In der Debatte um den Zarenmord wird antisemitisch argumentiert

Das Gegenteil von Aufklärung

Hundert Jahre nach der Ermordung der Zarenfamilie treibt der Kult um die russische Monarchie neue Blüten. Auch antisemitische Stereotype prägen die Debatte über die Aufarbeitung der Ereignisse.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 erschossen Tschekisten den letzten russischen Zaren und seine Familie in Jekatarinburg. Auch wenn viele Details der Tat bis heute nicht geklärt werden konnten, gilt es als wahrscheinlich, dass die Erschießung von Nikolaus II. und seiner Familie letztlich von Lenin gewollt war. Auf keinen Fall sollte Nikolaus in Jekaterinburg den nahenden weißen Truppen in die Hände fallen, die ihn als Symbolfigur der Konterrevolution hätten nutzen können.

Zum 100. Jahrestag der »Blutnacht von Jekaterinburg« wurde dem his­torischen Ereignis nicht nur sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit zuteil, auch die Verschwörungsthese vom Ritualmord kursiert wieder.

Um die 100 000 Menschen waren es nach offiziellen Angaben, die in der Nacht auf den 17. Juli an der vom russischen Patriarchen Kyrill angeführten Prozession zum Jahrestag der Ermordung der Zarenfamilie teilnahmen. Doch während der Patriarch in seiner Predigt vor neuen Revoluti­onen warnte, blieb die Frage, die gerade die Öffentlichkeit umtreibt, unbeantwortet: Wie stellt sich die Kirche zu der Frage nach der Echtheit der sterblichen Überreste der heiliggesprochenen Zarenfamilie? Tags zuvor hatte das Ermittlungskomitee bekanntgegeben, die 1998 in St. Petersburg beigesetzten sterblichen Überreste seien nach wiederholter Exhumierung eindeutig den Mitgliedern der Zarenfamilie zuzuordnen. Die Kirche weigert sich aber bis heute, dies anzuerkennen. Das Ziel der alljährlichen Prozession der Gläubigen ist daher nicht der Fundort der 1991 geborgenen Überreste, sondern der Ort Ganina Jama, wo die Leichen angeblich verbrannt wurden, bevor man sie zum Fundort Porosenkow brachte und dort verscharrte. In dem 15 Kilometer nordwestlich von Jekaterinburg gelegenen Ort wurden sieben Kirchen errichtet, die jeweils einem Mitglied der Zarenfamilie gewidmet sind.

Eine weitere im Ural gelegene Stadt betreibt mit dem Zarenkult Standortpolitik: In Perm wurden Forderungen laut, den Bruder von Nikolaus II., den Großfürsten Michail, heiligzusprechen. Nikolaus hatte im Februar 1917 zugunsten von Michail abgedankt, doch dieser nahm die Krone nicht an. Dennoch sind viele Menschen in Perm, wo der Großfürst im Juni 1918 erschossen worden war, davon überzeugt, dass Michail und nicht Nikolaus als der letzte Zar gelten müsse. Da die Überreste Michails nicht gefunden wurden, werden in Perm immer neue Suchexpeditionen initiiert. Peter Saradinaki, US-amerikanischer Staatsbürger und Nachfahre eines weißgardistischen Generals, ist regelmäßig im Ural zu Besuch. Die von ihm gegründete Search Foundation, Inc. engagierte Experten von Scotland Yard, um die Umgebung durchsuchen zu lassen.

Seit ein paar Monaten bestimmt ein weiterer Aspekt die Debatte. Am 27. November 2017 erklärte Marina Molodzowa, die »Ermittlerin für besonders wichtige Fälle« der russischen Strafermittlungsbehörde, sie plane eine »psychologisch-historische Gerichtsexpertise« zur Klärung der Frage, ob die Ermordung der Zarenfamilie einen rituellen Charakter hatte. Nicht nur die Tatsache, dass die Behörde sich mit einer Verschwörungstheorie beschäftigen wolle, wirkt beunruhigend. Viel wichtiger scheint, wer sich mit seiner ganzen Autorität für die Version des Ritualmordes einsetzte – der damalige Bischof von Jegorjewsk, Tichon (mit bürgerlichem Namen Georgi Schewkunow), dem nachgesagt wird, der Beicht­vater von Wladimir Putin zu sein.

Molodzowas Aussage fiel im Rahmen einer Konferenz in Moskau, bei der es um das Thema der Überreste ging. Die These von Ritualmord wurde von den Spitzen des Moskauer Patriarchats bisher nicht unterstützt. Nun scheint sich das zu ändern: Beacht­liche Teile der historischen Kirchenkommission hätten keinen Zweifel an dem rituellen Charakter des Mordes, so Tichon, der inzwischen das Amt des Metropoliten von Pskow bekleidet. Doch der Patriarch schweigt zu der These vom Ritualmord, ebenso wie der Präsident.

Harmloser sind die Ritualmordtheorien keineswegs geworden. In vielen Fällen benutzen sie lediglich Codes, die dazu dienen sollen, Antisemitismus­vorwürfe zu vermeiden.

Der Mythos vom Ritualmord entstand, als am 25. Juli 1918 die Weißen Jekaterinburg einnahmen und mit der Untersuchung der Mordsache begannen. Der Ermittler Nikolai Sokolow berichtete dem monarchistischen General Michail Diterichs, die Leichen wären zerstückelt und verbrannt worden. Er trat damit, vermutlich ungewollt, eine Lawine an Verschwörungstheorien los. Sein später im Exil erschienenes Buch plädiert nicht für die Ritualmordthese. Dennoch schien Sokolow überzeugt davon zu sein, dass der Plan, den Zaren zu ermorden, lange vor der Revolution von prodeutschen Kräften um den »Wunderheiler« Grigori Rasputin gefasst wurde. Doch ein Teilnehmer von Sokolows Ermittlungsgruppe sah an­dere Mächte hinter dem Mord wirken. Der britische Journalist Robert Archibald Wilton verfolgte eine »jüdische Spur« und machte seine Version im Ausland publik. Er war überzeugt, geheime kabbalistische Zeichen an den Wänden des Ipatjew-Hauses, wo die Erschießung der Zarenfamilie stattfand, entdeckt zu haben. Im Ipatjew-Haus, einer leerstehenden Villa im Stadtzentrum, war die Zarenfamilie bis zu ihrer Ermordung festgehalten worden.
General Diterichs schloss sich der antisemitischen Version prompt an und schmückte sie mit neuen Details aus: Angeblich wurde der abgetrennte Kopf des letzten Zaren in den Kreml gebracht.

 

Seitdem entstanden in Exilkreisen immer neue Varianten der Ritualmordthese. Bereits während des Bürgerkriegs verbreitete der Monarchist und Vertraute des Automobilherstellers Henry Ford, Boris Brasol, die These von der jüdischen Verschwörung als Ursache für die Revolution.

Der Esoteriker Michail Skarjatin veröffentlichte unter dem Pseudonym Enel die angebliche Entschlüsselung der Zahlenreihen aus dem Ipatjew-Haus: »Hier wurde der Zar auf dem Befehl der geheimen Kräfte geopfert, zwecks Zerstörung des Staates. Hiermit werden die Völker in Kenntnis gesetzt.« Diese Darstellung übernahm der russische Emigrant und SS-Mann Gregor Schwartz-Bostunitsch, der das Buch von Skarjatin durch seine Übersetzung in Deutschland bekannt machte.

1990 wurde Skrajatins Text zum ersten Mal in der Sowjetunion abgedruckt. Zu dem Zeitpunkt existierten mehrere Ritualmordteorien nebeneinander. Mal diente die angebliche Zerstückelung der Leichen als Beweis, mal die angebliche Verbrennung, mal die Herkunft des Leiters des Kommandos, mal das Datum, an dem die Erschießung stattgefunden hatte.

Der russische Autor Pjotr Multatuli hat sich wie kein anderer in den ­vergangenen Jahren dafür eingesetzt, dass die Ermittlungen im Mordfall von Nikolaus II. und seiner Familie neu aufgenommen werden. Der ehemalige Ermittler Multatuli besann sich auf seinen erlernten Beruf als Geschichtslehrer und schreibt nun ein populärhistorisches Buch nach dem anderen.

Seine Leidenschaft für das Thema erklärt Multatuli aus seiner Biographie. Er ist der Urenkelsohn des ebenfalls hingerichteten Kochs des Zaren. In den vergangenen Jahren stieg die Bekanntheit Multatulis rasant an. Sein Schwerpunkt ist die Kritik an den Ermittlungen der neunziger Jahre. »Zurück zu Sokolow« ist seine Devise. Multatuli wirft den Experten, die die Ritualmordthese ablehnen, vor, die Ergebnisse der weißgardistischen Ermittlungskommission aus politischen Gründen zu ignorieren. Die Spuren zur »satanistischen Kabbala« seien nicht weiterverfolgt worden. Skarjatins Thesen werden durch Multatuli erfolgreich popularisiert. Inzwischen zitiert auch die für ihre Zarenverehrung bekannte Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja die Entzifferung der »geheimen Zeichen« als angebliches historisches Dokument.

Für die zahlreichen Proteste gegen die Verwendung des Begriffs Ritualmord scheint Bischof Tichon gewappnet zu sein.

Zeitgemäß wird mit der Umdeutung der Begriffe gearbeitet. Man behaupte ja nicht, so der Kirchenmann, dass es ein jüdisches Ritual gewesen sei. Dem Würdenträger zufolge war es »ein revolutionäres Racheritual«. Auf die Kritik der jüdischen Organisationen entgegnete er, gemeint sei ein »atheistischer Racheakt« gegen den Zaren. Schließlich seien Besuche im Leninmausoleum auch nur Rituale, was beweise, dass man keiner Konfession angehören muss, um Rituale zu zelebrieren. Im Vergleich zu den Ritualmordtheorien der Vergangenheit werden »die Juden« heute eher selten als explizit Schuldige benannt. In zahlreichen Publikationen zum Thema geht es häufiger um ominöse »Satanisten«, »Freimauer« oder gar »Atheisten«. Harmloser sind die Theorien deswegen keineswegs geworden. In vielen Fällen handelt es sich lediglich um Codes, die dazu dienen sollen, Antisemitismusvorwürfe zu vermeiden. Einige Autoren behaupten, »gewöhnliche« Juden wurden zwar keine Menschenopfer bringen, aber Kabbalisten, Mitglieder der Loge B’nai B’rith oder ­Zionisten schon. Doch die Versionen, die nicht so eindeutig in der Benennung des Feindes ausfallen, sind bei näherer Betrachtung noch perfider. Sie sind noch weniger zugänglich für Fakten, weil sie sich von der Realität noch weiter entfernen als die »klassischen« Verschwörungstheorien. Die Frage, ob es 1918 in Russland überhaupt praktizierende Satanisten gab, stellt sich gar nicht, wenn jeder die Lücken in der Erklärung mit seinen eigenen Phantasien und Feindbildern ausfüllen kann.

Auch nachdem das Ermittlungs­komitee die Überreste für authentisch erklärt hat, laufen die Ermittlungen in der Sache Ritualmord weiter.