Die Psychologie des Nazivorwurfs

Die Nazis, die keine sein wollen

Sogenannte Neue Rechte empören sich, wenn man sie in die Nähe des Faschismus stellt. Der Vorwurf ist so etwas wie eine selbsterfüllende Prophezeiung geworden. Nicht die Linke ist daran schuld.

»Wollt ihr den totalen Krieg?«, funkte eine kleine Gruppe Bonner Polizisten 2015 im bayerischen Elmau an ihre Kameraden. Absender und Empfänger der Jahrhundertfrage waren im Einsatz, um die Teilnehmer des gerade in Schloß Elmau stattfindenden G7-Gipfels vor störenden Demonstrationen zu schützen. Es folgte ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts, das die Münchner Staatsanwaltschaft ohne viel Aufhebens einstellte. Man lernt, dass der Gebrauch des Zitats von Joseph Goebbels unter die freie Meinungsäußerung fällt.

War es mehr als eine Petitesse im humorlosen Alltag der deutschen Polizei? Drei Jahre später gewährte einer der damals beteiligten Beamten Einblicke in seine persönliche Disposition. Im Juli erteilte er, gemeinsam mit drei bis vier Kollegen, einem Kippa tragenden Israeli in Bonn eine Lektion. Professor Yitzhak Melamed überquerte auf dem Weg zu einem Vortrag die Hofgartenwiese, als er wegen seiner Kopfbedeckung von einem jungen Mann mit palästinenischem Hintergrund beschimpft, beleidigt und gestoßen wurde. Passanten riefen die Polizei. Melamed: »Der Vorfall mit dem jungen Mann war natürlich schlimm. Aber nichts im Vergleich mit der Gewalt, die von den Polizisten ausging.«

Irrtümlich, wie es inzwischen heißt, hätten ihn die Beamten mit dem jungen Mann verwechselt, der sich aus dem Staub gemacht hatte. Sie warfen ihn zu Boden, fesselten ihn und »fingen an, mir ins Gesicht zu schlagen. Ungefähr 50, 60, 70 Mal – völlig verrückt! Ich war geschockt. Das ist ein abscheuliches Polizeiverhalten, wie man es sonst nur in einem Entwicklungsland findet.« Schließlich fand Melamed mit seinen verzweifelten Schreien – »Ich bin der Falsche!« – Gehör. Die Bonner Polizeiführung und das nordrhein-westfälische Innenministerium entschuldigten sich umgehend für das sogenannte Missverständnis.

Was würde nun passieren, wenn man einen Beamten, der sich in Elmau ungeniert auf Goebbels beruft und der in Bonn sicherlich in der Lage ist, eine Kippa von einem Palästinensertuch zu unterscheiden, als Nazi in Uniform bezeichnete? Das würde im doppelten Wortsinn Prozesse in Gang setzen. Der Betreffende würde eine Klage anstrengen, seine Kollegen würden sich mit ihm solidarisieren, die Polizeiführung den Vorwurf entschieden zurückweisen. Die Justiz würde der Klage mangels ausreichender Beweise für eine Tatsachenbehauptung stattgeben. Die Boulevardpresse würde empört fragen, wie oft und wie lange es sich Polizisten noch gefallen lassen müssten, als Nazis beschimpft zu werden. Die meisten politischen Parteien würden sich demonstrativ vor »unsere Polizei« stellen.

Faschisierung ist kein Fünf-jahresplan, den eine verschwörerische Gruppe beschlossen hätte.

In diesem geschützten Raum können sich Seilschaften im Sicherheitsapparat ungestört entfalten und an der Herbeiführung von Zuständen arbeiten, wie man sie sonst nur in einem »Entwicklungsland« findet – ein schöner Seitenhieb von Professor Melamed, der freilich nur bedingt als Metapher taugt.
Die bestens bekannten Abläufe betreffen ein zentrales Element dessen, was an den sogenannten Neuen Rechten neu ist. Sie verbrüdern sich mit Nazis, übernehmen deren Parolen und wissen es auch, sie teilen die typisch nationalsozialistische Aggressivität, bereiten sich auf einen Endkampf vor und frohlocken klammheimlich, dass die ganz Harten schon mal den Gebrauch von Schusswaffen trainieren und Listen unliebsamer Mitbürger ­erstellen. Aber wehe, man bezeichnet sie als Nazis. Das eigentlich doch ganz passende Etikett löst bei ihnen au­genblicklich helle Empörung aus: dass man ständig beleidigt und bewusst missverstanden werde, dass die Lügenpresse alles verdrehe und das linksgrüne Establishment eine Meinungsdiktatur ausübe, weil eine Volksver­räterin im Bundeskanzleramt es so wolle, was wiederum nur in einem Land passieren könne, das keine Souverä­nität besitze und von seinen Besatzern umgevolkt werden solle.

Man gewinnt den Eindruck, dass der als ungerecht gebrandmarkte Vorwurf die Angesprochenen erst recht faschistisch radikalisiert, ja dass er auf vertrackte Weise zu den genuinen Motiven der gegenwärtigen völkischen Bewegung gehört. Nun wählen sie erst recht AfD und jubeln Björn Höcke, André Poggenburg oder Lutz Bachmann zu, denen das gleiche Ungemach widerfahren ist. Die AfD behauptet höhnisch, aber nicht ganz unzutreffend, dass die Antifa ihr die Leute nur so in die Arme treibe. Das liegt aber nicht daran, dass die Antifa alles falsch machen würde, sondern daran, dass ihr Vorwurf ins Schwarze trifft. Der Getroffene mobilisiert seinen ganzen Hass, um den Treffer zu kompensieren; der Alkoholiker, dessen Anonymität aufgeflogen ist, kann nicht anders, als zur Flasche zu greifen. Somit scheint der Nazi-Vorwurf wie eine selbsterfüllende Prophezeiung zu wirken.
Aus diesem Paradox haben die Meinungsführer in Politik, Medien, Wissenschaft und Justiz Schlussfolgerungen gezogen. Sie wenden sich gegen den Gebrauch der argumentativen »Nazikeule« und versuchen, die AfD in das gewohnte politische Geschäft zu integrieren. Auf diese Weise sollen angeblich gemäßigte Kräfte gestärkt werden, Realpolitiker statt Fundamentalisten, Gauland statt Höcke – wie früher bei den Grünen Joschka Fischer statt Jutta Ditfurth.

 

Für den AfD-Anhang sind einfühlsame Umschreibungen gefunden worden: Wutbürger, Unverstandene, Abgehängte, Modernisierungsverlierer. Man müsse ihnen zuhören, man habe sie verstanden und ihre Anliegen seien zum Teil berechtigt, findet der jeweilige rechte Flügel in allen großen Parteien. Alles, was man von ihnen zu befürchten habe, sollten sie sich schlimmstenfalls durchsetzen, sei eine illiberale Demokratie, Zustände also wie in Ungarn, Polen, Italien oder Österreich. Das konservative Bürgertum findet das nicht dramatisch, nicht einmal die FDP regt sich über den Verlust an Liberalität auf. Sie halten sich an das pein­liche Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ­wonach die Nazis in Deutschland so unbedeutend seien, dass man nicht einmal die NPD verbieten müsse.

Die »illiberale Demokratie« ist die jüngste Orwell’sche Begriffsverwirrung in der Debatte über, das was gerade in Europa geschieht. In den genannten Ländern untergräbt man demokratische Normen wie die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit und -vielfalt, die Rettung von Menschen in Seenot, den Schutz von Minderheiten, das Asylrecht – und stets geht es darum, dass die Würde des Menschen relativ, also antastbar sei. Das ist keine Frage von mehr oder weniger Liberalität, vielmehr wird die Demokratie selbst in Frage gestellt.

Sicher ist es nicht sinnvoll, vor lauter Empörung alle Rechten in einen Topf zu werfen. Auch wenn die Übergänge fließend sind, gibt es einen Unterschied zwischen der relativ großen Gruppe der Völkischen und der relativ kleinen Gruppe bekennender Vollnazis. Leider sind die hiesige Erinnerungspolitik und das Lernen aus der Vergangenheit noch nicht bis zu der Erkenntnis vorgestoßen, dass es in der Weimarer Republik nicht anders war. Deutschnationale, Nationalliberale, autoritäre Unternehmer und Akademiker, Reichswehrveteranen und Kaiserliche waren es, die der zunächst sektiererisch kleinen NSDAP zu jenem Aufschwung verhalfen, den Hitler brauchte, um an die Macht zu kommen. Sie alle wollten anfangs keine Nazis sein. Umso mehr galt das nach 1945. Dann wollten sie bekanntlich keine Nazis gewesen sein.

An diesem Punkt korrespondieren die Täuschungen, mit denen sich das rechte Lager manchmal plump, manchmal raffiniert inszeniert, mit dem ­Bedürfnis der Gesellschaft nach Selbsttäuschung und Beruhigung. Daraus entsteht eine Dynamik, in der sich so starke Kräfte entwickeln können, dass sie die Akteure selbst mit sich reißt. War Gauland Herr seiner Sinne, als er sagte, »Hitler und die Nazis« seien nur »ein Vogelschiss in über 1 000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte«? An welchen Abgründen taumelt der bayerische Ministerpräsident entlang, dem das Wort Anker zur Lieblingsvokabel geraten ist? Erst hat er die Heimat zum »seelischen Anker« der Menschen erhoben, dann preist er das »Ankerzentrum«, das nun mal auch so heißt (»Ankunft, Entscheidung, Rückführung«), als Lösung des Flüchtlingsproblems, kaum verhehlend, dass es sich dabei um Lager handeln wird, in denen eine Ware konzentriert werden soll. Um diese Begriffe – befestigen, verankern, lagern, konzentrieren – kreisen Söders Gedanken und keiner kann vorhersagen, wohin ihn diese Manie noch führt.

Faschisierung ist kein Fünfjahresplan, den eine verschwörerische Gruppe beschlossen hätte. Auch der tiefe Staat, über den sich im NSU-Urteil nicht einmal die Spur einer Andeutung findet, entsteht nicht einfach auf Befehl. Vielmehr handelt es sich um komplexe Prozesse, in denen verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Motiva­tionen sich gegenseitig aufschaukeln. Es ist nicht die dümmste Idee, an einer Sammlungsbewegung zu arbeiten, die dieser Dynamik entgegentritt. Sie könnte sich auf die zentrale Devise verständigen, alles zu tun, was der AfD schadet, und alles zu unterlassen, was ihr nutzt.

Aber da fängt das Problem an. Dieser Minimalkonsens ist der Antifa zu wenig, während er Frau Wagenknecht schon zu weit geht. Es mangelt eben doch an Geschichtsverständnis, von der Fähigkeit zu dialektischem Denken ganz zu schweigen. Denn in Wahrheit ist das der Maximalkonsens.