Vor den US-Kongresswahlen streiten die Demokraten über Programm und Strategie

Streit über die Linkswende

Konfrontation oder Mäßigung? Bei den Nominierungen für die US-Kongress­wahlen im Herbst wird deutlich, dass die Demokraten über das politische Programm und die Strategie gegen die Regierung Donald Trumps uneins sind.

Der unerwartete Sieg von Alexandria Ocasio-Cortez bei den Vorwahlen am 26. Juni im 14. Wahldistrikt von New York war ein Schock für das Establishment der Demokratischen Partei. Die 28jährige linke Newcomerin, eine ehemalige Kellnerin, stach mit einer überraschend klaren Mehrheit von 57 Prozent der Stimmen den 56jährigen Joseph Crowley aus, der seit 1999 Abgeordneter des Repräsentantenhauses ist. Wer jedoch Ocasio-Cortez’ gelungene Fernsehwerbespots gesehen hat, sollte von ihrem Sieg nicht allzu überrascht sein. Ihre Wahlkampagne, geführt mit Twitter, Facebook und Instagram, traf den Nerv der Zeit – und die ist für die meisten US-Amerikaner hart. Einem Bericht der University of California aus dem Jahr 2017 zufolge ist das Durchschnittseinkommen der US-Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen vier Jahrzehnten um bis zu acht Prozent gesunken, während gleichzeitig Mieten und Immobilienpreise gestiegen sind. Die kalifornische Datenanalyse-Firma Attom gab an, dass im ­ersten Quartal 2018 die durchschnittlichen Hauspreise in 68 Prozent aller Städte und Gemeinden der USA für Normalverdiener nicht mehr bezahlbar gewesen seien. Im Bundesstaat New York ist die Zahl der Obdachlosen seit 1983 um 89 Prozent angestiegen – nunmehr sind fast 100 000 Menschen obdachlos, wie die US-Behörde Interagency Council on Homelessness (USICH) bekanntgab.

Ocasio-Cortez ist Mitglied der Democratic Socialists of America, einer linkssozialdemokratischen Vereinigung, und ihre klaren Botschaften kam im Wahlkampf gut an: Universitäten sollten kostenlos werden, die staatliche Krankenversicherung für Senioren, Kinder und Arme soll erweitert werden – »Medicare for All«, schon Bernie Sanders war seinerzeit mit diesem Slogan erfolgreich. »Ich finde, dass in einer modernen, moralischen und wohlhabenden Gesellschaft wie Amerika niemand zu arm zum Leben sein sollte«, sagte Ocasio-Cortez in einem Fernsehinterview mit dem Late-Night-Talkmaster Stephen Colbert. »Es muss möglich sein, in den Vereinigten Staaten ein menschenwürdiges Leben zu führen.«

Das klingt überzeugend, doch im Wahlprogramm wird mit keinem Wort erklärt, wie beispielsweise »Medicare for All« oder das kostenfreie Studium bezahlt werden sollen und die dafür notwendige umfassende Umverteilung im Kongress durchgesetzt werden könnte – der schon wesentlich weniger ambitionierte Vorhaben Präsident ­Barack Obamas blockierte. Auch Bernie Sanders hatte 2016 keinerlei Angaben zur Finanzierung und Durchsetzbarkeit seiner großzügigen Wahlkampfversprechen gemacht – sehr zum Leidwesen von Hillary Clinton, die sich stets bemüht hatte, diese Fragen in ihrem Parteiprogramm zu berücksichtigen.

Bald könnten den US-amerika­nischen Gewerkschaften Millionen­beträge fehlen – Geld, das für den Widerstand gegen den Abbau des Sozialstaats dringend gebraucht wird.

Der Konflikt zwischen dem linken und dem realpolitischen Flügel der Demokratischen Partei spitzte sich seit 2016 weiter zu. So sagte Nancy Pelosi, die Sprecherin der Demokraten im ­Repräsentantenhaus, dass es ein Fehler sei, zu viel in Ocasio-Cortez’ Wahlsieg hineinzuinterpretieren. »Es war eine Wahl in nur einem Wahlbezirk«, so Pelosi bei einer Pressekonferenz vorige Woche. »Wir haben viele Meinungen in unserer Fraktion, und darauf sind wir stolz.« Doch genau das ist das Problem – die Demokraten sind nicht in der Lage, eine klare Linie zu finden und gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten. Der linke Flügel dringt verstärkt auf eine härtere Konfron­tation mit der Regierung Donald Trumps. So besteht Ocasio-Cortez beispiels­weise darauf, die Einwanderungsbehörde ICE (Immigrations and Customs Enforcement) abzuschaffen – diese sorgte in den vergangenen Wochen für Entrüstung, weil sie die Kinder von Einwanderern und Asylbewerbern von ihren Familien getrennt in Lagern festhält. Auch die Auftritte linker Aktivisten, die Mitglieder der Regierung in Restaurants und an öffentlichen Plätzen lautstark anprangern, bereiten gemäßigten Demokraten Kopfschmerzen. Angehörige des linken Flügels wie die Kongressabgeordnete Maxine Waters aus Los Angeles rufen zu zivilem Ungehorsam auf, doch das Establishment, das auch von Trump enttäuschte gemäßigte ­Republikaner gewinnen will, wünscht sich ein dezenteres Auftreten. Denn die Fernsehaufnahmen wutschäumender Aktivisten dienen rechten Medien wie Fox News dazu, die Stammwähler Trumps in der Vorstellung zu bestätigen, sie seien einem Generalangriff linker Rowdys ausgesetzt.
So herrscht nur fünf Monate vor den midterms, den Kongresswahlen in der Mitte der Amtszeit des Präsidenten, in der

Demokratischen Partei Zerstrittenheit. Und nun bahnt sich auch noch ein Kampf um die Vorherrschaft im Obersten Bundesgericht, dem Supreme Court, an. Die Ankündigung des noch von Präsident Ronald Reagan ernannten Bundesrichters Anthony Kennedy, er wolle sich noch diesen Sommer zur Ruhe setzen, gibt Trump und den Republikanern die Möglichkeit, seinen Sitz nach ihren Vorstellungen neu zu besetzen. Dies könnte die konser­vative Mehrheit im Supreme Court auf Jahrzehnte festigen – selbst das Recht auf Abtreibung könnte widerrufen werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass eine der letzten Entscheidungen des Gerichts unter Beteiligung Kennedys den Einfluss der Gewerkschaften in den USA erheblich schwächen dürfte; dies trifft eine wichtige Stütze der ­Demokratischen Partei. Bislang waren nämlich in manchen Bundesstaaten, beispielsweise Illinois, Gewerkschaftsbeiträge für alle Arbeitnehmer verbindlich, auch wenn sie nicht einer Gewerkschaft angehörten. Das wurde jetzt vom Supreme Court als verfassungswidrig eingestuft – niemand soll gezwungen werden, Beiträge an eine Organisation zu zahlen, der er nicht angehört. An sich klingt das vernünftig, aber es lässt außer Acht, dass auch Nichtmitglieder von den Tarifvereinbarungen der Gewerkschaften profitierten, zumindest indirekt.

Selbst in einer Studie des Internationalen Währungsfonds aus dem Jahre 2015 werden Gewerkschaften direkt mit einem höheren gesellschaftlichen Lebensstandard in Zusammenhang ­gebracht. Bald jedoch könnten den US-amerikanischen Gewerkschaften Millionenbeträge fehlen – Geld, das für den Widerstand gegen den weiteren Abbau des Sozialstaats dringend gebraucht wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die von Ocasio-Cortez zu Recht angeprangerten Missstände in den USA in der Ära Trump weiter verschärfen werden. In ihrem gegenwärtigen Zustand ist die Demokratische Partei nicht in der Lage, das zu verhindern.