Lelya Troncoso Pérez, Sozialpsychologin, über die feministischen Proteste in Chile

»Das ist ohne Zweifel historisch«

Interview Von Nicole Tomasek

Lelya Troncoso Pérez ist Sozialpsychologin und Dozentin für Soziale Arbeit an der Universidad de Chile. Sie ist Koordinatiorin des Netzwerks für kritische Diversitätsstudien und aktiv an den derzeitigen feministischen Protesten in Chile beteiligt.

Am 16. Mai gab es in der Hauptstadt Santiago de Chile eine feministische Demonstration mit über 170 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Vergangene Woche demonstrierten dort über 15 000 Menschen. Auch in anderen Städten Chiles gab es große Proteste. Was ging diesen voraus?
Der Mai 2018 wurde in Chile »feministischer Mai« genannt, wegen der Stärke, die die feministische Bewegung im Land gewonnen hat. Die Demons­tration am 16. Mai war nicht die erste  und nicht die einzige feministische Demonstration, aber sie stach wegen ihrer einzigartigen Größe heraus und hat die feministische Bewegung mit Macht in die Medien und ins öffentliche Bewusstsein ­gebracht.

Die Proteste werden vor allem von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe sowie von Studierenden organisiert, um sexuelle Belästigung und Missbrauch in den Bildungseinrichtungen anzuprangern. Die Universidad Austral im Süden Chiles war die erste, die Mitte April im Rahmen eines feministischen Protests besetzt wurde. ­Später kamen Universitäten in Santiago hinzu und die Besetzungen und Streiks verbreiteten sich schnell an anderen Universitäten.

Im Fall der Universidad de Chile war es zuerst die Jurafakultät, wegen des Unmuts darüber, wie dort die Ermittlungen und die Lösung eines Falls ­abliefen, bei dem eine Studentin von einem prestigeträchtigen Professor ­sexuell belästigt worden war. Solche Fälle sorgen seit Jahren für Proteste. Aber erst dieses Jahr hat sich daraus eine Bewegung entwickelt, die ola ­feminista (feministische Welle), die landesweit eine größere Wirkung ­entfaltet.

Interessant ist, dass diese Proteste stattfinden, nachdem die Debatte über die Liberalisierung des Abtreibungsrechts vergangenes Jahr sehr an Fahrt aufgenommen hat. Andere wichtige Entwicklungen waren Fälle von Femizid, die große öffentliche Aufmerksamkeit erhielten, die Diskussion über Belästigung auf der Straße und große Demonstrationen im vergangenen Jahr unter dem Motto #niunamenos (Nicht eine weniger). Auch die #metoo-Kampagne beeinflusste Chile, ebenso wie die Fälle von sexuellem Missbrauch in der ­katholischen Kirche, die medial sehr präsent waren, so dass am Papst­besuch viel weniger Menschen teilnahmen als erwartet.

Weiterhin sind Dutzende Universitäten in Chile besetzt. Warum hat man sich für diese Form des Protests entschieden?
Die Besetzungen sollen Druck ausüben und die feministischen Forderungen deutlich sichtbar machen. In diesem Kontext bekommen die Besetzungen einen anderen Sinn als bei sonstigen studentischen Mobilisierungen, wo es darum geht, intern Druck aufzubauen auf die Fakultät oder die Abteilung, die besetzt wurde. Bei den jetzigen Mobilisierungen gibt es Forderungen, die sich an die Universitäten und Fakultäten richten, aber auch landesweite Forderungen – die wiederum mit globalen verknüpft sind –, da sich die Probleme nicht allein auf lokaler Ebene lösen ­lassen.

Was sind die zentralen Forderungen der Besetzerinnen?
Die Hauptforderung ist die nach einer »nicht sexistischen Bildung«, danach, alle Formen, von eher expliziten bis zu subtilen, zu beseitigen, in denen sich Sexismus, Machismo, Homo- und Transphobie in der Bildung reproduzieren. Die Parole für eine »nicht sexistische Bildung« kam in Chile zum ersten Mal im Jahr 2011 im Kontext der Schülerproteste für eine kostenlose und hochwertige Bildung auf. Sie speist sich aus einer tiefgreifenden Kritik an der warenförmigen, kapitalistischen und neo­liberalen Gesellschaft.

Nach Meinung eines großen Teils feministischer Strömungen stützt das Patriarchat sich auf miteinander verbundene Formen der Unterdrückung, daher wenden sie sich gegen jede Form sozialer Ungleichheit sowie gegen die verschiedenen Institutionen, ­Diskurse und Praktiken, die diese aufrechterhalten: die traditionelle Familie, die Kirche, den Staat und die Bildung als privilegierten Raum der Produktion und Reproduktion von Herrschaftslogik.

Ein zentraler Fokus war der schlechte Umgang der Universitäten mit Fällen sexueller Belästigung durch Professoren und Studierende. Aber mit der Forderung nach einer nicht sexistischen oder feministischen Bildung wurde dieser Fokus komplexer und breiter. Kritisiert werden der Mangel an Genderperspektiven und feministischen Studien an den Universitäten und der androzentrische Bias in den Fächern im Allgemeinen, so dass oft sexistische ­Inhalte verbreitet werden. Eine nicht sexistische Bildung versucht auch zu hinterfragen, wie Genderstereotype an den Universitäten entstehen, etwa dass Frauen in als »weiblich« konnotierten Fächern, wie Krankenpflege, ­sozialer Arbeit, Erziehung, weiterhin die Mehrheit bilden und Männer in ­Ingenieurswissenschaften, Jura etc.; und dass »männliche« Fächer mehr wert­geschätzt und besser entlohnt werden.

Dozentinnen und weibliche Angestellte der Universitäten beteiligen sich auch mit ihren Forderungen. Sie prangern schlechte Behandlung durch die Universitäten an, machistische Machtverhältnisse, Lohnungleichheit, Karriereeinbußen durch Mutterschaft, den Mangel an gleichwertiger Verantwortung bei der Kindererziehung und vieles mehr.

Wie hat die konservative Regierung unter Sebastián Piñera auf die Proteste reagiert?
Die amtierende rechte Regierung hat mit einer sehr konservativen Frauen­agenda geantwortet, in der Frauen nur als Mütter oder Festangestellte anerkannt werden. (In der Frauenagenda schlägt Piñera unter anderem einen Rentenbonus für Frauen vor. Davon würden vor allem Frauen mit einem festen Arbeitsvertrag profitieren, während die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts weitergeht und arme und prekär arbeitende Frauen weniger Rente ­bekommen, Anm. d. Red.)

Die Agenda legt zwar einen Fokus auf die Beseitigung von Gewalt, aber ohne auf weitergehende Forderungen, wie die nach einer nicht sexistischen Bildung, einzugehen. Die Rechte will die feministische Agenda nicht der Linken überlassen. Und obwohl die Rechte weiterhin feministische Forderungen zurückweist und nicht versteht, was ­Feminismus bedeutet, hat sich eine (im rechten Sinne) »politisch korrekte« Idee von Geschlechtergleichheit dadurch etabliert, dass sich viele rechte Frauen nun selbst als Feministinnen bezeichnen. Das stieß auf große Ablehnung bei jenen Feministinnen, für die Feminismus nicht rechts sein kann, da er notwendigerweise antikapitalistisch und antineoliberal ist.

Die Feministin Daniela López von der Autonomen Linken schrieb, die ­Tatsache, dass die Forderung nach einer nicht sexistischen Bildung von Piñera nicht aufgegriffen wurde, sei kein Zufall. 2011 machten ihm die Bildungsproteste in seiner ersten Amtszeit schwer zu schaffen und sorgten schließlich mit für seine Abwahl. Sich um eine nicht ­sexistische Bildung zu kümmern, würde bedeuten, die Bildungs­reform anzugehen, was erneut zu einer Niederlage der Regierung führen könnte, so López.

 

Was haben die feministischen Proteste bislang erreicht?
Die Mobilisierungen gehen weiter. In einigen Fakultäten gibt es runde Tische der Studierenden, des Lehrpersonals und der Universitätsangestellten, die gemeinsam Vorschläge für lokale Forderungen erarbeiten. Ich mache beim Tisch der sozialwissenschaftlichen ­Fakultät der Universidad de Chile in meiner Eigenschaft als Dozentin mit.

Außerdem wurde erreicht, die Diskussion in die Öffentlichkeit zu bringen: viele Menschen an vielen Orten diskutieren nun über Feminismus. Die ­Besetzungen sind wichtige Orte für die feministische Selbstbildung; Dozen­tinnen und verschiedenste Gruppen bieten dort Workshops und Seminare über feministische Themen an.

Beteiligen sich auch andere Bereiche der Gesellschaft an den Protesten? Wie sieht es mit der Solidarität anderer sozialer und politischer Gruppen aus?
Es haben sich verschiedene feministische Organisationen angeschlossen, so die Koordination der Proteste für den Frauentag und ältere Feministinnen, die in den achtziger Jahren gegen die Dik­tatur gekämpft haben, sowie linke politische Parteien und das neue links­liberale Bündnis Frente Amplio und sonstige Personen, die die Forderungen unterstützen.
Es geschieht gerade sehr viel und noch ist es schwierig, alle Entwicklungen auf den verschiedenen Ebenen und die ganzen Verbindungen zu erfassen, die zwischen Organisationen entstehen. Die Mehrheit bei den Protesten bilden aber noch die Studierenden und Schülerinnen und Schüler.

Es heißt, dies seien die größten feministischen Proteste der vergangenen 40 Jahre. Was unterscheidet sie von den vorherigen Protesten?
Die Proteste unter dem Motto »Nicht eine weniger« gegen Gewalt gegen Frauen waren auch sehr groß nach dem Fall von Nabila Riffo. (Riffo wurde 2016 von ihrem ehemaligen Partner brutal zusammengeschlagen, er riss ihr die Augen aus und sie überlebte nur knapp, Anm. d. Red.) Aber der explizit feministische Charakter der diesjährigen Proteste ist ohne Zweifel besonders. Viele der Menschen, die gegen Gewalt gegen Frauen demonstriert hatten, ­verstanden sich nicht notwendig als feministisch. Heute ist dies mehr und mehr der Fall, auch wenn der Begriff Feminismus, wie vorhin erwähnt, von manchen Rechten angeeignet wird – entpolitisiert und seines antisexistischen, antipatriarchalen und antikapitalistischen Gehalts beraubt.

Viele Besetzungen geschahen exklusiv durch Frauen, das ist ohne Zweifel historisch, da traditionell eher linke Besetzungen sowie deren Proteste meist von Männern angeführt wurden. Jetzt werden die Männer aufgerufen, Verbündete des feministischen Kampfs zu sein, nicht die Hauptprotagonisten dieser Bewegung.

Gibt es Forderungen anderer sozialer Kämpfe, die mit den feministischen Forderungen verbunden werden? Gibt es das Potential für eine größere soziale Protestbewegung in Chile?
Darüber gibt es einen Disput. Für viele Feministinnen, die wie ich eine eher intersektionale Perspektive auf die Bewegung haben, ist es wichtig, uns von liberaleren Strömungen des Feminismus zu unterscheiden, die die kapitalistische, koloniale und heteronormative Logik nicht problematisieren. Daher war ein Anliegen der Besetzungen der Frauen, diese Debatten aus den universitären Räumen zu holen, die letztlich privilegierte Räume sind.

Einige Frauen demonstrierten mit freiem Oberkörper, was die Medien ausschlachteten. Wie wurde das ­unter Feministinnen und in der Öffentlichkeit diskutiert?
Es ist sehr lästig, dass sich die Debatte so auf die nackten Brüste zentriert hat. Vielleicht fünf Prozent der Demons­trierenden zeigten ihre Brüste, aber in den Medien war das alles, was man sah. Das ließ den chilenischen Konservatismus nur noch deutlicher hervortreten und der Fokus auf die Nacktheit lenkte die Aufmerksamkeit vom ­­eigentlichen Problem ab. Es kamen auch viele Männer an, die meinten, den Frauen Lektionen darüber zu erteilen, welche »angemesseneren Formen« des Protests es gäbe. Sieht man sich das Niveau der Debatte und die Kritik an, kann man erkennen, dass es immer noch viele Personen gibt, die keine Ahnung haben, was Feminismus ist und was antisexistischer Kampf.

Was ist für die kommenden Tage und Woche geplant?
Weiterhin werden Proteste für eine nicht sexistische Bildung geplant, auf regionaler und nationaler Ebene gibt es Frauenversammlungen. Parallel dazu gibt es sehr viele Treffen im ganzen Land und Planungen, wie es mit der Bewegung und der Arbeit zum Erreichen der Forderungen weitergehen soll, wenn der Unterricht wieder aufgenommen wird, da die Abschaffung sexistischer Bildung sicher ein langfristiges Bemühen ist.