Die erste Welle der Proteste gegen die Politik des französischen Präsidenten ­Emmanuel Macron ist abgeebbt

Wasserwerfer nach dem Sieg

Die erste Protestwelle gegen die wirtschaftsliberalen Reformen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist abgeebbt. Populär ist er allerdings nicht mehr.

Zu Hunderttausenden gingen die Menschen auf die Straße. Viele Junge waren dabei, auch der Migrantenanteil schien beträchtlich. Anweisungen der Polizei wurden des Öfteren ignoriert. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen insgesamt 292 Menschen festgenommen wurden. In den Pariser Vorstädten, den Banlieues, war der Verkehr auf den Bus- sowie Straßenbahnlinien am Spätnachmittag eingestellt worden.

Nein, die Rede ist nicht von den Sozialprotesten in Frankreich, sondern von den Siegesfeiern am Sonntagabend. Die französische Nationalmannschaft war, zum zweiten Mal nach 1998, Fußballweltmeister geworden. Auf den Straßen feierte daraufhin eine bunt gemischte Menge mehr oder minder ausgelassen. Neben zahlreichen blau-weiß-roten Fahnen waren am frühen Abend auf den Champs-Elysées auch algerische, brasilianische und andere Fahnen zu sehen.

Die französische Bevölkerung – welcher Abstammung auch immer – gilt weiterhin als relativ protestfreudig. Die Beteiligung an den Demonstrationen und Aktionen im Frühjahr und Frühsommer wurde diesem Ruf allerdings nicht gerecht. Die seit dem 3. April in einem vorab festgelegten Rhythmus – an zwei Tagen im je fünftägigen Zyklus – streikenden Eisenbahner konnten sich, anders als bei vielen früheren Arbeitskämpfen, nicht durchsetzen. Am 27. Juni unterzeichnete Präsident Emmanuel Macron das Gesetz zur Bahnreform. Es beinhaltet die Einführung privatrechtlicher Arbeitsverträge bei der Eisenbahngesellschaft und läuft de facto, auch wenn die Regierung es hartnäckig leugnet, auf eine Privatisierung hinaus.

Einschlägige Dokumente aus Regierungs- und Bahnvorstandskreisen, die im Mai von der Boulevardzeitung Le Parisien publiziert wurden, belegen dies.

Auch der studentische Protest blieb erfolglos, er konnte die Einführung eines neuen Auswahlverfahrens, des sogenannten Parcoursup, nicht verhindern. Es ersetzt die Zulassung nach dem Abitur (Admission Post-Bac) und soll neben den erzielten Noten unter anderem auch Bewertungen »von Schuldirektor und Klassenlehrer« im Rahmen einer als undurchsichtig kri­tisierten Prozedur berücksichtigen.

Emmanuel Macron kann sich darauf berufen, der Bevölkerung nie etwas vorgemacht zu haben. Im Wahl­kampf 2017 hat er das meiste von dem, was er nun durchsetzt, so oder ähnlich angekündigt.

Nach anfänglichen Demonstrationen im Mai mit hoher Teilnehmerzahl lief sich der Protest in den darauffolgenden Wochen tot. Zu einer letzten Demonstration am 28. Juni, zu der die Gewerkschaftszusammenschlüsse CGT, FO und Solidaires – erstmals seit zwei Jahren – wieder gemeinsam aufriefen, kam in Paris nur noch eine dreistellige Zahl von Teilnehmern.
Das klingt erstaunlich, denn die Kombination aus Arbeitskämpfen insbesondere bei der Eisenbahn und Studierendenprotesten galt noch in jüngerer Vergangenheit als explosiv und wurde von den Regierungen gefürchtet. Eine ähnliche Kombination verhinderte etwa im Herbst 1986 unter dem damaligen Premierminister Jacques Chirac den Versuch, den Universitätszugang einzuschränken. Mil­lionen gingen damals aus unterschiedlichen Motiven, aber im Rahmen einer gemeinsamen Protestbewegung auf die Straße.

 

Ähnliches ereignete sich im Herbst 1995. Damals präsentierte Premierminister Alain Juppé unter anderem der derzeitigen Bahnreform ähnelnde Pläne für die französische Eisenbahn. Es sollten 11 000 Strecken­kilometer Bahn­linie stillgelegt werden, da sie nicht lukrativ waren. Macrons Reform sieht die Silllegung von 9 000 Kilometern Bahnstrecke vor; einige Strecken werden wegen kleinerer Einsparungsmaßnahmen in den nuller Jahren bereits nicht mehr betrieben.

1995 musste die Bahnreform nach einem dreiwöchigen Streik nicht allein der Bahnbeschäftigten, sondern aller Branchen des öffentlichen Dienstes (Post, Energiesektor, Nahverkehr) sowie der Studierenden zurückgenommen werden. Auch andere wirtschaftsliberale Reformen gelangen der Regierung Juppé in den folgenden anderthalb Jahren Amtszeit nicht mehr. Jeder Ankündigung folgte Protest, und binnen kürzester Zeit waren die Pläne vom Tisch.

Damals schien die französische Gesellschaft widerstandsbereit. Obwohl die nachfolgenden Regierungen einige wirtschaftsliberale Reformen durchsetzten, blieb Frankreich hinter den Erwartungen an eine »marktkonforme Demokratie« zurück. Denn manche tiefgreifenden Umwälzungen im Sinne des Kapitals konnten nur in kleinen Schritten angegangen werden.

Nun scheint Präsident Emmanuel Macron zu schaffen, was seinen Vorgängern misslang. Anders als etwa der mit vielen Vorhaben gescheiterte Präsident Jaques Chirac hat Macron nicht das Problem, sich für den Bruch von Wahlversprechen rechtfertigen zu müssen. Chirac war nach 14 Jahren sozialdemokratischer Präsidentschaft François Mitterrands, die den etablierten Parti Socialiste diskreditiert hatte, als Kandidat des Wandels angetreten – jedoch mit einem de facto weitgehend sozialdemokratischen Wahlkampf.

Damit wollte sich Chirac von einem Konkurrenzkandidaten aus dem konservativ-liberalen Lager, dem damaligen Premierminister Edouard Balladur, abgrenzen. Nach der Wahl brach Chirac seine Versprechen und betrieb eine wirtschaftsliberale Politik. Emmanuel Macron hingegen kann sich darauf berufen, den Französinnen und Franzosen nie etwas vorgemacht zu haben. Im Wahlkampf 2017 hat er das meiste von dem, was er nun durchsetzt, auch so oder ähnlich angekündigt – allerdings mit Ausnahme der Bahnreform.

Das bedeutet nicht unbedingt, dass Macron auch in Zukunft »durchregieren« kann. Als Nächstes sind umfassende Sparmaßnahmen bei der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenkasse geplant. Macron plant unter anderem, im Zuge einer Verfassungsreform – die insbesondere das Parlament um ein Drittel verkleinern und die Oppositionsrechte einschränken soll – das Sozialversicherungssystems »Sécurité sociale« aus dem Verfassungstext zu streichen.

Das würde den Sozial­­kassen ihre bisherige fast unangreifbare rechtliche Stellung nehmen. Seit einigen Wochen kursieren Pläne, die Renten für Witwen und Witwer abzuschaffen, die vor allem für die ältere Arbeitergeneration oft die einzige Einkommensquelle darstellen. Macron dementierte dies vorige Woche in seiner Rede vor den beiden zum Kongress im Versailler Schloss versammelten Parlamentskammern; den bisherigen Bezieherinnen und Bezieher seien die Pensionen garantiert. Was allerdings auch bedeuten kann, wie der linksnationalistische Oppositionspolitiker Jean-Luc Mélenchon argwöhnt, dass sie für all diejenigen, die in Zukunft in Rente gehen, gestrichen werden.

Der Kampf um die Sozialkassen, die in ihrer heutigen Form eine Errungenschaft der Résistance im Zweiten Weltkrieg und ihres »Programms des Nationalen Widerstandsrats« darstellen, könnte mit großer Erbitterung geführt werden, falls die Regierung den Eindruck erweckt, hier historisch Erreichtes zu attackieren. Derzeit hält sie sich noch bedeckt und verweist auf ein- bis anderthalbjährige »Vorbereitungsgespräche mit den Sozialpartnern«, die noch zu führen seien.

Im »Sozialstaat des 21. Jahrhunderts«, wie ihn Macron in Versailles präsentiert, avanciert die propagierte Herstellung von Chancengleichheit zum wichtigsten Mittel der Armutsbekämpfung. Dafür sind vor allem Investitionen in die Bildung vorgesehen. Doch die Kritik an den einseitig wirtschafts­liberalen Maßnahmen wächst, auch in Macrons Partei »La République
en Marche«. Populär ist der Präsident derzeit nur noch bei einem Drittel der Bevölkerung.