 galt als letzte städtische Hochburg der linken Guerilla­gruppen in Kolumbien. Etwa 1 000 Soldaten und – wie sich später herausstellen sollte – fast ebenso viele Mitglieder illegaler paramilitärischer Vereinigungen übernahmen das Viertel und schossen auf alles, was sich bewegte.

Die Operación Orion gilt bis heute als die größte ­militärische Operation im städtischen Raum in der ­Geschichte Kolumbiens – und als die brutalste. Am 16. und 17. Oktober 2002 starben mindestens 70 Menschen, fast ausschließlich Zivilisten. Die genauen Zahlen stehen bis heute nicht fest. Während der Operation und in den Wochen danach verschwanden Hunderte weitere Menschen, fast alle gelten bis heute als verschollen. Vom Hügel der Comuna 13 aus schaut man auf die Müllkippe »La Escombrera«, ein riesiges illegales Massengrab. Etwa 100 Leichen werden hier vermutet, die Exhumierungen ­haben noch nicht begonnen. Fast jeden Tag laden Bagger hier Bauschutt ab.

Unzählige Aussagen von Augenzeugen sowie demobilisierten paramili­tärischen Kämpfern legen nahe, dass die Operación Orión eine gemeinsame ­Aktion von kolumbianischem Militär und paramilitärischen Gruppen war. Bereits kurz nach Abschluss der Operation übernahm die paramilitärische Gruppierung »Cacique Nutibara« die Kontrolle in der Comuna 13 – und ­bemühte sich, offenbar unterstützt von Polizei und Militär, die Reste der ­Guerillagruppen nach und nach auszulöschen.

 

Dem Terror entfliehen

»Die Operación Orión war so etwas wie der Wendepunkt in der Geschichte der Comuna 13«, sagt Ciro. »Vorher erlebten wir eine Phase der Gewalt im Machtkampf der verschiedenen Guerillas, danach paramilitärischen Terror mit ­Unterstützung des Staats.« Die Bevölkerung konnte dem Staat nicht mehr trauen und die Einwohner der Comuna 13 beschlossen daher, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. »Wir sind keine Opfer mehr«, sagt Ciro, »sondern Überlebende.«

In den Jahren nach der Operación Orión entstanden immer mehr Initiativen im Viertel, um dem Terror mit Kunst zu begegnen. Musik, Theater und Graffiti eroberten die Comuna 13. In Kolumbien wurden zu der Zeit auch einige paramilitärischen Gruppen ­demobilisiert. Das erfolgte im Rahmen des Friedensprozesses zwischen dem paramilitärischen Dachverband Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) und dem damaligen Präsidenten Uribe. Allerdings war dieser Prozess nicht nur positiv, denn viele ehemaligen Kämpfer schlossen sich kriminellen Banden an. Bis heute sind einige von ­ihnen auch in der Comuna 13 aktiv, auch wenn sie nicht mehr die Kontrolle von einst ausüben.

»Ein ›mural‹ bringt Kunst zu Menschen, denen der Zugang etwa zu Museen sonst verwehrt ist – allein schon, weil sie selten ihre Viertel verlassen.« Joan Mateo Ariza, Sprayer

»Wir arbeiten seit über 15 Jahren im Viertel«, sagt Ciro. Gemeinsam mit anderen Organisationen veranstaltet das Kollektiv HipHop-Projekte, vor ­allem zu Rap und Graffiti, mit den Jugendlichen aus dem Viertel. 2014 entstand die Casa Kolacho, benannt nach dem Spitznamen des 2009 in der ­Comuna 13 ermordeten Sängers und Gemeindeführers Héctor Pacheco. »Wir wollten den Prozess, den Kolacho angestoßen hat, fortführen und brauchten dafür einen festen Ort«, sagt Ciro. Die Workshops und Kunstpro­jekte im Viertel finanzieren sich durch den Graffiti-Laden und seit einigen Jahren hauptsächlich durch die Einnahmen der Graffiti-Tour. Auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen sind im Viertel aktiv.

 

HipHop leben

»Wir machen keinen HipHop, wir sind HipHop«, sagt Jeison Castaño, alias Jeihhco, der die Casa Kolacho einst gründete. Er meint damit HipHop als soziale Bewegung, eine Art, zu leben und zu denken. Kunst ist hier nicht nur das Ziel, sondern auch das Mittel für eine so­ziale Umwälzung – die genauso selbst­gemacht und improvisiert ist wie die Häuser in der Comuna 13. Für Rap braucht man nicht viel mehr als die Stimme, für Graffiti nicht viel mehr als ein bisschen Farbe und eine Wand.

Auch die Graffiti-Tour soll nicht nur die unzähligen Bilder, die viele Häuserwände im Viertel zieren, zeigen. »Für uns stehen die Menschen in der 13 im Vordergrund, ihre Träume, ihr Widerstand, aber auch ihre Liebe zur Kunst«, sagt Ciro. »Die Comuna 13, die in den Neunzigern als ›No-go-Area‹ bekannt wurde, ist heute ein international anerkanntes Beispiel für eine basisdemokratische Transformation: Weil die Menschen es durch ihre eigene Kraft, weitestgehend ohne staatliche Unterstützung, geschafft haben, das Viertel voranzubringen.« Damit wird es auch zum Laboratorium für den Friedensprozess in ­Kolumbien. Das Viertel führt seinen Besuchern ein farbenfrohes, kreatives und aktivistisches Kolumbien vor Augen, ein Land, das bis vor wenigen Jahren nicht Modell für basisdemokratische Stadtentwicklung, sondern für einen gescheiterten Staat war.

»Wenn die Menschen früher ihre Fenster öffneten, blickten sie auf Drohungen und Bandenmarkierungen«, sagt Ciro. »Heute öffnen sie die Fenster und schauen auf Blumen und Farben.« Dabei seien viele Bewohner des Viertels zunächst skeptisch gewesen: Hip­Hop, Rap und Graffiti waren auch in Kolumbien lange stigmatisiert, ­galten als Ausdrucksformen krimineller Vandalen. »Daher hatten viele ­Menschen zunächst vor allem Angst, als die ersten Wandbilder im Viertel auftauchten«, sagt Ciro. »Sie dachten, das wären die Zeichen einer neuen ­bewaffneten Gruppe.« Doch nach und nach füllten die Bilder das Viertel mit Leben, gaben ihm ein neues Gesicht. »Da begann dann eine soziale Ver­änderung: Die Leute sehen positive Dinge in den Straßen, sogar in Ecken, die sie bislang gemieden haben«, sagt Ciro.

»Kunst ist eine Art menschliches Grundbedürfnis«, meint Joan Mateo Ariza, alias Jomag. »Gerade angesichts der Gewalt wird die Kunst zu einer Art Gegengewicht, aber auch zu einer Alternative«, sagt der Sprayer, der selbst häufig Graffiti-Seminare im Viertel gibt. »Ein mural bringt Kunst zu Menschen, denen der Zugang etwa zu Museen sonst verwehrt ist – allein schon, weil sie selten ihre Viertel verlassen.« Außerdem könne ein mural alles thematisieren, alles fragen: »Die Wandbilder konfrontieren die Menschen mit anderen ­Realitäten und bringen sie im Idealfall zum Nachdenken, zum Umdenken.« So werden die murales auch zu einer Art inoffiziellem Nachrichtenkanal, die Wände fangen an zu sprechen. »Es eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten, auf Missstände öffentlich hinzuweisen – und für die eigenen Rechte zu kämpfen«, so Ariza. Wo zuvor die Mitglieder der Gangs das höchste Ansehen hatten, auf Anerkennung durch Angst setzten, bieten die Workshops nun die Möglichkeit, Anerkennung durch künstlerisches Können zu finden.

»Es ist ein Unterschied, ob die Kinder die Tür öffnen und auf Krieg schauen oder auf Kunst«, sagt Ciro. Das Leben im Viertel verändere sich – nicht zuletzt durch den Kontakt mit den Touristen. Dass die Menschen nun hoch in die ­Comuna 13 kämen und selbst der Regen sie nicht abschrecke, mache einen als Bewohner stolz, bekräftigt die Anwohnerin Ana Lucia.

»Die Bewohner der Comuna 13 haben ein sehr starkes Zugehörigkeitsgefühl zu ihrem Viertel«, sagt Ciro. »Weil sie mit es mit ihren eigenen Händen, ihrem eigenen Schweiß zu dem gemacht haben, was es heute ist. Graffiti sind wie das i-Tüpfelchen, sie geben der 13 Freude und Farben.« Medellín sei ­immer noch keine Stadt in Frieden, sagt Castaño, aber eine, in der jeden Tag ein bisschen deutlicher werde, wie viel jeder einzelne ändern könne – und wie viel Potential in der friedvollen Umwälzung durch Kunst stecke.