Rhian E. Jones, Historikerin, im Gespräch über die Euroskepsis der Labour-Partei, den »Brexit« und die britische Arbeiterklasse

»Teile der Labour-Partei haben einen Rechtskurs forciert«

Interview Von Julia Hoffmann

Mit Rhian E. Jones sprach die »Jungle World« über die politische Stimmung in Großbritannien, die Politik der Labour-Partei und die Rolle der extrem rechten Partei Ukip. Die Austrittsverhandlungen der Europäischen Union mit London sollen im Oktober abgeschlossen werden. Ende März 2019 will Großbritannien aus der EU ausscheiden. Die Briten wollen unter anderem in ­einer Freihandelszone für Waren einschließlich Agrarprodukte mit der EU bleiben und auch ihren Banken vollen Zugang in diese Zone sichern. Brüssel lehnt das ab.

Man liest immer wieder, die Arbeiterklasse habe 2016 für den Austritt aus der EU votiert. Analysen, zeigen, dass vor allem Menschen mit niedrigem Bildungsstand für den »Brexit« gestimmt haben. Genügt diese Feststellung, um von Klasse zu sprechen?
Man kann schon sagen, dass knapp 64 Prozent der Arbeiter für den EU-Austritt gestimmt haben. Das war ein wenig mehr als im Durchschnitt. Aber die Arbeiterklasse mit niedrigem Bildungsstand gleichzusetzen, ist Teil des Problems, weshalb viele Briten für »Leave« gestimmt haben. Je weniger gebildet die Leute sind, desto weniger Perspektiven haben sie und desto weniger nehmen sie auch am gesellschaftlichen Leben Teil. Wut und Verzweiflung waren vielerorts der Grund für den Austrittswillen. Das brachte einige dazu, hier von einer Revolte der Arbeiterklasse zu sprechen. Dabei gab es keine Hoffnung auf eine bessere Welt. Doch gerade die politische Rechte hat im Zuge der »Brexit«-Debatte die Arbeiterklasse wieder für sich entdeckt, nachdem sie diese zuvor 20 Jahre dämonisiert oder ignoriert hatte. Ihre Idee war die Entdeckung der vernachlässigten Arbeiterklasse. Das Bild, das die Rechten von der britischen Arbeiterklasse haben, ist ­jedoch falsch. Sie betrachten die Klasse als ausschließlich weiß, aber das ist in Wahrheit nicht der Fall. Die britische Arbeiterklasse war immer multiethnisch. Auch die Annahne, dass die Arbeiterklasse konservativ, rechts und rassistisch sei, stimmt nicht. Das ist ein falsches und selektives Bild der Arbeiterklasse, aber es hat sich sehr verbreitet.

Hatte die »Leave«-Kampagne nicht in der Tat eine nationalistische Komponente? Nach dem Motto: »British jobs for British workers«?
Das gab es auch. Die Koalition der »Leave«-Unterstützer war ja sehr breit. Es gab viele verschiedene Motive – von der Ablehnung der EU bis hin zu denen, die sich nach den guten alten Zeiten des britischen Empire zurücksehnten. Aber gerade die Vorstellung, britischen Arbeitern Arbeitsplätze zu verschaffen, kam von der Labour-Partei. Natürlich ignoriert das völlig, wie der neoliberale Kapitalismus funktioniert und dass die britische Arbeiterklasse eben nicht nur aus Briten besteht, sondern auch aus vielen Migranten.

Ist das der Grund, weshalb die rechte Partei Ukip in Großbritannien derzeit nicht besonders erfolgreich ist, Labour hingegen schon?
Teile von Labour haben einen Rechtskurs der Partei forciert, weil sie sich davon mehr Wählerstimmen versprachen. Vor allem wollten sie jene zurückgewinnen, die sie an Ukip verloren hatten. Die interne Debatte in der Partei dreht sich aber um die Frage, ob nationalistische Wählerinnen und Wähler stärker angesprochen werden sollen oder ob man eher um andere Zielgruppen wirbt.
Einer der Gründe, weshalb Ukip kolabiert ist, war aber tatsächlich die Abstimmung über den EU-Austritt. Es war ja Nigel Farages einzige politische Forderung, die EU loszuwerden. Jetzt, da das in die Wege geleitet ist, ist ihre Arbeit getan. Warum sollte noch jemand eine Anti-EU-Partei wählen, wenn das Land die EU verlassen hat?

In den letzten Wahlen gingen allerdings viele Ukip-Wähler zu den Tories. Die Annahme, dass Ukip-Wähler ehemalige Labour-Wähler waren, lässt sich so gar nicht bestätigen. Möglicherweise kamen sie auch von den Tories und rückten nur weiter nach rechts.

Ukip bewegt sich derzeit noch weiter nach rechts. Könnte die Partei damit neue Wählergruppen ansprechen?
Ich bin da sehr beunruhigt, denn Ukip entwickelt sich zu einer verrückten rechtsextremen Partei und könnte so auch ein Sammelbecken für all die Wut und den Rassismus werden, die es ja gibt. Allerdings existiert in Großbritannien noch keine so ausgeprägte Alt-Right-Bewegung wie in den USA. Dass Stephen Bannon plötzlich in Europa auftaucht, finde ich beängstigend. Er hat sich sogar mit Boris Johnson getroffen. Wer weiß, was das für eine Allianz werden kann. Denn die regierende konservative Partei ist instabil und könnte sich mit solchen Leuten wie Bannon möglicherweise einem flag and faith-Denken zuwenden, also einer Ideologie aus Traditionalismus, Nationalismus und christlichem Konservatismus.

Welche Herausforderungen bestehen für eine progressive Politik?
Labour versucht gerade, alles für alle zu sein. Sie möchten den abgehängten Wählern gefallen, den »Brexit«-Befürwortern und denjenigen, die die EU eigentlich gar nicht schlecht finden. ­Jeremy Corbyn selbst ist ja mit Herz und Seele ein Euroskeptiker, doch er weiß, dass er auch den Teil der Partei mitnehmen muss, der eigentlich  für den Verbleib in der EU ist. Das hat Labour nicht gerade geholfen, eine klare Posi­tion zu entwickeln. Es ist tragisch, dass die Debatte so bürokratisch und sehr nah am konkreten Ausstiegsprozess geführt wird. Labour könnte sich aber auf die Zeit nach dem EU-Austritt vorbereiten und darauf, wie es gelingen kann, den Wohlfahrtsstaat zu erhalten.

Nach dem Austritt wird die britische Wirtschaft allen Prognosen zufolge an Kraft verlieren. Wo kann es da noch Spielraum für eine progressive Sozialpolitik geben?
Das ist natürlich richtig. Denn auch ohne EU können wir ja nicht mit einer kaputten Wirtschaft alleine auf unserer Insel sitzen und darauf hoffen, dass dann der Sozialismus kommt. Ich bin da sehr skeptisch.

Gibt es keine außerparlamentarischen Gruppen, die gegen den ­EU-Auftritt auftreten?
Auf ganz niedrigem Niveau gibt es das schon. Hin und wieder gibt es in London mal eine Demonstration gegen den »Brexit« und einige Lobbygruppen engagieren sich zum Thema. Aber es gibt keine kohärente soziale Kraft ­dagegen.

Aber haben nicht viele Menschen mittlerweile große Bedenken gegen den Austritt?
Ja, das scheint etwas Britisches zu sein. Alle wissen, dass etwas Fürchterliches geschehen wird, und sitzen herum und beschweren sich darüber. Damit sie, wenn es einmal wirklich passiert ist, immer noch herumsitzen und sich ­beschweren können.

Das klingt bedrückend. Gibt es keine Gegenbewegung?
Es gibt eine ermutigende Entwicklung. In den Bereichen von prekärer Arbeit, die klassische Gewerkschaften bisher ignoriert haben, organisiert sich eine neue, moderne und urbane Arbeiterklasse. Da gibt es autonome Organisierung und eine Menge Wildcat-Streiks. McDonalds-Arbeiter haben im vergangenen Jahr das erste Mal in der Geschichte Großbritannierns überhaupt gestreikt. Ich hoffe, dass diese neue unabhängige Gewerkschaftsbewegung weiter wachsen wird. Denn die alten Gewerkschaften sind da nicht sehr ambitioniert, sie vertreten nur einen »aussterbenden« Arbeiter. Sie sehen nicht, wie sich die Arbeitswelt und die Arbeiterklasse über die Jahre verändert hat. Auch im Hinblick auf den EU-Austritt ist eine europäische oder internationale Bewegung wichtig und richtig.