Die Massenproteste in Vietnam sind nationalistisch geprägt

Demonstranten mit China-Syndrom

Vietnam erlebt die größten Massenproteste seiner jüngeren Geschichte. Die Motive sind nicht zuletzt nationalistisch.

Auf offene Herausforderungen reagiert das Einparteienregime Vietnams repressiv, und bislang konnte es die Kontrolle wahren. Doch die Massenproteste im Juni kamen für die regierende Kommunistische Partei offenbar über­raschend, sie könnten die größten gewesen sein, die das Land erlebt hat. Zehntausende Menschen sind in mehreren Städten über Wochen auf die Straße gegangen, um gegen den in der Nationalversammlung eingereichten Gesetzentwurf über Sonderwirtschaftszonen und gegen das kürzlich verabschiedete Gesetz zur Kontrolle des Internets zu protestieren.

Die Proteste begannen am zweiten Juniwochenende mit Streiks und De­monstrationen von rund 50 000 Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Schuhfabrik Pou Yuen und anderen Betrieben im Industriegebiet Tan Tao in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem größten Wirtschafts­zentrum des südostasiatischen Landes. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, Demonstranten wurden geschlagen und eine unbekannte Zahl festgenommen.

Ein Demonstrant, Mitglied der Vietnamesischen Einheitlichen Buddhistischen Kirche, sagte im Gespräch mit Radio Free Asia (RFA): »Wir protestierten friedlich. Aber die Polizei packte mich und schob mich in einen Bus. Fünf oder sechs Polizisten schlugen mich die ganze Zeit. Einige meiner Zähne waren gebrochen.« Auch aus der Hauptstadt Hanoi wurde von Zusammenstößen und Dutzenden Festnahmen berichtet. Dort richtete sich der Protest vor allem gegen ein neues Gesetz zur »Netzsicherheit«, das die Überwachung im Internet erheblich verschärfen soll. Dieses Gesetz hat die Nationalversammlung jüngst verabschiedet.

Ausländischen Investoren soll das Recht eingeräumt werden, Land für maximal 99 Jahre zu pachten.

Das Hauptaugenmerk der Protestierenden liegt jedoch auf einem Gesetzentwurf, der unter anderem vorsieht, ausländischen Investoren das Recht einzuräumen, vietnamesisches Land für maximal 99 Jahre zu pachten. Zudem sollen in der Provinz Khanh Hoa, in Quang Ninh im Nordosten des Landes sowie auf der Insel Phu Quoc Sonderwirtschaftszonen entstehen.

Zwar wird die Volksrepublik China in dem Entwurf mit keinem Wort erwähnt, doch geht die Sorge um, dass vor allem der große Nachbar im Norden von dem neuen Gesetz profitieren wird und chinesische Investoren die Souveränität Vietnams bedrohen könnten. Die Spannungen zwischen Vietnam und China haben in den vergangenen Jahren nach Konflikten um Fischereirechte und Gebietsstreitigkeiten im Südchinesischen Meer zugenommen. In der vietnamesischen Bevölkerung verbreiten sich Nationalismus und antichinesisches Ressentiment.

In der Stadt Nha Trang gingen am 10. Juni Tausende auf die Straße, um gegen die Pläne der Regierung zu protestieren. »Ich liebe mein Land und ich habe keine reaktionären Motive«, sagte der Demonstrant Bao Vinh dem Sender RFA. »Ich erhebe meine Stimme für Vietnam. Wenn wir unser Land verlieren, werden wir nicht in der Lage sein, in Frieden zu leben.«

Angesicht des unerwartet starken öffentlichen Protests entschied die ­Regierung, die Verabschiedung des Gesetzes zu verschieben. Nguyen Thi Kim Ngan, die Vorsitzende der Nationalversammlung, bestätigte, dass das Politbüro zwar die Sonderwirtschaftszonen genehmigt habe, die Nationalversammlung das Gesetz aber noch diskutieren müsse. In einer Erklärung forderte sie die Protestierenden auf, ruhig zu bleiben und den Entscheidungen der Kommunistischen Partei zu vertrauen.

Die öffentliche Meinung konnte durch solche Aussagen allerdings nicht beruhigt werden und die Proteste gehen weiter – in einem autoritären Einparteienstaat wie Vietnam ist das bemerkenswert. »Es hat ein ›arabischer Frühling‹ in Vietnam begonnen«, so der Journalist Pham Chi Dung. Es könnte jedoch auch ein nationalistischer Sommer werden.